Aufbruch in Havanna

Die neue Reformpolitik im sozialistischen Kuba geht über den Verkauf von Handys und DVD-Playern hinaus

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Es ist eine kleine Revolution für Kuba. Seit Anfang der letzten Woche können in dem sozialistischen Inselstaat Handys gekauft werden. Sechs Modelle sind erhältlich, die Kosten liegen ohne Vertrag zwischen 65 und 290 US-Dollar. Die Liberalisierung des Handels mit Mobilfunkgeräten - sie waren zuvor offiziell nur für Staatsbedienstete und Ausländer erlaubt - ist Teil eines Reformprogramms des neuen Staats- und Regierungschefs Raúl Castro. Zugleich ist sie ein Zugeständnis an die neue Mittelschicht Kubas.

Auch EDV-Geräte, DVD-Recorder und andere Konsumgüter stehen fortan frei zum Verkauf (Handys für die Revolution). Erhältlich waren sie zwar schon vorher, allerdings nur auf dem Schwarzmarkt. Seit Kuba sich Anfang der 90er Jahre unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise dem internationalen Tourismus und Handel geöffnet hat, sind ständig Konsumgüter ins Land gekommen; über Urlauber, Angestellte ausländischer Firmen oder Diplomaten. In den vergangenen Jahren ist so ein Schwarzmarkt entstanden, dem die Regierung mit der Verkaufsfreigabe nun entgegenwirken will. Ein solches Zugeständnis an die neue wirtschaftliche Realität hat es in Kuba schon einmal gegeben: 1993 war der US-Dollar legalisiert worden - allerdings erst, als die Regierung die Kontrolle über den Devisenschwarzmarkt ohnehin schon verloren hatte.

Deswegen geht es bei der Legalisierung der Handys in Kuba auch nicht um den Gerätehandel an sich ? es geht um seine Bedeutung. Darauf wies unlängst auch der kubanische Kriminalbuchautor Leonardo Padura hin. Das Mobiltelefon am Gürtel sei auch in Kuba zu einem "Symbol für wirtschaftlichen Erfolg geworden", schrieb er in einem Beitrag für die österreichische Tageszeitung "Der Standard". Tatsächlich wiegt dieser symbolische Gehalt auch im karibischen Sozialismus mehr als der Gebrauchswert. Denn viele Kubaner nutzen ihr Mobiltelefon nur, um den Anrufer zu identifizieren und danach von einem öffentlichen und mit kubanischen Pesos betriebenen Münztelefon zurück zu rufen. "Das Mobiltelefon hat man also nicht, um zu telefonieren, sondern um zu zeigen, dass man eins hat", schlussfolgert Padura. Dies, und der Umstand, dass Mobiltelefone in Kuba nie verboten waren, sondern schlichtweg nicht zum freien Verkauf standen, entkräftet die im Ausland vorherrschende ideologische Sicht auf die jüngsten Reformen in Kuba.

Symbol für sozialen Unterschied

Denn Handys bringen Kuba keine politischen Veränderungen. Die Liberalisierung ihres Verkaufs ist nichts weiter als ein Zugeständnis an die neue soziale Schicht, die an Devisen gelangt ist und bislang kaum Möglichkeiten hatte, ihren neuen Wohlstand effektiv zu nutzen. Diese Tatsache macht im Umkehrschluss deutlich, woher in Kuba 15 Jahre nach der Legalisierung des US-Dollars der Druck für Reformen kommt. Vor Beginn des Handyverkaufs wiesen staatliche Funktionäre zwar ausdrücklich darauf hin, dass die Geräte in Einzelfällen auch für kubanische Peso verkauft werden könnten. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die soziale Kluft, die Anfang der 90er Jahre in der kubanischen Gesellschaft entstanden ist, breiter wird.

Doch genau darüber wird in Kuba rege diskutiert. Die Tageszeitung des kommunistischen Jugendverbandes, der "Unión de Jóvenes Comunistas" (UJC), veröffentlichte vor wenigen Tagen erst einen Leitartikel zu den sozialen Folgen der Reformen. Die "notwendigen Maßnahmen" im wirtschaftlichen Bereich hätten negative Folgen wie "Individualismus, Egoismus, unzivilisiertes Verhalten, Ausgrenzung und alltägliche Gewalt" mit sich gebracht. Unklar ließen die Autoren aus UJC und anderen Jugendverbänden zwar, was mit dem letzten Punkt gemeint war. Doch unbestreitbar hat mit den zunehmenden sozialen Unterschieden in den vergangenen Jahren auch die Kleinkriminalität in Kuba einen Aufschwung erlebt. Der Leitartikel in der staatlichen Zeitung Juventud Rebelde versuchte, auf diese neuen Phänomene Antworten zu geben. Denn, so hieß es in dem Text, auch wenn die Regierung Sozialprogramme für die ärmeren Teile der Bevölkerung initiiert habe, "bestehen weiter verletzliche Bereiche der Gesellschaft, in denen das soziale Netz in den vergangenen Jahren geschwächt wurde".

Diese Formulierung hatte unlängst fast wortgleich Kubas Kulturminister Abel Prieto auf dem Kongress des Schriftsteller- und Künstlerverbandes UNEAC benutzt. Prieto, der als Erneuerer gilt, wies auf die negativen gesellschaftlichen Folgen der Wirtschaftsöffnung für die auf soziale Gleichheit geeichte Gemeinschaft hin. Es bestehe die Notwendigkeit, "das spirituelle Netzwerk in den Gebieten der Gesellschaft neu zu spinnen, die von der stupiden Kultur, der Oberflächlichkeit, vom ethischen Rückschritt, Korruption und Rassismus" besonders betroffen seien. Offen sprach der Regierungspolitiker dabei auch die entstandene Doppelmoral an:

Man kann kein Dr. Jekyll sein, ein Revolutionär und Antiimperialist am Morgen, um in der Nacht zum Mr. Hyde zu werden, der sich den schlimmsten Erzeugnissen Hollywoods hingibt. Denn wie in der Erzählung von Robert Louis Stevenson kann es dabei eines Tages einen Kurzschluss geben und die dunkle und unkontrollierbare Seite bricht in einem Moment durch, in dem das am wenigsten geschehen darf.

