Die Party geht zu Ende

Weltbank und Internationaler Währungsfonds warnen vor einem Konjunktureinbruch in Osteuropa

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Für eine eher auf vorsichtige Formulierungen bedachte Institution wie den Internationalen Währungsfonds (IMF) klang die jüngste Prognose der konjunkturellen Entwicklung Osteuropas beinahe alarmistisch. Laut dem jährlich publizierten Global Financial Stability Report des IMF droht der gesamten osteuropäischen Peripherie eine konjunkturelle „harte Landung“, die hauptsächlich durch die globale Finanzkrise ausgelöst werden könnte.

Als besonders besorgniserregend nennt der Währungsfonds die in der Region verbreitete Tendenz zur Ausbildung eines dramatischen Leistungsbilanzdefizits. In der grundlegenden ökonomischen Kategorie Leistungsbilanz werden nicht nur – wie bei der Handelsbilanz - die Handelsströme, sondern auch der Austausch von Dienstleistungen und die Finanzüberweisungen zwischen einer Volkswirtschaft und dem Ausland erfasst. Ein Leistungsbilanzdefizit ist mit einem Vermögensrückgang einer gegebenen Volkswirtschaft gleichbedeutend – und hier können die ein scheinbar robustes Wachstum vorweisenden Länder Osteuropas wahrlich erschreckende Rekorde vorweisen.

So kam Lettland in 2007 auf ein Leistungsbilanzdefizit von 22,9 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP). Ähnlich dramatische Werte weist Bulgarien mit 21,4 Prozent auf. Über ein ansehnliches negatives Leistungsbilanzsaldo verfügen noch Serbien (16,5 Prozent des BSP), Estland (16), Rumänien (14,5) und Litauen (13,3 Prozent). In Bulgarien wird für dieses Jahr eine weiter zunehmende Leistungsbilanz von 22 Prozent des BSP erwartet.

Zur Verdeutlichung dieser Dimensionen dürfte der Hinweis auf das Leistungsbilanzdefizit Polens, der größten Volkswirtschaft des ehemaligen Ostblocks, ausreichen. Dieses stieg von Januar bis Februar 2008 von 3,7 auf 3,9 Prozent des BSP. Konkret flossen während des vergangenen Februars 1.32 Milliarden Euro aus unserem östlichen Nachbarstaat, während es im Vorjahreszeitraum nur 733 Millionen Euro waren. Das Handelsbilanzdefizit macht bei allen osteuropäischen Staaten den Löwenanteil der negativen Leistungsbilanz aus - im Fall Polens waren das 933 Millionen Euro im vergangenen Februar.

Boom auf Pump

In den meisten Ländern dieser erst kürzlich der EU beigetretenen Region wird das robuste Wirtschaftswachstum der letzten Jahre von der Inlandsnachfrage getragen, die sich teilweise geradezu stürmisch entwickelte. Doch die große Konsumparty im Osteuropa wird nicht in erster Linie durch das steigende Lohnniveau getragen, da die nominalen Gehaltszuwächse größtenteils von der rasant um sich greifenden Inflation aufgezehrt werden. Der von der Nachfrage getriebene Boom Osteuropas läuft hingegen weitgehend dank exzessiver Kreditfinanzierung ab. So wuchs die Gesamtsumme privater Kredite allein im vergangenen Jahr in Bulgarien um 62 Prozent, in Rumänien waren es 60,4 Prozent, im Baltikum stieg die Verschuldung um 45 Prozent und selbst Polen schaffte es mit seinen 39 Millionen Einwohnern, die private Verschuldung um 39,4 Prozent zu steigern.

