Die Welt ist ein Dorf

Hommage an eine TV-Serie, die gezeigt hat, dass Fernsehen mehr sein kann als eine Röhre zur Verbreitung von Stumpfsinn, Banalität und einfachen Antworten: The Prisoner

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Großbritannien, möchte man meinen, hatte schon immer ein besonders enges Verhältnis zum Überwachungsstaat sowie zur Ruhigstellung der Staatsbürger durch Verabreichung von Psychopharmaka und Gehirnwäsche. Es waren Briten, die die großen Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts schrieben. 1949 veröffentlichte George Orwell seinen Roman 1984, und wem die dort beschriebene Zukunftsvision zu düster war, der konnte sich auch nicht wirklich über die Glücksdroge freuen, mit der man in der Brave New World (1932) von Aldous Huxley zu einer gemüseartigen Daseinsform zwangsverpflichtet wird.

Für die Landsleute von Orwell und Huxley scheinen diese Bücher mehr ein Ansporn denn eine Warnung gewesen zu sein. Britische Innenstädte wurden bereits mit Videoanlagen überwacht, als das hierzulande noch als das Phantasieprodukt von Science Fiction-Autoren abgetan wurde. Lidl hat jetzt allerdings mit der Aufholjagd begonnen. Auch wir haben (oder sind?) eine Sozialversicherungsnummer, eine Steuernummer, eine Kreditkartennummer. Und heuer - 60 Jahre, nachdem Orwell seinen Roman geschrieben hat - will die britische Regierung ihren Untertanen eine neue Nummer zuweisen, die sie bis ins Grab (oder zumindest bis zur Rente) nicht mehr loswerden können. Unter dieser Nummer sollen in einer Zentraldatei alle im Laufe des Lebens erworbenen Noten, Schulabschlüsse und sonstigen Qualifikationen gespeichert werden, und wenn man irgendwo rausgeflogen ist, wird es da auch vermerkt. Laut Regierung soll das einen verbesserten "Dienst am Kunden" und einen "Abbau von Bürokratie" ermöglichen. Orwell nennt so etwas Doublespeak, weil das eine gesagt wird und etwas anderes gemeint ist, in diesem Fall: Arbeitgeber können künftig online den Lebenslauf eines Bewerbers oder eines Angestellten einsehen (nur "begrenzt" und nur mit der "Einwilligung" des Betroffenen, was den freien Willen suggerieren soll).

Ungünstig für Britanniens Bürokraten und Datensammler ist, dass "eine Nummer sein" soviel bedeutet wie: seine Identität verloren haben. Auch dafür hat man sich sprachlich etwas einfallen lassen. Die Briten sollen nicht einfach eine 10-stellige Nummer verpasst bekommen, sie werden eine Unique Learner Number (UNL) erhalten. Der Bürger ist demnach eine Nummer und doch einzigartig (unique). Alle werden durchnummeriert, und danach hat jeder eine Nummer ganz für sich allein. Das garantiert die Regierung. Einmal vergebene Nummern sollen nach dem Tod nicht "recycelt" werden. Dieser Teil der Werbestrategie ist allerdings nicht so gelungen. Der Filmfreund fragt sich unwillkürlich, warum das so betont werden muss. Haben die zuständigen Beamten etwa Soylent Green gesehen? Darin findet der soeben verstorbene Charlton Heston in einer zukünftigen Gesellschaft heraus, wie das Ernährungsproblem gelöst wird: indem man die Toten grün einfärbt und zu einem Einheitsnahrungsmittel recycelt. (Hoffen wir für ihn, dass das nur eine Erfindung war.)

"I am not a number"

Mit der Nummer, die man mit ins Grab nimmt, kann das also nicht passieren. Trotzdem, und weil zu jeder Anti-Utopie auch die Utopie gehört, soll hier an einen TV-Helden erinnert werden, der allen Versuchen der Bürokraten widerstand, ihm eine Nummer zuzuteilen. "I am not a number, I AM A FREE MAN!" wiederholte er regelmäßig im Vorspann und das so lange, bis der ausstrahlende Sender genug davon hatte. Aber 17 Folgen reichten, um Fernsehgeschichte zu schreiben. Die Serie The Prisoner wirkt heute noch so aktuell wie vor 40 Jahren, und sie ist immer noch genauso subversiv. Man muss nicht gleich die Verbindung zu Guantanamo herstellen (obwohl das erschreckend einfach wäre). Die Repräsentanten des "Establishments", wie man das früher genannt hätte (in The Prisoner kurz "Nummer 2"), verkaufen uns jetzt Pauschalreisen in eingezäunte Urlaubsparadiese in der Dominikanischen Republik, oder sie locken uns in die videoüberwachte Zuckerbäcker-Idylle des "Ingolstadt Village", wo wir uns im Outlet Center ein Stück Exklusivität mit 30%-igem Preisnachlass kaufen.

Wer das Auftreten der Blaskapelle im Village miterlebt hat (wir sind jetzt wieder in der Serie, nicht beim nächsten Möbelcenter), die Abfragerituale, die Lautsprecherdurchsagen und die Freizeitgestaltung (verordneter Karneval inklusive), dem wird das Fernsehen noch gruseliger erscheinen als ohnehin: Die Quiz-, Casting- und sonstigen Demütigungsshows, der Musikantenstadl, Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht, Rosamunde Pilcher, die entkörperlichten Ansagerstimmen und sogar der zunehmend totalitäre Wetterbericht, der längst eine Verhaltensanweisung mit der Information verknüpft (man muss regelmäßig den Wetterbericht schauen, weil einem sonst, bei Sturm, ein Dachziegel auf den Kopf fallen oder man, bei Sonnenschein, den obligatorischen Sonntagsspaziergang vergessen könnte).

