Reformgeist in die Flasche

Die palästinensische ist eine der offensten unter den arabischen Gesellschaften - doch der Westen weiß dies nicht zu nutzen

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In diagonalem Gegensatz zu den von den arabischen Eliten beherrschten Staaten ist ausgerechnet in dem politisch zermürbten und wirtschaftlich gelähmten Palästina der größte Spielraum für politische Reformen vorzufinden.

Die Bemühungen begannen 1996, als eine Reihe palästinensischer Politiker und Intellektueller der raffsüchtigen Embryonenstaatlichkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) überdrüssig wurde und auf mehr Rechtsstaatlichkeit und finanzielle Transparenz drängte.

Doch ohne Rückenwind von der „internationalen Gemeinschaft“ funktioniert in dem Land, dem die Selbstbestimmung verweigert ist, nun einmal nichts. Erst 2002 gaben die USA und die EU mit verblüffender Entschiedenheit grünes Licht für die Errichtung einer effizienten Verwaltung und einer Verfassungsreform.

Einzigartige Reformbereitschaft in der arabischen Welt

Nur vier Jahre später zeitigten die Bemühungen ihren größten Erfolg: Mit internationaler Hilfe beaufsichtigte ein zentrales Wahlkomitee nationale Wahlen, die erstmals in der Geschichte des Nahen Ostens einen offenen Ausgang hatten. Und tatsächlich – auch dies ein historisches Novum - gewann die Oppositionspartei. Obendrein sprach sich die Hamas nach ihrem Wahlsieg als erste Regierungspartei in der arabischen Welt für die Wahrung demokratischer Prozeduren, die Herrschaft des Gesetzes und für Verfassungstreue aus. Soviel demokratisches Gedankengut wurde dem Westen offensichtlich zuviel, zumal er es nie angestrebt hatte. Getreu dem Motto „Friede jetzt, Demokratie später“ zielte seine Hilfe auf die verwaltungstechnische Stabilisierung der inneren Sicherheit ab, ohne einzukalkulieren, dass gerade mehr Demokratie zu weniger Gewalt und Konflikten verhelfen könnte.

Das fundamentale Problem des palästinensischen Reformprozesses wurde so deutlich: Er war nicht als Prozess für sich, sondern als Instrument für verschiedene Ziele gedacht. Deren oberstes lautete „Sicherheit“. Und so versuchte man, die Palästinenser zu dem zurückzutreiben, was sie mehrheitlich abgewählt hatten: zum Selbstbedienungsladen der korrupten Fatah, der das Volk zwar ruiniert, aber dem Westen eben „sicherer“ erscheint. Bereits in der Zeit unter dem omnipotent waltenden Yassir Arafat, der nicht allein PA-Präsident, sondern auch Fatah-Führer und PLO-Vorsitzender war und der den enorm profitträchtigen Import vieler Basisgüter kontrollierte, waren „Staatssicherheitsgerichte“ an der Tagesordnung, in denen unnachgiebig abgeurteilt wurde – mitunter mitten in der Nacht. Al Gore, damaliger US-Vizepräsident, unterstützte diese Gerichte.

Und kaum etwas verdeutlicht die Heuchelei des Westens mehr als die Missachtung der selbst angefeuerten Verfassungsreform von 2003: als der palästinensische Präsident Mahmud Abbas im Dezember 2006 mit der Auflösung des gewählten Parlaments drohte, stellte dies eine grobe Verletzung der Reform - die seinerzeit zu seiner Ernennung zum Premier geführt hatte - dar. Die USA boten ihm zusätzlich Waffen an, um seinen Willen durchzusetzen.

Town-Square-Test beinahe bestanden

Der weitere Verlauf ist bekannt: Hamas und Fatah, die die Macht auch nach den Wahlen nicht abgeben wollte und darin vom Westen unterstützt wird, liefern sich blutige Kämpfe. Dank Sanktionen liegt die Wirtschaft am Boden. Gerade der Gaza bewegt sich dauerhaft am Rand einer humanitären Krise. Dass in dieser aussichtslosen Lage die palästinensische Zivilgesellschaft nicht gedeihen kann, liegt auf der Hand. Dabei verfügt gerade sie über enormes Potential. Wie Nathan J. Brown vom Carnegie Endowment for International Peace in dem jüngst erschienen Buch „Beyond the Facade“ schreibt, bestand bereits unter Arafat eine bemerkenswerte intellektuelle Offenheit und Redefreiheit.

