Ein Gehirn für die beiden Geschlechter?

Männliche und weibliche Fruchtfliegen scheinen weitgehend dasselbe Gehirn zu haben, wenige Schalter entscheiden, ob es sich männlich oder weiblich verhält

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Fruchtfliegen sind ein begehrtes Objekt für Genforscher. Um die neuronalen Grundlagen des sexuellen Verhaltens zu erkunden, haben auch Dylan Clyne von der Yale University und Gero Miesenbroek von der Oxford University auf die Fliegen zurückgegriffen. Für ihre Experimente haben sie, wie sie in der Zeitschrift Cell berichten, genveränderte Drosophila-Weibchen nun so steuern können, dass sie auf ein optisches Signal das männliche Balzverhalten zeigen.

Die neuronales Grundlagen sind zwar auch in den Weibchen angelegt, doch anstatt wie die sexgierigen Männchen mit einem der Flügel zu vibrieren und mittels der Geräusche einen "Balzgesang" zu erzeugen, belassen die Weibchen es normalerweise beim Vibrieren des Flügels, wobei die daraus entstehenden Geräusche nicht den "Gesängen" der Männchen gleichen, weil das entsprechende neuronale Programm nicht aktiviert wird. Normalerweise "singen" also nur die Männchen, die Weibchen können dadurch, wenn sie den Minnesänger erhören, zur Kopulation verführt werden.

Das Protein fru erzeugende Neuronen in den Nackenverbindungen von männlichen und weiblichen Fruchtfliegen. E und F sind vergrößerte Ausschnitte von C und D. Bild: Clyne/Miesenbroek/Cell

Man weiß, dass [http://www.heise.de/tp/blogs/3/100292 neben wenigen anderen Genen] vor allem das fru-Gen darüber entscheidet, ob Fruchtfliegen männliche oder weibliche Verhaltenszüge zeigen. In einem früher durchgeführten Experiment wurde das weibliche fru-Gen in Männchen eingebaut und das männliche in Weibchen, wodurch sich das Verhalten entsprechend veränderte. Das fru-Gen codiert ein Protein, das nur 2000 Neuronen steuert, etwa 2 Prozent aller Neuronen. Diese 2000 Neuronen gehören vermutlich zu einem geschlechtsspezifischen System aus zentralen, sensorischen und motorischen Neuronen. Zu diesem System gehört auch der "Gesangsgenerator" aus 200-270 Neuronen, der sich in Ganglien des Brustkorbs bei Männchen und Weibchen findet und durch einige hundert Axone, die über den Nacken laufen, mit dem Gehirn verbunden ist. Da sich das fru-System bei Männchen und Weibchen kaum unterscheidet, versuchten die Forscher herauszufinden, wie das geschlechtsspezifische Verhalten entsteht.

Den Fliegen wurde in dem Areal ein Gen eingefügt, das auf ultraviolettes Licht reagiert und durch die Codierung eines ATP-Kanals Neuronen aktiviert, die das fru-Protein erzeugen. Wenn durch Lichtstimulation allerdings alle 2000 Neuronen gleichzeitig angeschaltet wurden, dann "singen" die Männchen nur selten, wenn man ihnen nicht den Kopf abschneidet, wodurch offenbar absteigende hemmende Signale von einigen Interneuronen abgestellt werden. Den Balzgesängen der Kopflosen fehlen dennoch einige Eigenschaften von normalen Männchen, vermutlich weil die Rückkopplung mit dem Gehirn nicht mehr vorhanden ist. Bei kopflosen Weibchen funktioniert das Anschalten auch, wenn die Intensität der Lichtstimulation verstärkt wird, allerdings sind die Gesänge weniger klar strukturiert und beeindrucken auch normale Weibchen nicht. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass bei den normalerweise größeren Weibchen weniger Photonen bis zum "Gesangsgenerator" vordringen können.

Kopfloses Männchen bzw. Weibchen "singt" unter Lichtstimulation. Bild: Clyne/Miesenbroek/Cell

Wird bei den Weibchen jedoch das fru-Gen auf maskulin geschaltet, dann bringen sie auch die männlichen Gesänge hervor – und Weibchen lassen sich dadurch auch verführen, auch wenn sie nicht perfekt singen, die Tonhöhe sich etwa leicht unterscheidet oder der Rhythmus. Umgekehrt erzeugen die verhaltensgenetisch auf weiblich getrimmten Männchen zwar noch Gesänge, denen aber wiederum einige der normalen akustischen Eigenschaften fehlen.

Den Drosophila-Weibchen mangelt es also nicht an den motorischen Fähigkeiten, männliche Balzgesänge hervorzubringen, aber es fehlen die Befehlsstrukturen dafür, gewissermaßen die Kommando-Ebene. Daraus folgern die Wissenschaftler, dass geschlechtsspezifische Verhaltensweisen vermutlich nur durch wenige "Master"-Neuronen gesteuert werden. Das wiederum hieße, dass – zumindest bei Fruchtfliegen – ein weitgehend einheitliches neuronales Unisex-System nur wenige unterschiedliche Schalter hat, die weibliches oder männliches Verhalten kontrollieren.