Diese massive Verschuldung wird hauptsächlich von westlichen Banken finanziert, die sich schon längst eine dominierende Stellung auf dem osteuropäischen Finanzmarkt gesichert haben. Mit der sich ausweitenden Finanzkrise könnte diese kreditfinanzierte Konsumparty ein jähes Ende finden. Der IMF nennt in seinem Bericht vor allem skandinavische Banken, die sich im Baltikum engagierten, sowie österreichische und italienische Kreditinstitute, die durch ihre überaus großzügigen Kreditpraktiken in die Bredouille geraten könnten. Das westliche Kapital habe laut IMF massiv „negative Positionen während des osteuropäischen Booms in dieser Region aufgebaut“, doch nun versiege aufgrund der Finanzkrise die Liquidität für diese Banken, denen es immer schwerer falle, an „Geld auf den globalen Märkten zu kommen“. Durch diesen globalen „Credit Crunch“ könne eine „sanfte konjunkturelle Landung“ in Osteuropa ernsthaft gefährdet sein, da insbesondere die Volkswirtschaften des Baltikums und Südosteuropas durch eine Einschränkung der Kreditvergabe durch westliche Banken hart getroffen würden:

Osteuropa insbesondere verfügt über eine Anhäufung von Staaten mit einem Leistungsbilanzdefizit, die durch Privatschulden oder Überweisungen finanziert werden, wodurch die privaten Kredite an Haushalte rapide wachsen. Eine globale konjunkturelle Verlangsamung oder ein scharfer Fall der Kapitalzuflüsse in diese Länder könnte eine schmerzhafte Anpassung auslösen.

IMF-Bericht

Die Weltbank sieht dieses Szenario einer „schmerzhaften Anpassung“ bereits als wahrscheinlich an. Am 10. April erklärte Shigeo Katsu, der Vizepräsident der Weltbank für Osteuropa und Zentralasien, dass die Länder des östlichen Europas und der ehemaligen Sowjetunion aufgrund der Finanzkrise eine „Verlangsamung“ ihres Wirtschaftswachstums erfahren könnten. Dabei würden vor allem die Armen besonders hart getroffen, weswegen Katsu die Staaten der Region bereits aufrief, ihre öffentlichen Ausgaben entsprechend zu restrukturieren, um den „Schlag abzufedern“, der auf die Ärmsten dieser Region vermittels der Finanzkrise zukomme. Als eine weitere besorgniserregende Entwicklung machte die Weltbank die galoppierende Inflation in der Region aus. Es gebe „einen starken inflationären Druck, der durch die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise“ angetrieben werde, so Katsu.

Ausufernde Inflation

Tatsächlich liegt die Inflation in weiten Teilen Osteuropas weitaus höher als im westlichen Kernland der EU. In Polen liegt die Teuerungsrate noch bei relativ moderaten 4,1 Prozent, doch Rumänien erreichte im März 2008 bereits auf eine Inflationsrate von 8,6 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, während Bulgarien im vergangenen Jahr sogar Preissteigerungen von 12,4 Prozent verkraften musste.

Bei anderen osteuropäischen Ländern sieht es kaum besser aus: In der Tschechischen Republik betrug die Teuerungsrate im November 2007 fünf Prozent, in Ungarn liegt sie bei 6,9 Prozent. Den absoluten Spitzenreiter stellt sicherlich das baltische Lettland dar, das in 2007 eine Inflation von 13,7 erreichte.

Zu einem Großteil wird diese Teuerungswelle von der seit Monaten anhaltenden Preisexplosion bei Lebensmitteln und Energieträgern getragen. EU-Neumitglieder wie Bulgarien mussten eine Verteuerung der Grundnahrungsmittel von nahezu 25 Prozent binnen eines Jahres hinnehmen; ähnlich stark stiegen die Preise in Rumänien. In Ungarn, dessen Bevölkerung gerade eine neoliberale Rosskur zwecks Haushaltssanierung verabreicht bekommt, waren es 22,5 Prozent. Lettland meldete allein im November 2007 einen Anstieg der Brotpreise binnen eines Monats um 16 Prozent. Selbst in der als stabil geltenden Tschechischen Republik kletterten die Lebensmittelpreise um 13,7, in Polen um sieben Prozent.

