Burgen der Solidarität?

Über das aktuelle Revival genossenschaftlichen Wohnens in Deutschland

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Es gehe nicht darum, so P.H.Chombart de Lauwe bereits 1952, „zu wissen, ob sich die Menschen an die neuen Anforderungen des städtischen Lebens anpassen oder nicht; das wahre Problem besteht darin, Städte zu schaffen, die sich anpassen an die neue Gesellschaft und an den neuen Menschen, die sich abzeichnen.“

Der Konformitätsdruck heute ist in der Tat enorm: Da die staatlich organisierte Wohlfahrt, wie sie für Deutschland seit den 60er Jahren kennzeichnend war, so nicht mehr finanzierbar ist, braucht es ganz zentral eine Stärkung privaten Engagements – auch und gerade beim Wohnen. Als die von der Bundesregierung eingesetzte „Expertenkommission Wohnungsgenossenschaften“ vor vier Jahren ihren Bericht vorlegte, kam das einer Initialzündung für weitere Aktivitäten in einem lange Zeit brachliegenden Feld gleich. Für das „Ausprobieren“ von innovativen Ansätzen schien das Forschungsprogramm des experimentellen Wohnungs- und Städtebaus (ExWoSt) besonders geeignet, um bisher isoliert erarbeitete Erfahrungen und konzeptionelle Überlegungen durch die systematische Begleitung und Auswertung auf eine breite, übertragbare Basis zu stellen. So entstand im Sommer 2004 das Forschungsfeld „Modelle genossenschaftlichen Wohnens – Erschließung von Genossenschaftspotenzialen“.

Dessen Ziel ist es, anhand exemplarischer Projekte Wege aufzuzeigen, wie das Genossenschaftliche als dritte tragende Säule – neben der Miete und dem Wohneigentum – erneut etabliert werden kann. Es knüpft an die historische Tradition des genossenschaftlichen Wohnungsbaus an, aber auch an verschiedenste neuere und innovative Praxiserfahrungen sowie, nicht zuletzt, an ein aktuelles gesellschaftspolitisches Interesse (Stichwort: Veräusserung kommunaler Wohnungsbestände). Aus diesem Grund geht es auch nicht um die Erfindung von etwas völlig Neuem. Vielmehr heisst es zu prüfen, mit welchen rechtlichen, finanziellen und kulturellen Barrieren Innovationen konfrontiert sind und wie diese überwunden werden können, um dem genossenschaftlichen Wohnungsbau aus seinem derzeitigen Schattendasein hinaus einen Weg in den wohnungspolitischen Mainstream zu eröffnen. Durch ausgewählte Modellvorhaben sollen neue Impulse gegeben werden für:

  1. Die Stärkung des Genossenschaftsgedankens bei der Stadt- und Quartiersentwicklung in den Kommunen.
  2. Eine Attraktivitätssteigerung des genossenschaftlichen Wohnens insbesondere für Haushalte mit Kindern oder Haushalte älterer Menschen.
  3. Das Schaffen von Strukturen zur Unterstützung kleiner Wohngenossenschaften und neuer genossenschaftlicher Wohnprojekte, auch von Modellvorhaben zur Gründung von Dachgenossenschaften.

Zwar stellt auch die Entwicklung neuer Formen von Gemeinschaftsarchitektur ein explizites Ziel dar: Welche Entsprechungen finden die Veränderungsprozesse, denen die Gesellschaft unterworfen ist, in den angebotenen räumlichen Lösungen? Gleichwohl aber sind die eigentlichen Leitfragen eher übergeordneter Art: Welche Rolle können Genossenschaften in der Quartiersentwicklung spielen? Welche Möglichkeiten ergeben sich aus einer Kooperation von Kommune und Wohnungsgenossenschaft(en)? Welche Voraussetzungen sind für Neugründungen erforderlich und welche Maßnahmen eignen sich zu ihrer Förderung? Welche Hemmnisse müssen überwunden werden? Welchen besonderen Beitrag können Genossenschaften zur Wohnraumversorgung einkommensschwacher Haushalte respektive für Gruppen mit besonderen Marktzugangsschwierigkeiten (etwa Alleinerziehende, ältere Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen) leisten? Welche Potenziale liegen in der Übernahme von Wohnungsbeständen durch Bewohnergenossenschaften? Wie kann die Kommunikation und das Marketing der Genossenschaftsidee verbessert werden?

