Waschaktive Substanzen

Sekundärer Revisionismus als Bußübung und Geschichtspolitik in der fortgeschrittenen Berliner Republik

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Götz Aly hat es anderen Ex-Maoisten nachgemacht und für seine radikale Vergangenheit Buße getan. In seinem Fall hat diese Buße die Form eines Buchs angenommen, das "Unser Kampf" heißt und "die 68er" als die geistigen und politischen Erben der Nazis denunziert (siehe Der Guido Knopp des Feuilletons). Jetzt kann er sich gemütlich zurücklehnen - die Angegriffenen verteidigen sich nach Luft japsend, während im Kielwasser seiner fröhlichen Geschichtsklitterungen andere mitschwimmen wollen.

Wie zum Beispiel Luise Hirsch, die in der Jungle World unter dem Titel "Hitlers Kinder" auch was zum Thema anbringt. Sie hat es nicht leicht, denn eigentlich stimmt sie mit Aly so sehr überein, dass es da gar nichts weiter zu sagen gäbe - wenn Aly ihrer Ansicht nach nicht untertrieben hätte. Nach ein paar Ratschlägen an den Doyen, wie er sein Profil noch schärfen könnte, gießt sie aber nur noch einmal ein, was er selbst dem Publikum schon eingeschenkt hat: Die 68er hätten sich für die Prozesse gegen Nazis in der frühen BRD gar nicht interessiert, in der Verlängerung auch nicht für die Nazizeit als solche, sondern seien hauptsächlich damit beschäftigt gewesen, ihre Orgasmusschwierigkeiten zu debattieren und ansonsten mit blödsinnigen Parolen wie "USA-SA-SS" über die Straßen zu ziehen.

Wenn die Achtundsechziger sich eine moralische Großtat zugute zu halten pflegen, dann die, das Schweigen über das Dritte Reich gebrochen zu haben. Götz Aly zeigt: Das stimmt nicht. Eher stimmt das Gegenteil: Staatsanwälte klagten an, Gerichte tagten, die bürgerliche Presse berichtete. Und die Apo: schwieg. Aly rechnet vor, dass in keinem Jahr, weder davor noch danach, so viele NS-Prozesse geführt wurden wie just 1968. 2307 Ermittlungsverfahren wurden allein 1968 eingeleitet; 30 Prozesse in diesem Jahr abgeschlossen, dabei immerhin 23 lebenslange Haftstrafen verhängt. Aber kein Wort darüber in den einschlägigen Publikationen der Neuen Linken, Kursbuch oder neue kritik. Auch die Methoden der Oral History fördern nichts zutage: "Befragt man die Achtundsechziger heute, erinnern sie sich nicht an einen dieser Prozesse. Stattdessen ist ihnen der Kitzel präsent geblieben, den sie beim allseits beliebten Klamottenklauen erlebten oder beim Coming-out als Steinewerfer."

Das Schöne an diesem Gerede ist, dass es sich so leicht widerlegen lässt. 1958 bereits war "Anfrage" erschienen, ein Roman, in dem sich der Autor Christian Geissler mit der Frage beschäftigte, "wie es dazu kommen konnte". Der Erstling des damals noch linkskatholisch verorteten Autors wurde als politisch-literarisches Ereignis begriffen von Leuten, die sowas überhaupt lesen wollten - also von einer aufklärungsbereiten Minderheit, die mit ihren Ostermärschen, ihrer kirchlichen Friedensarbeit etc. durchaus Vorarbeit für die spätere 68er-Bewegung leistete.

Nun gut, das muss man nicht wissen, wenn man nur eine flotte Glosse im Gefolge von Götz Aly schreiben will. Aber wie wäre es dann mit "Die Ermittlung" von Peter Weiss, ein monumentales Stück zum Frankfurter Auschwitzprozess, das 1965 uraufgeführt wurde, und das die besagte aufklärungsbereite Minderheit, die mittlerweile eine politische Stimme gefunden hatte, teilweise bis ins Mark erschütterte? Was ist mit "Bei Nacht und Nebel" von Alain Resnais, den manche 68er sehr schnell nennen, wenn es um ihr Erweckungserlebnis in Bezug auf den Nationalsozialismus ging? Mit der Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zum Thema Faschismus? "Die Unfähigkeit zu trauern", "Der Doppelstaat" und "Der SS-Staat" - keine Lektüre für die 68er?

Den falschen Baum anbellen...

