"Die hiesige Tibet-Schwärmerei ist reine Projektion"

Colin Goldner über die Verklärungen Tibets und des Dalai Lama

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Ist es ein Erfolg des internationalen Drucks (Streicheleinheiten in Peking) oder eher eine Routineangelegenheit? Die chinesische Regierung hat angekündigt, sich mit einem Vertrauten des Dalai Lama treffen zu wollen Allerdings wurde bisher in der Berichterstattung über Tibet kaum zur Kenntnis genommen, dass es auch in der Vergangenheit Verhandlungen mit Vertretern des Dalai Lama und der chinesischen Regierung gegeben hat.

Das ist eine der Kritikpunkte, die der ehemalige DDR-Auslandskorrespondent Zhiping Jia an der Tibet-Berichterstattung in den deutschen Medien hat. Zhiping Jia gehörte zu den Mitorganisatoren einer Demonstration in Berlin am 19. April, auf der in Deutschland lebende chinesische Staatsbürger gegen die ihrer Meinung nach einseitige Berichterstattung in deutschen Medien protestiert hatten. Diese Aktion hat eine Debatte über die Objektivität der hiesigen Tibetberichterstattung angestoßen. Im Gegenzug müssen sich die Organisatoren der Protestdemonstrationen auch mit dem Vorwurf auseinandersetzen, von der Pekinger Regierung gelenkt zu sein So betonte Zhiping Jia in einem Interview:

Die Proteste wurden von Privatleuten und von Studentengruppen organisiert. Die Botschaft hat uns nicht unterstützt, im Gegenteil. Ein paar Studenten, die bei der chinesischen Botschaft Nationalfahnen ausleihen wollten, wurde gesagt, sie sollten studieren und nicht demonstrieren. Mobilisiert haben wir hauptsächlich über Internetforen.

Doch dem Vorwurf, dass jede Kritik am Dalai Lama und der vom ihm vertretenen Politik die Machthaber in Peking unterstützt, musste sich vor einigen Wochen auch die Bürgerschaftsabgeordnete der Linken in Hamburg, Christiane Schneider, stellen. Weil sie in einer Rede in der Bürgerschaft mit Verweis auf den iranischen Religionsführer Chomeini daran erinnerte, dass man mit religiösen Persönlichkeiten in der Politik nicht immer gute Erfahrungen gemacht habe, wurde gleich von einem Eklat in der Bürgerschaft gesprochen.

Bemerkenswert ist, dass sich mit dem Dalai Lama der hessische Ministerpräsident Roland Koch genau so identifizieren kann, wie nonkonformistische Musiker wie Björk, die bei Auftritten in China ihre Sympathie mit Tibet (Declare Independence) ausgedrückt hat.

Der Dalai Lama ist alles andere als ein "Mann des Friedens

Auch der Wissenschaftsjournalist Colin Goldner und Autor des Buches „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“, das in den nächsten Tagen in aktualisierte Neuauflage im Alibri-Verlag erscheint, musste sich wegen seiner prononcierten Kritik am Dalai Lama und der von ihm vertretenen Politik schon häufig scharfe Angriffe gefallen lassen. Peter Nowak sprach mit ihm über das Bild von Tibet und vom Dalai Lama.

Vor einigen Tagen protestierten in Deutschland lebende Chinesen gegen eine verzerrte Medienberichterstattung über Tibet in deutschen Zeitungen. Ist die Kritik berechtigt?

In den bürgerlichen West-Medien wurden die frei Haus gelieferten Behauptungen der "Exilregierung" des Dalai Lama ohne die geringste journalistische Distanz oder Gegenrecherche weiterverbreitet: von der "unmenschlichen Brutalität der chinesischen Machthaber", den "grausamen Menschenrechtsverletzungen", dem "Völkermord auf dem Dach der Welt". Nirgendwo fand sich auch nur der leiseste Anflug von Kritik an der von Tibetern verübten Gewalt. Selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden die blindwütigen Horden - darunter viele Mönche aus den örtlichen Großklöstern -, die da vandalierend, plündernd und Brände legend durch die Straßen zogen und auf jeden einprügelten, der nicht tibetisch genug aussah, als im Grunde friedliche Demonstranten dargestellt, die von einer brutalen Militärdiktatur an der Ausübung elementarster Rechte gehindert würden.