In drei Aktionsfeldern wurden insgesamt 22 Projekte angestossen; aus den lokalen Untersuchungsergebnissen wären sodann transferfähige Lehren zu ziehen, wie rechtliche, finanzielle oder kulturelle Barrieren zu überwinden sind, um die Zukunft der genossenschaftlichen Idee zu sichern. Grundsätzlich liess sich von vornherein eine gewisse Arbeitsteilung vermuten: Altgenossenschaften agieren als Sanierungsträger bei der Bestandsübernahme, aber auch als Betreiber sozialer Infrastruktureinrichtungen; Neugründungen hingegen treten eher bei der Übernahme und Modernisierung von Beständen auf. Kommunen, die ihrerseits initiativ werden, können solche Trägerschaften z.B. durch eine genossenschafts- und wohngruppenfördernde Veräußerungspraxis von Wohnungsbeständen begünstigen. Um das Spektrum zu illustrieren, seien sechs der Modellvorhaben schlaglichtartig vorgestellt:

Halle – Lebendiges Lutherviertel: Vor dem Hintergrund enormer Leerstände und umfangreich notwendiger Sanierungsmaßnahmen geht es in Halle um die Bemühungen einer Altgenossenschaft, ältere Mitglieder zu aktivieren und zugleich die Ansiedlung junger Familien zu betreiben. Im Lutherviertel soll gemeinsam mit einem sozialen Träger ein interkulturelles Familienzentrum in den Räumen der Genossenschaft eröffnet werden. Auf diese Weise werden Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen, für junge Familien besondere Serviceangebote im Bereich Kinderbetreuung und Familienbildung angeboten, zudem Beratungs- und Unterstützungsangebote für Alleinerziehende offeriert. Der Bauverein Halle fördert gezielt die Nachbarschaftshilfe, zusätzlich unterbreitet er seinen Mitgliedern ein Angebot im Bereich Altersvorsorge. Dies erfolgt durch die altengerechte Veränderung von Wohnungen im Quartier, der Einrichtung von Senioren-Wohngemeinschaften, durch Gesundheitsprävention und die Erhöhung der Mobilität durch Einsatz eines eigenen Busses. Darüber hinaus stehen die Ansiedlung von Kleingewerbe, Kunst und Kultur, die Einrichtung eines kleinen Cafes und die Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem Programm.

Beginenhöfe

Nordrhein-Westfalen – Beginenhöfe: Mit diesem Projekt soll einer Dachgenossenschaft der Weg geebnet werden, deren Grundidee die Verbindung des Wohnens von Frauen mit gesellschaftlichem Engagement für das Leben im Alter beinhaltet und dabei Wege sucht, Ehrenamt und die Schaffung von Arbeitsplätzen mit Aktivitäten im städtischen oder gemeindlichen Umfeld zu verbinden. Dieser Träger beabsichtigt, in unterschiedlichen Kommunen und Kontexten einen Ort für Frauen zu schaffen, an dem sie, mit und ohne Kinder, in jedem Alter und jeder Einkommensgruppe, leben und arbeiten können. Er macht sich zum Ziel, einen wirtschaftlichen Unter- und Überbau zu bilden, der bestehende Projekte verwalten hilft, eine vielfältige Infrastruktur bietet und zugleich die lokalen Initiativen mit weitestgehender Autonomie ausstattet.

Modellvorhaben Berlin Kreuzberg und Schöneberg: Den Ausgangspunkt für dieses Projekt bildet das Bestreben des Landes Berlin, vier gründerzeitliche Wohnhäuser, die sich derzeit noch im Eigentum städtischer Wohnungsgesellschaften befinden, „mieternah“ zu privatisieren. Ziel ist es, Migrantenhaushalte (vorwiegend aus der Türkei) als Mitglieder einer eigentumsorientierten Wohnungsgenossenschaft zu gewinnen. Zur Realisierung sollen die finanziellen Ressourcen der Haushalte erschlossen und angepasste Finanz- und Wirtschaftskonzepte entwickelt werden, wobei durch spezifische Kommunikationsformen und -strategien die Gruppenprozesse innerhalb der Hausgemeinschaften unterstützt werden.