Die Proteste nach dem Urteil im Rehse-Prozess, bei dem besagter Hans-Joachim Rehse, ein Handlanger Freislers, aufgrund der Kumpanei unter den alten Justizkameraden straffrei ausging, wurden von den Studenten getragen. Die Beschäftigung mit dem NS-Thema erzeugte immerhin so viel Bewusstsein, dass sich mancher 68er den tatsächlichen Erben Hitlers, nämlich den Neofaschisten in den Weg stellte, deren Hauptpartei NPD 1968 in sieben von elf Landtagen saß und so einen institutionell-politischen Einfluss hatte, von dem die Apo nur träumen konnte.

Für Aly und Anhänger ist das alles irrelevant. Er ruft in die Welt hinaus, dass sich kein 68er je ernsthaft für den Nationalsozialismus interessierte, außer um ihn linksherum nachzuspielen, und Luise Hirsch wiederholt es, damit es auch wahr wird. Wo eine bestimmte Gruppe derart wahrheitswidrig gedisst wird, da soll meist jemand anders davon profitieren. Luise Hirsch findet, dass demokratietechnisch damals in der BRD eigentlich alles ok war:

Die mit Abstand zuverlässigsten Bastionen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie waren in der Tat die Bundesrepublik und ihre Institutionen. Die Achtundsechziger bellten den falschen Baum an.

Das ist im Grunde die Essenz eines interessanten Zitats von Aly selbst, das in seiner ganzen Länge wiedergegeben zu werden lohnt:

Das Konservative der Adenauer-Republik nach 1945 war historisch gesehen notwendig. 18 Millionen Männer waren Soldaten gewesen und haben ganz Europa verwüstet. Sie kamen traumatisiert zurück, weil ihnen die Gewalt auf die eigenen Köpfe gefallen ist - Gott sei Dank. Nach diesem Größenwahn musste dieses Volk einfach zur Ruhe gebracht und gedeckelt werden. Deswegen der Reformstau in der Adenauer-Ära, diese Bewegungsunfähigkeit. Zwischen den Jugendlichen herrschte nach 1945 ein enorm gewalttätiges Klima.

Es gab einen Sadismus auf dem Schulhof, das glaubt heute kaum einer mehr. Die Zwischengeneration - die Generation Kohl, die Wapnewskis und Dahrendorfs - spürten dieses Dumpfe und wollten mehr liberale Reformen. Die waren am Anfang Sympathisanten der Studentenbewegung. Selbst Kohl findet in seinen Erinnerungen positive Worte über die Studentenbewegung. Aber diese Generation Kohl wandte sich 1968 ab, weil sie merkte: Da steckt etwas Wildes, Totalitäres drin. So wird diese große Chance verspielt. Die Studenten fielen in den Totalitarismus zurück, in die Spurrillen unserer Dreiunddreißiger-Eltern, die ja auch schon eine Studentenbewegung ins Werk gesetzt hatten, die mit ähnlichen Methoden operierte hatten.

Das ist wirklich lustig. Zu der überraschenden Erkenntnis, dass sich der deutsche Postfaschismus ausschließlich auf den Schulhöfen abspielte und ansonsten in den Sechzigern mit dem Rechtsstaat, der Reform und der Demokratie alles bestens bestellt war, hätte man zu gern einmal die Meinung von Fritz Bauer gehört.

Fritz Bauer, der nach Deutschland zurückgekehrte deutsch-jüdische Jurist, hessischer Generalstaatsanwalt von 1956 bis 1968, dessen Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit der BRD-Justiz so gering war, dass er sich im Fall Eichmann lieber auf die israelischen Behörden verließ. Der gegen erheblichen, fortgesetzten Widerstand den Auschwitz-Prozess in Frankfurt anschob. Fritz Bauer, der sich für diese Sisyphus-Arbeit ausgerechnet von dem jungen Helmut Kohl öffentlich dumm anmachen lassen musste, den Aly in seinen verqueren Histörchen nun zu den milden Reformern zählen will.

Wenn es 1968, wie Aly meint, zu so vielen NS-Prozessen gekommen ist wie nie, dann beruht das genau darauf, dass eine kleine Minderheit innerhalb des Justizapparats aufgrund des gestiegenen öffentlichen Drucks, für den auch Dinge wie "Die Ermittlung" und die Proteste mancher 68er gesorgt hatten, eine Weile etwas mehr Spielraum hatte. Die überwiegende Mehrheit der Justiz war in den Sechzigern mit ganz anderen Dingen beschäftigt, nämlich genau mit einer Verhinderung der Aufarbeitung der NS-Verbrechen, und mit einer engagiert durchgeführten Linkenhatz (siehe Ende der Diskriminierung?), bei der es reihenweise dazu kam, dass Kommunisten, die schon in der Nazizeit zu leiden gehabt hatten, ein weiteres Mal eingesperrt wurden.