Wie wurde in den Medien Ihrer Meinung nach manipuliert?

Colin Goldner: Verfügbares Bildmaterial wurde entweder gar nicht gezeigt oder manipuliert, beziehungsweise mit falschen oder irreführenden Kommentaren versehen. Der Nachrichtensender n-tv beispielsweise strahlte ein Video aus, auf dem vermeintlich chinesisches Militär zu sehen war, das in Lhasa auf friedliche Tibeter einprügelt. Nur: die Bilder stammten gar nicht aus Lhasa, vielmehr zeigten sie nepalische Polizei, die gegen Randalierer in Kathmandu vorging. Auch auf RTL wurden die Szenen aus Kathmandu als Szenen aus Lhasa verkauft; desgleichen in der Bild-Zeitung, in der unter der Überschrift "Hunderte Tote bei schweren Unruhen in Tibet" ein Standphoto aus dem Kathmandu-Video zu sehen war.

Gibt es nicht auch Beispiele für eine objektive Sicht in den Medien?

Colin Goldner: Solche Berichte waren nur sehr vereinzelt zu lesen: die Washington Post beispielsweise oder der britische Economist ließen westliche Augenzeugen zu Wort kommen, die bestätigten, dass der Terror in den Straßen von Lhasa eindeutig von tibetischer Seite vom Zaune gebrochen worden war. Nachdem Videodokumente dies bestätigten, verlagerte das Gros der westlichen Medien sich auf die Argumentationslinie, die Ausschreitungen seien zwar zu verurteilen, letztlich aber vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Unterdrückungspolitik Pekings verständlich und als "Ausdruck der Verzweiflung" (NZZ) oder "Schrei nach Freiheit" (Tagesspiegel) vielleicht sogar legitim.

Der Dalai Lama wird parteiübergreifend als Mann des Friedens bezeichnet, der über jeder Kritik steht. Sie haben sich in ihrem Buch "Fall eines Gottkönigs" nicht an dieses Kritikverbot gehalten. Was werfen sie dem Dalai Lama vor?

Colin Goldner: Schon bald nach dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet nahmen die beiden älteren Brüder des Dalai Lama Kontakt zur CIA auf. Mit finanzieller und personeller Hilfe des US-Geheimdienstes wurde ab Ende der 1950er eine mehrere tausend Mann umfassende Untergrundarmee aufgestellt, deren Aufgabe in gezielten Kommandoattacken lag.

Die Untergrundkämpfer, bekannt als Chusi Gangdruk, übten beispiellosen Terror nicht nur gegen die chinesische Zivilbevölkerung aus, mit guerillataktischen "Hit-and-run"-Aktionen brachten sie auch der VBA erhebliche Verluste bei. Im Herbst 1958 griffen sie eine VBA-Garnison nahe Lhasa an: Sie töteten mehr als 3.000 chinesische Soldaten und gelangten in den Besitz großer Mengen an Waffen und sonstigem Kriegsmaterial. In der Folge wuchs die Untergrundarmee innerhalb weniger Wochen auf mehr als 12.000 Kämpfer an. Kopf der Guerilla war Gyalo Thöndup, einer der Brüder des Dalai Lama. Bis Anfang der 1970er wurde die Chusi Gangdruk mit jährlich 1,7 Millionen US-Dollar aus einem eigens aufgelegten Sonderprogramm zur Finanzierung antichinesischer Operationen gefördert.