Zwickau – Das Mitbauhaus: Auf einer ehemaligen Rückbaufläche ein Angebot zu schaffen, das jungen Menschen in der Familiengründungs- bzw. -konsolidierungsphase anspricht: Dies ist das zentrale Anliegen dieses Projektes. Das ‚Mitbauhaus’ bietet die Möglichkeit, ohne Einsatz eigener finanzieller Mittel gleichsam „wie im privaten Eigenheim“ zu wohnen. 8 bis 10 junge Familien errichten gemeinsam eine kleine zentrumsnahe Wohnanlage – mit Aussenanlagen, Spielplatz und Gemeinschaftsräumen wie Werkstatt und Partyraum – im organisierten Selbstbau. Das Angebot soll sie auf dem gut erschlossenen innenstadtnahen Gebiet halten. Die Entwicklung von zeitgemäßen Antworten für das Bedürfnis nach einem eigenem Haus ist gleichzeitig mit der Minimierung von individuellen Risiken und negative Folgen für die Stadtentwicklung verbunden. Im Mittelpunkt des Projekts stehen vor allem die beiden genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe und der Solidarität, die sich im Mitplanen, Mitbauen und in der intendierten aktiven Nachbarschaftlichkeit ausdrückt.

Darmstadt – Generationsübergreifendes Nachbarschaftsprojekt

Darmstadt – Generationsübergreifendes Nachbarschaftsprojekt: Die junge Bau- und Wohngenossenschaft WohnSinn eG erstellt für ein Nachbarschaftsprojekt 30 Einheiten als Geschosswohnungsbau, davon je ein Drittel öffentlich geförderte Mietwohnungen, frei finanzierte Mietwohnungen und Wohnungen im Dauerwohnrecht (DWR) nach Wohneigentumsgesetz. Ökologische Zielsetzungen (Passivhausstandard; Produktion von Solarstrom; Verringerung des Autoverkehrs durch die Organisation von Car-Sharing) ergänzen die gemeinschaftsbildenden: Ein generationenübergreifendes Zusammenleben mit sozial gemischter Zusammensetzung der Bewohner. Alle Bewohner sind gleichberechtigte Teilhaber; mit anderen Worten: Ob nun Eigentümer oder Mieter, beide sind zwingend „Genossen“, somit behaftet mit gleichen Rechten und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Die Genossenschaft will über die Versorgung ihrer Mitglieder hinaus zur Aktivierung von bürgerlichem Engagement und Selbsthilfe im Quartier anregen. Nachbarschaftshilfe und barrierefreie Bauweise sollen ein möglichst langes eigenständiges Wohnen im Alter, bei Behinderung und im Krankheitsfall ermöglichen.

Hamburg Langenhorn – Neue nachbarschaftsorientierte Wohnformen von Familien und alten Menschen: Auf einem städtischen Grundstück entstehen rund 50 Wohneinheiten als genossenschaftlich organisiertes Bauprojekt mit beispielhaften Wohnstandards und Betreuungsangeboten, das auf bürgerschaftlichem Engagement und genossenschaftlicher Selbsthilfe aufbaut und speziell auf Wohnbedarfe älterer Menschen und von Familien eingeht. Zugleich sollen Rahmenbedingungen für die Integration neuer Wohnformen in klassischen Genossenschaften definiert, sowie Verfahren und Regularien entwickelt werden, wie diese umgesetzt werden können.

All diesen Projekten ist ein Bezug auf die „Nachbarschaft“ gemein. Mit dem Genossenschaftsgedanken erlebt also auch jenes Modell eine Renaissance, das auf die „Neighbourhood-unit“ von C.A.Perry (1929) als Planungsmodell zurückgeht, welches wiederum auf Erkenntnissen der Chicagoer Schule für Sozialökologie basiert. Erneut aufgeworfen wird damit eine der traditionel­len Grundsatzfragen allen Städtebaus: Ist es möglich, durch die Mani­pulation der gebauten Umwelt auf soziale Prozesse und Beziehungen gestaltend einzuwirken? Wenn der physische Raum in soziologischer Perspektive als die ‘Möglichkeit des Beisammen­seins’ gedeutet wird, dann bedeutet die Organisation dieses Raums, wie sie durch Architektur vorgenommen wird, eine Vorstrukturierung dieser Möglichkeit; das heißt, es wird so eine Entscheidung darüber gefällt, wer mit wem an welchem Ort und in welcher Art in soziale Beziehungen eintreten kann.