Die Vergangenheit zum Inhalt, gemeint ist die Gegenwart

Bei nüchterner Betrachtung muss man feststellen, dass die ach so rechtsstaatlich und demokratisch agierenden Behörden bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen organisiert versagt haben, und dass selbst die Ausnahmen kaum gesellschaftliche Tiefenwirkung entfalteten. Wie minimal diese war, kann man daran ermessen, dass zum Beispiel der Hauptangeklagte im Contergan-Prozess nicht ein einziges Mal nach seinen medizinischen Aktivitäten und Forschungen während der Nazizeit gefragt wurde - so, als sei das kein Thema gewesen im Zusammenhang mit seinen späteren medizinischen Taten.

Wenn ein deutscher Ministerpräsident im Jahr 2007 Filbinger zu einem NS-Gegner umfrisieren kann, ohne sofort zurücktreten zu müssen, dann ist das nur ein weiterer Beleg für das peinlich deutliche Versagen des deutschen Staats in dieser Hinsicht. Im Licht der Tatsache, dass die justizielle Aufarbeitung der NS-Zeit absurderweise in Deutschland weniger Resultate brachte als in Norwegen, erweist sich das Gerede von Aly und Hirsch als neue alte reaktionäre Geschichtspolitik, als sekundärer Revisionismus, der den deutschen Postfaschismus im Schnellwaschgang von seinen tiefbraunen Flecken reinigen will.

Und man wird den Verdacht nicht los, dass die rhetorischen Kunststückchen von Aly und Hirsch zwar die Vergangenheit zum Inhalt haben, aber genauso gut die Gegenwart meinen: Wo eigentlich alles ok ist, muss der bloße Wunsch nach grundlegender Veränderung schon unvernünftig erscheinen. Wenn außerhalb der Mitte nur die "wilden" und "irrationalen" Gebiete des Faschismus lauern, werden die Verbrechen der Mitte zu Notwendigkeiten. Es ist kein Zufall, dass Aly seine begrifflichen Taschenspielertricks für die Verteidigung der Agenda 2010 fruchtbar zu machen versuchte, indem er schon 2005 behauptete, die rot-grünen "Reformen" seien ein wichtiger Bruch mit der Volksgemeinschaftsideologie der Nazis, weil auch die eine Sozialgesetzgebung kannten.

Was die Kritik an den 68ern angeht, so sollte man sie entschlossen vorantreiben. An dieser divergenten und höchst widersprüchlichen Zeitgeistströmung gibt es eine Menge zu kritisieren. Naivität, wohlfeiler Antiamerikanismus und Personenkult, die unsägliche "Politik" der Kadergruppen und der Stadtguerillerodarsteller, Selbstüberschätzung und Machismus verdienen so viel Aufmerksamkeit, wie sie kriegen können. Über den als Antizionismus getarnten "ehrbaren Antisemitismus", der sich nach dem Sechstagekrieg bei den 68ern breit machte, kann man schon bei Jean Améry nachlesen; über seine historischen Wurzeln und aktuellen Auswirkungen zum Beispiel bei Stephan Grigat.

Aber Götz Aly und seine Claqeure sind unter dem Vorwand von Kritik damit beschäftigt, ein bisschen Wahrheit in einem Ozean aus Bullshit zu ertränken. Wenn man vom Scheitern der 68er spricht, dann geht es nicht nur um all die Leute, die so lange durch die Institutionen marschierten, bis sie von den Institutionen gefressen wurden. Es geht nicht nur um die RAF, nicht nur um Personen wie Joschka Fischer, der seine Liebe zu Macht und Gewalt vom "Revolutionären Kampf" bis ins Auswärtige Amt trug. Es geht auch um Leute wie Aly, die früher Mao anbeteten und heute Adenauer, Kohl und die rot-grüne Demontage sozialer Errungenschaften rechtfertigen. So gesehen hat dann Alys und Hirschs Historienmanscherei ein Element der Wahrhaftigkeit an sich - wenn auch unfreiwillig.