Kulturminister Abel Prieto

Kontroverse Kulturdebatten

Es kam anderen Teilnehmern des Kulturkongresses zu, die Schlussfolgerungen aus Prietos Vortrag zu benennen. So gingen die rund 400 Mitglieder der Tagung vor allem mit dem Kubanischen Radio- und Fernsehinstitut (ICRT) hart ins Gericht. Die Kontroverse kam nicht überraschend, denn im Medienbereich wurden in Kuba in den vergangenen Monaten zentrale politische Diskussionen ausgetragen. Die politische Polarisierung zeigt sich schon auf institutioneller Ebene: Während das Institut für Cinematographie ICAIC in der Hand liberaler Kräfte ist, herrschte im ICRT bislang eine eher orthodoxe Linie.

Der Spielfilm "Fresa y Chocolate", der 1993 zugleich zwei damalige Tabuthemen in Kuba aufgriff - Homophobie und Emigration - entstand mit Hilfe des Kinoinstitutes. Das Radio- und Fernsehinstitut hingegen strahlte (und strahlt) Tag für Tag drittklassige Hollywoodproduktionen aus den vergangenen Jahrzehnten aus. Das Fass zum Überlaufen brachten die Programmgestalter aber, als sie Anfang 2007 kurz nacheinander mehreren Politikern im Staatsfernsehen ein Forum boten, die in den 70er Jahren für eine Phase extrem restriktiver Kulturpolitik verantwortlich waren. Das "graue Jahrfünft", wie die Zeit später von dem kubanischen Essayisten Abrosio Fornet getauft wurde, kam in den Sendungen jedoch nicht vor. Statt dessen wurden Luis Pavón, der ehemalige Präsident des "Nationalen Kulturrates", José Serguera, der damalige Vorsitzende des ICRT, sowie der Kulturpolitiker und Theaterexperte Armando Quesada als Vorbilder in der Kulturpolitik gewürdigt. Von den Opfern dieser Politik werden die drei Funktionäre schlichtweg als Stalinisten bezeichnet.

Dass nach der Ausstrahlung der Programme wütender Protest der Künstler und Schriftsteller losbrach, kann deswegen nicht nur als Indiz für die veränderte politische Kultur in Kuba verstanden werden. Die Reaktion hatte auch etwas mit der damaligen politischen Lage zu tun: Wenige Monate zuvor war im Sommer 2006 Revolutionsführer Fidel Castro von den Amtsgeschäften "vorläufig" zurückgetreten (Rückzug des Comandante). In dem tatsächlichen oder empfundenen Machtvakuum befürchteten viele Kulturschaffende eine Rückkehr der restriktiven Politik, ein Gefühl, dass durch den Auftritt mehrerer für diese Linie verantwortliche Politiker verstärkt wurde.

Die Debatten in Kuba haben seither gezeigt, dass diese Gefahr nicht besteht. Die Reformpolitik Havannas beschränkt sich nicht nur auf den wirtschaftlichen Bereich, sie greift auch in Kultur und Politik. Desiderio Navarro vom Kulturzentrum Criterios, der die kulturpolitische Diskussion seit Anfang vergangenen Jahres mit mehreren Konferenzen forciert hat, fasste die Positionen auf der Buchmesse in Havanna Anfang Februar so zusammen:

Bis zu dem Moment, in dem der Comandante en Jefe (Fidel Castro, d. Red.) darauf hingewiesen hat, dass wir selbst ? und nicht mehr nur der Feind ? die Revolution zerstören können, eine Zerstörung, die aller Voraussicht nach zum Kapitalismus und zur Annexion führen würde, war diese Möglichkeit für die große Mehrheit der Bevölkerung völlig undenkbar. Leider gibt es aber auch jene, für die es nicht denkbar ist, dass eine Restauration der Politik des grauen Jahrfünft nur ein anderer Weg wäre, die Revolution zu zerstören und, früher oder später, den Kapitalismus einzuführen, so wie es die osteuropäischen Gesellschaften gezeigt haben, die in trauriger Ironie den alten antikommunistischen Witz bestätigt haben, der den Sozialismus als Übergangsphase von Kapitalismus zum Kapitalismus bezeichnet.

Desiderio Navarro

Eineinhalb Jahre nach dem Rückzug Fidel Castros aus der Regierungspolitik beschreitet Kuba mit den laufenden Debatten und Reformen Neuland realsozialistischer Politik. Würde man die Neuerungen auf den wirtschaftspolitischen Bereich beschränken - wie es etwa der deutsch-mexikanische Soziologe Heinz Dieterich jüngst tat -, wäre der Unterschied zwischen Kuba und Staaten wie China oder Vietnam nur schwer erfassbar. Die Singularität Kubas ist es, die Erfahrungen der postsozialistischen Staaten in die aktuelle Politik einfließen zu lassen. So wird in Havanna das Scheitern der DDR und der ehemals sozialistischen Staaten Europas aufmerksam ausgewertet. Das wird aus der Diskussion über eine notwendige kulturelle Souveränität deutlich. Dass dieses Ansinnen im Kontrast zu der wirtschaftlichen Öffnung steht, ist das Dilemma des Landes. Der große Fortschritt in der Politik ist es, dass dieses Dilemma nicht mehr geleugnet, sondern offensiv diskutiert wird.