Viel zu wenig Geld für das deutsche Bildungssystem

Studierende und Hochschullehrer fordern von den politischen Entscheidungsträgern Haushaltsumschichtungen zugunsten von Bildung und Wissenschaft. Pro Jahr sollen Zusatzinvestitionen von mindestens 2,7 Milliarden Euro ermöglicht werden.

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Jahrelang beschränkten sie sich auf gelegentliche Widerworte, wenn die eminent wichtigen, in Kommissionen berufenen Wissenschaftler und all die modernisierungsbewussten Bildungspolitiker unter dem Schlagwort „Hochschulreform“ neue Maßnahmen zusammenrührten. Doch jetzt wollen die Betroffenen endlich in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Ende letzter Woche gründeten neun Institutionen und Verbände die sogenannte Hochschulallianz. Mit vereinten Kräften soll eine „grundlegende Umstellung der Haushalts-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik von Bund und Ländern zugunsten von Bildung und Wissenschaft“ durchgesetzt werden.

Was ist Bildung dem Staat und der Gesellschaft in Deutschland eigentlich wert, fragt die Hochschulallianz und rührt damit an den Kern des Problems. Denn alle strittigen Themen der Hochschulpolitik – von der sozialen Auslese über Studiengebühren und Stipendien bis hin zu Hochschulpakt, steigenden Studentenzahlen und Spitzenuniversitäten – hängen unmittelbar mit Finanzierungsfragen zusammen, bei denen nur eines ganz sicher ist: ihre Antwort liegt irgendwo im Milliardenbereich.

Lückenhafte Finanzplanung

Diese abstrakte Größe hat längst praktische Folgen für die Studierenden, meint die Hochschulallianz und verweist auf die wichtigsten Kennzahlen der vergangenen Jahre. So beträgt das strukturelle Defizit an deutschen Hochschulen nach Berechnungen der Hochschulrektorenkonferenz in den Jahren 2007 bis 2020 durchschnittlich 2,3 Milliarden Euro pro Jahr.

Um vorausschauend zu sparen, wurden schon von 1995 bis 2005 rund 1.500 Professorenstellen abgebaut. Die Betreuungsrelation an deutschen Universitäten stagniert mit etwa 1:60 weit unter den internationalen Vergleichszahlen. Wer sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften eingeschrieben hat, darf unter Umständen mit bis zu 170 Kommilitonen um die Aufmerksamkeit eines Professors buhlen. In den Vereinigten Staaten erreichen die besten Hochschulen Quoten, die zwischen 1:7 und 1:15 liegen, aber auch an der ETH Zürich (1:36) ist man den Nachbarn um einige Schritte voraus.

Auch in anderen Bereich hat Deutschland den Anschluss verloren. So wird das „Lissabon-Ziel“, das ab 2010 die Investition von mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Ausgaben in Forschung und Entwicklung vorsieht (aktueller Stand: 2,54 Prozent) aller Voraussicht nach verfehlt und überdies nur unzureichend in den akademischen Nachwuchs investiert. Die OECD musste bereits 2006 feststellen, dass Deutschland für seine Studierenden 11.600 US-Dollar im Jahr ausgibt, während sich die Vereinigten Staaten auf gut 24.000 und die Schweizer sogar auf 25.900 US-Dollar vorgearbeitet haben.

Diese Zahlen sind umso problematischer, als Experten immer wieder darauf hinweisen, dass die Hochschulabsolventenquote hierzulande baldmöglichst auf 35, die Studienanfängerquote auf 40 und die Studienberechtigungsquote auf 50 Prozent eines Altersjahrgangs angehoben werden sollte.

Von einem Aufwärtstrend kann allerdings nirgends die Rede sein. Im Gegenteil, selbst der Anteil öffentlicher Zuschüsse an der Gesamtfinanzierung der Studentenwerke wurde zwischen 1992 und 2007 von damals 23,8 auf nun 11,9 Prozent gesenkt. Im Hochschulpakt 2020 ist von einem baldigen Ausbau der Studienorientierungs- und Beratungssysteme ebenso wenig die Rede wie von neuen Wohnplätzen für den erwarteten Anstieg der Studierendenzahlen. Das Deutsche Studentenwerk geht davon aus, dass schon für 90.000 zusätzliche Studierende rund 20.000 Wohnplätze geschaffen werden müssten. Allein dieses Finanzierungsvolumen läge bei geschätzten 400 Millionen Euro.

