Das Walk-Away-Phänomen

Wie durch die US-Immobilienkrise Sachwerte vernichtet werden

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Der Schaden zum Ende der New Economy vor acht Jahren hielt sich in Grenzen: Auch deshalb, weil nur begrenzt Sachwerte vernichtet wurden: Die "Geldverbrennung" fand zwar auf den Konten statt, aber die Rechner der pleite gegangenen Firmen verstaubten eher selten in Asservatenkammern und Versteigerungslagern, sondern blieben der Produktion erhalten – häufig deshalb, weil sie von den ehemaligen Angestellten mitgenommen wurden. Ansonsten beschränkte sich der Einfluss auf die "reale" Ökonomie hauptsächlich auf Gehälter, die in den seltensten Fällen so hoch waren, dass sie wirklich Schaden anrichten konnten: Ob ein Investor via Steuern und Sozialhilfe oder via Gehältern und Webdesign ein Existenzminimum finanzierte, machte in der Realität keinen wirklich großen Unterschied. Anders bei der derzeitigen Immobilienkrise: Dort wird vor allem in den letzten Monaten deutlich, dass im Zuge des Niedergangs auch massiv Sachwerte vernichtet werden. Schuld daran ist die Geschäftspolitik von US-Banken.

Im Zuge der Krise wurde bisher meist beklagt, dass die Regulierung der Vergabe von Hypotheken nicht ausreichend reguliert war, so dass Geringverdienerträumen vom Eigenheim zu vorschnell mit Krediten entgegengekommen worden sei. Wäre lediglich das der Fall, dann würde sich der Sachschaden theoretisch in Grenzen halten: Ein paar Banken müssten länger auf Zins und Tilgung und ein paar Aktionäre länger auf ihre Dividende warten. Gründe, warum der Schaden größer ist, liegen unter anderem in den internationalen Verflechtungen, den betrügerischen Etikettierungen der "Kreditpakete" und dem strukturellen Versagen der Rating-Agenturen – alles Punkte, die bereits ausführlich diskutiert wurden.

Weit weniger Beachtung fand dagegen die Tatsache, dass die Politik der Banken, möglichst schnell möglichst viel an Geld einzutreiben, dazu führt, dass mittlerweile auch massiv Sachwerte vernichtet und in vielen Stadtvierteln Abwärtsspiralen in Gang gesetzt werden, die zu einer Verslummung führen, wie sie die USA seit den Reagan-Jahren nicht mehr erlebten.

Verantwortlich dafür ist neben den klassischen Zwangsräumungen auch das neu entstandene Massenphänomen, dass sich Hausbesitzer verziehen und ihren Banken die Schlüssel schicken. Ein solcher "Walk Away" lohnt sich vor allem dann, wenn der Hausbesitzer nur wenig Eigenkapital investiert hat und der Wertverlust groß ist. Da die amerikanischen Banken häufig mit ARM-Krediten lockten, bei denen die Raten am Anfang sehr niedrig lagen und später wesentlich höher wurden, ist eine beträchtliche Zahl von amerikanischen Hausbesitzern in solch einer Situation.

Das Schlimmste was einem Investor in den USA passieren kann, wenn er die Hypothek platzen und der Bank das Eigentum an der Immobilie lässt, sind Auswirkungen auf seine Kreditwürdigkeit, seinen "Credit Score". Diese können sehr unterschiedlich sein, halten sich meist jedoch in solchen Grenzen, dass der Schuldner weiter ein relativ normales Leben führen kann. Insofern kann ein Walk Away durchaus eine rationale Entscheidung sein, welche Immobilienbesitzer in der Erwartung treffen, dass die Hypothekenzahlungen nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch den wahrscheinlichen zukünftigen Wert des Hauses deutlich übersteigen.

Hinzu kommt, dass die Begleichung der Hypothekenschulden bei Personen, die weniger flüssig sind, zu Effekten führen kann, die den Credit Score deutlich starker schädigen als ein Walk Away. So mindert etwa ein einzelner Verfall des Grundstücks an den Gläubiger den Score weit weniger als mehrere säumige Zahlungen auf Kreditkarten oder Autoraten. Entsprechend kürzer ist auch die Zeit, nach der sich die schädlichen Folgen nicht mehr in den amerikanischen Schufa-Äquivalenten zeigen. CNN Money zufolge bekommt jemand, dessen Grundstück an einen Gläubiger fiel, typischerweise schon nach zwei Jahren einen neuen Kredit für einen Hauskauf – NPR zufolge kann der "Säuberungsprozess" allerdings auch bis zu 10 Jahre dauern.

Der Mortgage Forgiveness Debt Relief Act vom letzten Jahr schuf zusätzliche Anreize: Verkaufte eine Bank eine Immobilie für weniger als die Hypothekenschulden, musste der Schuldner diese Differenz versteuern – mit dem neuen Gesetz ist dies nicht mehr der Fall. Wenig überraschend meldete deshalb das "Credit Bureau" Experian, das die Kreditwürdigkeit von Verbrauchern bewertet, schon im letzten Jahr, dass Konsumenten eher Kreditkartenzahlungen und andere Forderungen begleichen, bevor sie Hypothekenzahlungen bedienen.