Nun darf man indes nicht die Genossenschaft zum Allheilmittel gegen die Hybris zeitgenössischer Stadtentwicklung verklären. Erweist sie sich doch als ebensowenig widerspruchsfrei wie die Idee der Nachbarschaft selbst. Beide sind problematisch, wenn Gemeinschaft idealisiert und daraus ein allgültiges Planungsmodell gemacht wird, das seinerseits weltanschaulich leicht zu instrumentalisieren ist. Andererseits gingen nicht nur für den Mentor der amerikanischen Demokratie, Alexis de Toqueville, die – für ein soziales Gemeinwesen konstitutiven – Bürgertugenden organisch aus kleinräumigen Gemeinschaften hervor. Und ein möglicherweise unter den Bewohnern bestehender Konsens in bezug auf den symbolischen Wert ihrer gebauten Umgebung mag ähnlich gemeinschaftsfördernd sein wie, sagen wir, relative Sicherheit vor Einbruchdiebstahl durch soziale Kontrollmechanismen.

Ohne den Anspruch zu erheben, den Sozialraum ‚Quartier’ abzugrenzen, zu strukturieren und konkret zu fassen, darf man, als eine Art Zwischenfazit, festhalten, dass Genossenschaften über ein erhebliches Potential für die Quartiersentwicklung verfügen. Wenngleich sie einst aus der Not entstanden sind, können sie – auch und gerade unter heutigen Bedingungen – sowohl Impulse setzen als auch stabilisierende Wirkung entfalten. Mitgliederbindung besteht oft aufgrund langjähriger Wohnbiografien und generationenübergreifender Treue zur Genossenschaft. Die hohe Identifikation und das große Vertrauen der Genossenschaftsmitglieder erzeugen Bereitschaft zum Engagement für die Nachbarschaft. Demokratische Mitsprache zeigt sich in der Verankerung spezifischer Umgangs­formen im Alltag und durch die Öffnung starrer Gremienstrukturen. Die Stan­dards in der Instandsetzungs- und Modernisierungspolitik grenzen sich – idealtypisch – vom normalen Marktgeschehen ab: Nutzungs- statt Renditeorientierung, bedürfnisorientierte Gestaltung, Einrichtung und Unterhaltung von Gemeinschaftsräumen, und last not least Hauswarte als ‚Kenner’ der Mitglieder, die als Mittler zur Verwaltung fungieren können.

Eine unique selling proposition und damit komparative Wettbewerbsvorteile können die Wohnungsgenossenschaften jedoch nur erreichen, wenn sie ihre spezifisch gemeinschaftlichen Merkmale und Potentiale marktgerecht umsetzen und gezielt kommunizieren. Dabei sticht ein Unterschied hervor: Man kann, etwas holzschnittartig, sagen, dass früher die Genossenschaft und ihre Bauten in einem unmittelbaren Zusammenhang standen, dass sie gleichsam eine Einheit bildeten. Heute hingegen scheint entscheidend, was die Akteure in der Genossenschaft ausmacht: Notwendig ist bürgerschaftliches Engagement, das über die unmittelbar bauliche Bedürfnisbefriedigung hinausgeht. Freilich ist das ‘Bild’ der Genossenschaft ein grosses Ganzes und mehr als die Summe seiner Teile. Wenngleich ihre Architektur selten spektakulär und keineswegs immer überzeugend ist, steht sie doch für eine Methode, in der sowohl die sozialen als auch die räumlichen Aspekte der Stadt in ihrer Ei­genschaft als interagierende und voneinander abhängige Dimensionen gesehen werden. Kein geringer Wert notabene, wenn man die zeitgenössische, vorrangig ästhetisch ausgerichtete Stadtdiskussion als Maßstab nimmt.