Halbherzige Beschlüsse

Die Hochschulallianz bestreitet keineswegs, dass in den vergangenen Jahren wichtige Reformschritte unternommen wurden. Allerdings sei die Exzellenzinitiative, die der Forschung zwischen 2006 und 2010 immerhin 1,9 Milliarden Euro beschert, weder der Verbesserung der Lehrbedingungen noch der maroden Infrastruktur der Hochschulen zugute gekommen. Auch der Hochschulpakt 2020 ändere trotz seines Volumens von gut einer Milliarde nichts an der strukturellen Unterfinanzierung, weil die Kosten für einen Studienplatz zu knapp bemessen seien und die Vereinbarung lediglich für vier Jahre gelte. Von dem doppelten Abiturjahrgang durch die G 8-Reform, der Mehrbelastung von etwa 20 Prozent durch die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge und dem Vorhaben 40 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen zu bringen, erwarten Kritiker eine weitere Verschärfung des ohnehin schon dramatischen Finanzierungsproblems.

Das Ergebnis sind in die Autonomie der eigenen Mittelkürzung entlassene Hochschulen, hochqualifizierte Professoren, die keine Zeit mehr zur Forschung haben, Nachwuchswissenschaftler, denen in Deutschland vielfach keine Perspektive geboten werden kann, Doktoranden, die in erheblichem Maße in der Lehre eingesetzt werden, sowie Studierende, denen die zum Erwerb einer Berufsqualifikation notwendigen Ressourcen vorenthalten werden und deren soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sich kontinuierlich verschlechtern.

Hochschulallianz

Konkrete Vorschläge

Die Bestandsaufnahme, die der Bundesverband Liberaler Hochschulgruppen, der Ring Christlich-Demokratischer Studenten, das Deutsche Studentenwerk, Thesis, die Bundesvertretung Akademischer Mittelbau, der Verband Hochschule und Wissenschaft, Hochschullehrerbund und Deutscher Hochschulverband Ende letzter Woche in Berlin vorstellten, ist keineswegs neu. Doch die Allianz will es nicht bei allgemeinen Vorwürfen bewenden lassen und auch nicht vorrangig die Bildungs- und Wissenschaftspolitiker ansprechen.

Sie fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Ministerpräsidenten und die Finanzminister im Bund und in den Ländern auf, „endlich in eine längst überfällige, ernste und leidenschaftliche Prioritätendebatte über die Staatsausgaben einzutreten“. 2,7 Milliarden Euro sollen pro Jahr zusätzlich in das deutsche Hochschulsystem fließen, und diese Summe muss andernorts eingespart werden. Die Hochschulallianz fragt deshalb:

Ist eine Sozialquote von 70 Cent pro eingenommenen Steuer-Euro, sind ein jährlicher Wehretat von nahezu 30 Mrd. Euro wichtiger und vorrangiger als die Bildung junger Menschen? Soll der Steinkohlebergbau zukünftig weiter mit rund 2,4 Mrd. Euro pro Jahr subventioniert werden? Ist es vertretbar, dass jährlich Millionen Euro in ausufernden bürokratischen Apparaten versanden? Oder ist es wichtig, in Bildung und Wissenschaft als unsere Zukunft zu investieren?

Hochschulallianz

Die Hochschulallianz will die Beantwortung dieser Fragen nicht mehr allein den Haushaltsausschüssen und Kabinetten überlassen, sondern im Rahmen einer öffentlichen Diskussion den „Vorrang von Bildung und Wissenschaft“ durchsetzen und in der Folge „eine entsprechende Umstellung der Haushalts-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik“ herbeiführen.

Machtfragen und Geldsorgen

Die Anstrengung der Hochschulallianz ist aller Ehren wert, denn die vorgetäuschte Prioritätensetzung der vergangenen Jahren hat zweifelsohne verhindert, dass auf dem Weg einer schonungslosen Bestandausnahme genaue Bedarfsgrößen ermittelt wurden und dann konkret über Finanzierungsmöglichkeiten diskutiert werden konnte. Mit dem Verweis auf die grundsätzliche Bereitschaft der Wirtschaft, irgendwann Stipendien in noch festzulegender Höhe bereitzustellen, oder der Ankündigung eines „Hochschulpakts 2020“, der nicht einmal bis 2012 durchgerechnet ist, sind Fortschritte sicher nicht zu erzielen.

Allerdings gehören die protestierenden Institutionen und Verbände kaum zu den Entscheidungsträgern der deutschen Hochschulpolitik. Ob ihre Vorstellungen in der öffentlichen Diskussion eine gewichtige Rolle spielen, wenn die Gründungsfanfare verklungen ist, hängt sicher entscheidend davon ab, wer sich der Allianz noch anschließt beziehungsweise ihre Forderungen unterstützt.

Natürliche Bündnispartner gäbe es reichlich, auch außerhalb der Fachhochschulen und Universitäten. Denn um die Situation an den Hochschulen zu verbessern, müsste in anderen Bildungsbereichen mit der großen Sanierung begonnen werden. Kitas, Kindergärten und Schulen hätten sicher ebenfalls nichts gegen „Haushaltsumschichtungen zugunsten von Bildung und Wissenschaft“ einzuwenden. Anders formuliert: Um das gesamte deutsche Bildungssystem wieder auf Vordermann zu bringen, würden 2,7 Milliarden Euro nicht einmal ausreichen.