Der Dalai Lama erhielt aus dem gleichen Fonds 186.000 US-Dollar pro Jahr zu persönlicher Verfügung. Nachdem er den Erhalt dieser Gelder und die Verbindung zur CIA jahrzehntelang abgestritten hatte, musste er Ende der 1990er zugeben, gelogen zu haben. Auch wenn das Nobelkomitee vielleicht nichts von seiner Unterstützung des Untergrundterrors in Tibet gewusst haben mag, stellt sich doch die Frage, für welches Verdienst ausgerechnet er mit dem Friedensnobelpreis 1989 ausgezeichnet wurde. Der Dalai Lama ist alles andere als ein "Mann des Friedens", er schließt den Einsatz von Gewalt keineswegs aus.

Sie gehen auch auf die Geschichte der Tibet-Begeisterung in Deutschland ein. Was interessiert die Deutschen gerade an diesem Land?

Colin Goldner: Die hiesige Tibet-Schwärmerei ist reine Projektion, basierend auf grober Unkenntnis der historischen Zusammenhänge sowie Identifikation mit einem System sozialer Ungerechtigkeit. Viele Menschen sind begeistert von dem Bild, das der Dalai Lama von sich abgibt, aber wofür er wirklich steht, wissen die wenigsten. Man versorgt sich mit gerade soviel an oberflächlicher Kenntnis, dass ein Projektionsschirm für die eigenen untergründigen Bedürfnisse und Sehnsüchte entsteht: der Wunsch nach verlässlicher moralischer Integrität, die hiesige Politiker und Würdenträger längst verspielt haben.

Konsequent wird alles ausgeblendet, was das Bild zum Platzen bringen könnte. Um so frenetischer der Applaus, je platter die Phrasen "Seiner Heiligkeit", je durchsichtiger seine Selbstdarstellung als Friedensfürst, als heroischer Vorkämpfer für Menschenrechte und demokratische Prinzipien. Selbst der größte Unfug, den er absondert, bleibt unwidersprochen. Tibet als Projektionsschirm ist nur attraktiv, weil und solange es den Dalai Lama hat.

Wie bewerten Sie die Boykottforderungen gegen die Olympiade in China?

Colin Goldner: In Pro-Tibet-Kreisen wird nicht nur ein Boykott der Spiele gefordert, vielmehr ist von der Erfordernis gezielter Sabotage die Rede. Im Internet kursiert derzeit die Idee der Selbstverbrennung eines tibetischen Mönchs im Olympiastadion von Peking. Mit Blick auf die milliardenschweren Verflechtungen deutscher Unternehmen - Adidas, Deutsche Bank, Siemens, Volkswagen usw. - mit China halten hiesige Politiker nichts von einem Boykott, allenfalls will man der Eröffnungsfeier fernbleiben.

Ich persönlich halte die Olympischen Spiele in Beijing für genauso erübrigbar wie anderwärts. Ich kann derlei sportiv kaschierten Massenaufmärschen mit ihrem nationalistischen Fahnen- und Hymnengedönse nichts abgewinnen, ebensowenig dem im Leistungssport hochgehaltenen "unbedingten Siegeswillen", wie er im "Schneller-Höher-Weiter" der Olympischen Bewegung programmatischen Ausdruck.findet. Im Übrigen haben Olympische Spiele noch nie einem anderen Interesse gedient als dem der jeweiligen Veranstalter, politisches und wirtschaftliches Kapital daraus zu schlagen.

Kritiker des Dalai Lamas geraten schnell in den Verdacht, Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung zu verteidigen. Verstehen Sie diese Befürchtungen?

Colin Goldner: Ich halte das für eine simple Strategie zur Abwehr berechtigter Kritik. Wer gegen den Dalai Lama und das von ihm vertretenen feudal-theokratische Herrschaftssystem des "alten Tibet" ist, muss nicht notwendigerweise für die chinesische Militärdiktatur sein. Allerdings: Was immer von den Chinesen nach 1959 an Falschem und seinerseits Unterdrückendem in Tibet eingeführt wurde, sie schafften Schuldverknechtung, Sklaverei und Leibeigenschaft ab, und damit die menschenunwürdigen Verhältnisse, unter denen die große Masse der Bevölkerung dahinvegetierte, ausgebeutet bis aufs Blut von einer alles beherrschenden Clique aus Adel und hohem Klerus.