Da das Lohnniveau in allen osteuropäischen Ländern erheblich niedriger als in Westeuropa ist, verschlingen die Ausgaben für Lebensmittel und Energie einen viel größeren Anteil der Löhne. In Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Serbien oder der Ukraine zehren die Aufwendungen für Nahrungsmittel sogar nahezu die Hälfte der Einkünfte auf. Bei der Berechnung der dortigen Inflationsrate werden diese Umstände berücksichtigt, zumeist indem entsprechende statistische „Warenkörbe“ zusammengestellt werden. Die deutschen Statistiker sind hingegen er Ansicht, dass die hiesige Bevölkerung nur 10,3 Prozent ihrer Einkünfte für Nahrungsmittel aufwenden muss.

Schluss mit billig?

Ein weiteres Problem ergibt sich für die osteuropäischen Volkswirtschaften aus dem oftmals desaströs verlaufenden Privatisierungen der 90er Jahre, als ganze Industriezweige unter dubiosen Umständen an westliches Kapital verscherbelt und oftmals platt gemacht wurden. Viele östliche Volkswirtschaften wurden so ihrer eigenen, ökonomischen Kapazitäten beraubt - sie wurden de facto deindustrialisiert, ihre industrielle Basis ging verloren.

Der osteuropäische Boom der vergangenen Jahre wurde hauptsächlich durch ausländische Direktinvestitionen (FDI) getragen, durch westlich Konzerne, die das niedrige Lohnniveau der Region ausnutzend dort ihre „verlängerten Werkbänke“ aufbauten. Zumeist wurden arbeitsintensive Produktionsschritte wie Montagetätigkeiten ausgelagert, um dann die fertigen Produkte erneut hauptsächlich in den westeuropäischen Zentren zu verkaufen.

Doch inzwischen nehmen die FDI in Osteuropa wieder ab. Dem Foreign Direct Investment Index 2007 des globalen Beratungsunternehmens A.T. Kearney zufolge fallen nahezu alle osteuropäischen Länder in der Gunst der Investoren. Laut Kearney-Umfrage sank die „Attraktivität“ der Standorte Polen und Tschechien im vergangenen Jahr merklich: So rutschte die Tschechische Republik von Rang zwölf auf Rang 25 unter den beliebtesten Standorten, Polen fiel sogar von Platz fünf auf 22. Nach Angaben der Europäischen Wiederaufbaubank EBRD waren 2007 die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in Osteuropa bereits leicht rückläufig, da die „Privatisierungen weitgehend abgeschlossen“ seien, wie die österreichische Presse bemerkte.

Einen weiteren Grund für die ermüdende Investitionstätigkeit nannte die Financial Times in dankenswerter Offenheit. In einem Kommentar erwog das Wirtschaftsblatt die Konsequenzen aus einem Streik der rumänischen Belegschaft der Renault-Tochter Dacia, die in ihrem Werk das beliebte Billigauto „Logan“ herstellt. Nach 19 Tagen eines erbittert geführten Arbeitskampfes habe Renault schließlich einer Lohnerhöhung von 28 Prozent zustimmen müssen. Zuvor haben die Dacia-Arbeiter im Schnitt gerade mal 280 Euro netto verdient. Dabei sei Renault nicht der einzige Konzern, der „die Hitze militanter Gewerkschaften in den so genannten Niedrigkosten-Ländern Osteuropas“ gespürt habe, so die FT. Ähnliche Erfahrungen habe Ford in St. Petersburg sammeln müssen, wo die Arbeiterschaft Lohnerhöhungen von 30 Prozent forderte.

Überhaupt gehen der FT die Gehaltserhöhungen in Osteuropa viel zu schnell von statten, da laut dem Wirtschaftsblatt „schon in 10 Jahren“ die Löhne sich in einigen Ländern ans westeuropäischen Niveau angeglichen haben könnten. So stiegen beispielsweise die in der Privatwirtschaft Polens gezahlten Bruttolöhne im vergangenen Jahr um 10,2 Prozent auf 3,144 Zloty (900 Euro). Für die Financial Times scheinen solche Vergütungen unzumutbar: „Die Unternehmen werde wohl noch weiter Draußen nach langfristigen Lösungen für ihre Kosten suchen müssen“, schlussfolgerte das wirtschaftsnahe Leitmedium.