Das vierte Element

In den Elektronik-Baukästen unserer Jugend fehlte ein wichtiges Teil: der Memristor

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Achte Klasse, Gymnasium: Im Physikunterricht finden die ersten traumatischen oder begeisternden Begegnungen mit Elektronik statt. Für manche erweisen sich Widerstände als genau dies - andere freuen sich, dass bei deren Parallelschaltung endlich einmal etwas mehr gerechnet werden darf. Es folgen Kondensator und Spule - und damit alle wesentlichen passiven elektronischen Elemente.

Alle? Nein, schon 1971 fiel dem Physiker Leon Chua auf, dass in den schönen Gleichungen, die Strom, Spannung, Ladung und magnetischen Fluss miteinander verbinden, noch etwas versteckt sein müsste: Ein viertes Element, das Chua „Memristor“ nannte. „Gedächtniswiderstand“ könnte man das Bauteil in deutscher Sprache nennen - in Gedenken an all die Schüler, deren Gedächtnis den sechs Grundgleichungen widerstanden hat. Alle anderen können sie jetzt sicher hier gemeinsam aufsagen.

Das Bild zeigt die Kreuzschienenstruktur von Memristoren; die einzelnen Drähte sind 30 Nanometer breit. Zwischen jedem der sich kreuzenden Drähte befindet sich in dieser Struktur ein Memristor (Bild: Dmitri Strukov)

Und wenn ein genauerer Blick gestattet ist, werden sie auch Chuas Logik nachvollziehen können: Während zwei der Gleichungen aus der Definition der Größen beziehungsweise dem Induktionsgesetz abzuleiten sind, beschreiben drei weitere die physikalischen Größen Widerstand, Kapazität und Induktivität. Bleibt eine Gleichung übrig, die die Veränderung des magnetischen Flusses in Abhängigkeit von der Ladung beschreibt - und als zugehöriges Bauteil eben den Memristor benötigt.

Dessen besondere Eigenschaften offenbaren sich allerdings erst in der nichtlinearen Variante - linear bleibt vom Memristor ein simpler Widerstand übrig. Unter einer Wechselspannung ergibt sich für den Memristor allerdings eine derart interessante Strom-Spannungs-Kennlinie, dass sich diese mit keiner Kombination von Widerständen, Spulen und Kondensatoren nachahmen lässt. Sie hat die Form einer frequenzabhängigen Lissajous-Figur.

Da sich die spannendsten Eigenschaften elektronischer Elemente immer erst im nichtlinearen Bereich ergeben, erhoffen sich die Forscher vom Memristor ganz neue Einsatzmöglichkeiten, etwa als in extrem hohen Packungsdichten einsetzbarer Schalter. Klar, dass auch schon wieder das Mooresche Gesetz davon profitieren könnte: Memristoren könnten Transistor-Funktionen ersetzen, dabei aber womöglich bei kleineren Strukturgrößen.

Dass man, obwohl es den Memristor bisher nicht als Bauteil gab, trotzdem vergleichsweise viel darüber weiß, liegt daran, dass man seine Eigenschaften bisher einfach mithilfe aktiver Bauelemente nachgeahmt hat. Dieser Umweg ist nun nicht mehr nötig: Im Wissenschaftsmagazin Nature beschreiben Forscher der HP Labs, wie ihnen die Konstruktion realer Memristoren gelungen ist. Der Trick besteht darin, in die Nanodimension abzutauchen.

Dort erscheint das Memristor-Phänomen offenbar auf ganz natürlich Weise, sobald der Ladungstransport durch Elektronen und Ionen sich in ähnlicher Form über eine externe Spannung steuern lässt. Das System, das die Forscher konstruiert haben, besteht aus einer Platin-Titanoxid-Platin-Zelle. Ob der Memristor der Elektronik tatsächlich neue Durchbrüche erlaubt, wird man sehen. Im Unterschied zum Transistor arbeiten Memristor-Schalter nicht auch als Verstärker, wichtig wäre deshalb zum Beispiel ein hoher Widerstands-Unterschied zwischen Ein- und Aus-Zustand.