"Die einzigartige Stärke von The Prisoner", meint Roland Topor, "das, was die Serie zum besten Science Fiction-Film aller Zeiten macht, liegt darin, dass sie nicht mit der jeweiligen Episode endet. Sie geht noch ein gutes Stück nach den Schlusstiteln weiter. Sie reicht hinein in die folgenden Programme auf unseren Bildschirmen." Mit anderen Worten: Patrick McGoohan alias The Prisoner ist das beste Mittel gegen Günter Jauch, Jörg Kachelmann, Dieter Bohlen, Heidi Klum, Roland Koch und Wolfgang Schäuble. Sie zeigt, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Integration und Assimilation gibt, dass sich in der Ordnung eine größere Gewalt als in der Unordnung verbirgt. Sie sieht dabei zu, wie sich die Überwacher und Ausspionierer in ihren Datensammlungen verheddern. Sie beharrt darauf, dass eine Gesellschaft ohne Minderheiten bedrückend grau ist, auch wenn dauernd die Sonne scheint, wenn alle bunte Gewänder tragen und sagen können, warum Italien sich am Krimkrieg beteiligt hat (Antwort A, B, C oder D?). Und sie ist demokratisch. The Prisoner überlässt es der Phantasie des Publikums, ob es sich bei der Serie um Science Fiction, Horror oder Fantasy handelt, um eine Allegorie, eine politische Parabel, eine Mediensatire oder eine Abenteuergeschichte. Das muss man allerdings erst einmal aushalten, denn gewöhnt sind wir etwas völlig anderes.

Bizarre Filmvorführung

Es war die Pressevorführung der etwas anderen Art. Im September 1967 wurden Journalisten der großen Zeitungen und Magazine zu einem Treffpunkt in London gebeten und von dort - höchst konspirativ - in einem Bus zu den MGM-Studios in Borehamwood gebracht. Dort führte man ihnen die erste Episode einer neuen Serie vor, die im Oktober beim kommerziellen Fernsehen ITV starten würde: The Prisoner. Zu sehen war, wie ein Mann ohne Namen einem teetrinkenden Bürokraten seine Kündigung auf den Schreibtisch knallte. Anschließend fuhr der Mann nach Hause. Eine hagere Gestalt im Gewand eines Sargträgers leitete ein Betäubungsgas durch das Schlüsselloch in der Haustür. Das war eine Art Zitat, ein Verweis auf den Sargträger Oscar Mazamette in Louis Feuillades Les Vampires (und damit auf eine europäische Erzähltradition, die nach dem Ersten Weltkrieg durch die Erzählmuster Hollywoods verdrängt wurde). Aber wer Feuillades Serial von 1915/16 nicht kannte, war sehr verwirrt. Und überhaupt: Wer hätte bei einer TV-Agentenserie, um die es sich doch wohl handelte, mit so etwas gerechnet?

Als der Mann wieder zu sich kam, befand er sich in einem Ort mit irgendwie mediterraner und jedenfalls bizarr anmutender Architektur. Die Bewohner des mysteriösen, am Meer gelegenen Ortes ("The Village") trugen ein Gemisch aus Freizeit- und Matrosenkleidung, und statt Namen hatten sie Nummern. Dieses Dorf mit seiner Ferienatmosphäre war offenbar ein Gefängnis; es war nur nicht ganz klar, wer zu den Häftlingen gehörte und wer zu den Wärtern. Kontrolliert wurde das Dorf von einem Gebäude mit einer grünen Kuppel aus. Das Innere des "grünen Doms" schien anderen geometrischen Gesetzen zu gehorchen als der Rest der Welt. Dort residierte "Nummer 2" in einem kugelförmigen, hydraulisch im Boden versenkbaren Sessel. Dieser Mann, der über modernste Überwachungsanlagen gebot, schien nur einer unsichtbaren "Nummer 1" verantwortlich zu sein, mit der er über ein rotes Telefon in Verbindung stand. Die Entführung des Gefangenen musste mit dessen Kündigung zu tun haben, denn Nummer 2 wollte die Gründe dafür hören ("Why did you resign?"). Eine Antwort erhielt er nicht. Und der Neuankömmling weigerte sich auch, die ihm zugewiesene Nummer 6 zu akzeptieren.

1967 gab es weniger Werbung als heute. Die "einstündige" Episode einer Fernsehserie brachte es noch auf eine "Nettospielzeit" von knapp 50 Minuten. Danach hatten die Journalisten viel Verwirrendes gesehen und zwei erfolglose Fluchtversuche des Helden. Eines immerhin schien klar zu sein: Der Gefangene war der britische Geheimagent John Drake, denn er wurde wie dieser von Patrick McGoohan gespielt, dem größten Star des in den 1950ern eingeführten Privatfernsehens. Demnach hatten die Journalisten John Drake im ersten seiner neuen Abenteuer gesehen - nun eben in einer leicht futuristischen Umgebung (im Dorf gab es bereits schnurlose Telefone, und die Grenzen wurden durch große weiße Ballone mit Fernsteuerung gesichert). Das war alles. Glaubten sie.