Neben einem neuen Ausdruck entstanden auch neue Geschäftsmodelle: Die im Januar gegründete kalifornische Firma YouWalkAway.com berät ihre Klienten für eine Gebühr von knapp 1.000 Dollar nicht nur, ob und wie sie ihre Geldsorgen durch eine Aufgabe ihrer Immobilie lindern können, sondern führt sie nach eigenen Angaben durch den gesamten Prozess. Der Standort Kalifornien eignet sich für die Firma unter anderem deshalb ausgezeichnet, weil Banken dort die Restsumme, um die der Verkaufswert einer Immobilie die ausstehenden Hypothekenschulden unterschreitet, nicht mehr einfordern können. Dies gilt allerdings nur dann, wenn es sich nicht um refinanzierte Hypothekenschulden handelt.

Abwärtsspiralen

Handelt es sich um Investoren, die nicht selbst in ihren Häusern wohnen, ist das Walk-Away-Phänomen relativ unproblematisch. Sachschäden entstehen aus dem Phänomen vor allem dann, wenn die Banken auf Schuldner, die ihre Häuser selbst bewohnen, Druck ausüben und damit drohen, den Hypothekenvertrag zu kündigen. Jene Bewohner, welche die Hypothekenzahlungen nicht leisten können, geben in solchen Fällen häufig die Hoffnung auf das Behalten ihres Eigenheims auf und verlassen es, um in einem anderen Bundesstaat bei Freunden, Verwandten, oder in einem Trailerpark neu anzufangen – auf diese Weise glauben sie, wenigstens den Hypothekenraten und den anderen finanziellen Verpflichtungen zu entkommen.

In vielen Fällen pfändet die Bank allerdings das Haus gar nicht: Es ist ja zum jetzigen Zeitpunkt weniger wert als die Bankschulden - und außerdem würden mit der Pfändung auch (die in den USA im Vergleich zu Deutschland häufig ganz erheblich höheren) Grundsteuern und Instandhaltungskosten auf sie zukommen, welche beispielsweise von Bau- und Feuerschutzbehörden angeordnet werden.

Auf diese Weise werden in vielen Vierteln Abwärtsspiralen in Gang gesetzt: Bewohner verlassen ihre Häuser, dort nisten sich Vandalen ein, demolieren das Gebäude und zünden Feuer an. Dadurch steigen in der Umgebung die Versicherungspolicen und die Grundstückswerte sinken stark, was wiederum zu mehr platzenden Hypotheken und weiteren Zwangsräumungen und Walk Aways führt. Diese Effekte führten etwa in Buffalo im Bundesstaat New York bereits zum Verfall ganzer Viertel. Die 290.000-Einwohner-Stadt verzeichnet über 10.000 Leerstände. Allein die Abrisskosten für 57 verlassene Häuser belaufen sich mittlerweile auf über zwei Millionen Dollar, welche jetzt in einem Musterprozess von insgesamt 28 Banken eingetrieben werden sollen.

Nun berät der amerikanische Kongress über mehrere Vorschläge, mit denen "Anreize" geschaffen werden sollen, statt Eigentumsübergang oder Aufgabe von Eigentum Umschuldungen als Lösung in Betracht zu ziehen. Bisher beschäftigen sich diese Anreize vor allem mit Steuervorteilen, welche häufig erst in der Zukunft geltend gemacht werden können. Damit betreffen sie allerdings eher die Walk-Away-Investoren, als jene, die ihre Häuser auch bewohnen und durch die massenhafte Aufgabe den Teufelskreis der Verslummung in immer mehr Gebieten in Gang setzen.

Eigentum ist nicht gleich Eigentum

Eine Lösung, welche gezielt dieses Problem anspricht, müsste eher in einer stärkeren Differenzierung des Eigentumsschutzes liegen: Nicht jedes Eigentum ist gleich – und nicht jedes Eigentum muss deshalb rechtlich gleich behandelt werden: Während bei persönlichen Gegenständen oder Immobilien oft eine erhebliche emotionale oder Nutzungsbindung vorliegt, weist in Aktien investiertes Geld nur eine relativ lockere "echte" Eigentumskomponente auf. Derjenige, der Aktien kauft, ist sich – wie auch die Telekom im aktuellen Prozess gegen ihre Aktionäre argumentiert – bewusst, dass er diese relativ schwache Form des Eigentums jederzeit verlieren kann. Sie gleicht damit mehr einem Wetteinsatz und kann deshalb vom Gesetzgeber anders behandelt werden, als das Eigentum an einer Immobilie. Ähnlich verhält es sich mit verliehenem Geld, beispielsweise das einer Bank für einen Hauskredit.

In den USA hat der Gesetzgeber diesen differenzierten Eigentumsschutz nur sehr bedingt umgesetzt. Banken, die Hypotheken halten, können Grundstücke dort relativ leicht zwangsräumen lassen oder damit drohen. Welche verheerenden Auswirkungen so etwas hat, sah man massenhaft in der Wirtschaftskrise der 1930er, als zu Zeiten einer Hungersnot Farmen gepfändet und geräumt wurden, deren ehemalige Besitzer sich in das Heer der hungernden Wohnungs- und Arbeitslosen einreihten, anstatt auf ihren Grundstücken wenigstens Subsistenzwirtschaft zu betreiben.