Zwar seien Kritiker bedroht, verfolgt und eingesperrt worden, doch sei dies nicht immer und nicht immer mit der gleichen Härte geschehen. Zudem seien die Palästinenser ohnedies daran gewöhnt, sich Autoritarismus, gleich welcher Form, zu widersetzen. Infolge sei eine Kritik möglich geblieben, etwa so wie sie Marwan Barghouti, ein wichtiger Fatah-Führer 1989 öffentlich übte: Im Schatten von Arafats Herrschaft sei jegliche Demokratie aussichtslos. Brown verweist sogar auf den viel zitierten „Town Square“-Test des früheren sowjetischen Dissidenten und heutigen israelischen Intellektuellen Nathan Sharansky. Demzufolge drückt sich eine freie Gesellschaft dadurch aus, dass eine Person in der Mitte eines Platzes ihre Meinung angstfrei äußern könne. Palästina, so Brown, sei näher an dieser Definition als jede andere arabische Gesellschaft (mit Ausnahme der libanesischen, wie man hinzufügen könnte).

Auch heute noch kann die palästinensische Politikerin Amal Chreische offen in der Wochenzeitung Zürich ihr Misstrauen gegenüber der Hamas aussprechen. Auf die Frage ob sie als Frau und Säkulare der Partei traue, antwortet Chreische ungeniert: „Natürlich nicht“. „Die Hamas glaubt nicht an Gleichheit, sondern an die ergänzende Rolle von Mann und Frau nach Vorgabe des Schöpfers - von Gott.“

Hamas: Zwischen den Zeilen lesen

Welcher arabische Diktator ließe sich in der internationalen Presse derart in Frage stellen? Doch nicht allein das ist an Chreisches Aussage bemerkenswert. Sie lenkt auch den Blick auf die Janusköpfigkeit der Hamas. Zwar gleicht ihr Frauenbild zweifellos nicht dem westlichen, doch zwingt sie Frauen nicht das Kopftuch auf und auch Anblicke wie diese sind im Gaza zu finden, wie Journalistin Wendy Kristianasen schreibt:

Die Happy Few von Gazas neureicher Elite, die auf der Terrasse des Al-Deira-Hotels sitzen und aufs Meer blicken. Und die gestylten Mädchen in ihren Hidschabs, die zu arabischer Musik und den Explosionen israelischer Granaten ihre Wasserpfeife rauchen.

Das Argument, die Hamas strebe zwar den Rückschritt ins finstere Mittelalter (möglicherweise auch gewaltsam) an, vollziehe ihn aber nicht, weil sie ohnedies nur eine Papier-Regierung stellt, ist auf einem Auge blind: tatsächlich genießt die als nicht-korrupt und der nationalen Frage genuin verpflichtet geltende Partei in der Bevölkerung weit mehr Einfluss als säkulare NGO’s. Das bestätigt auch die säkulare Parlamentsabgeordnete Khaleda Jarra:

Das Problem mit den säkularen Aktivisten ist, dass unsere Organisationen von oben herab mit den Frauen reden, über Workshops und Ausbildungsseminare. Anders als die Hamas haben wir keine organische Beziehung zu den einfachen Leuten. Über die Hälfte der Menschen, die für die Hamas gestimmt haben, waren Frauen. Und ihre weiblichen Mitglieder spielten im Wahlkampf eine große Rolle, allein schon dadurch, dass sie zu den Leuten nach Hause gegangen sind. Männer hätten das nicht tun können.

Kopftuch erwünscht, aber nicht erzwungen

Als Beispiel dafür, dass auch die Frauen, die nicht ins islamistische Klischee passen, toleriert werden führt Kristianasen die heute 51-jährige Jamila Shanty an, eine von drei Frauen, die für die Hamas im Palästinensischen Legislativrat (PLC) für den Gaza-Streifen sitzen. Sie sei mit ihrer akademischen Karriere zu beschäftigt gewesen, um auf Bräutigamschau zu gehen:

Wir Frauen sollten unter dem schützenden Dach des Islam bleiben, aber wir sollten auch rausgehen, um zu arbeiten und selbst politisch werden. Vor zehn Jahren wäre so etwas hier in Gaza nicht möglich gewesen. Jetzt ist es möglich, und das liegt an der Hamas.

Sicher, Shanty würde von der Hamas kaum gefördert, wenn sie die Religion nicht als ihr schützendes Dach erleben würde – doch auch hierzulande setzen christliche Parteien bei ihren Repräsentanten die Identifikation mit ihrem Leitbild voraus.

Es geht nicht darum, die Hamas auf einen Sockel zu hieven, aber eben auch nicht darum, sie zu dämonisieren. Ihr Weltbild ist definitiv konservativ, doch setzt sie es nicht gewaltsam um, womit sie ebensoviel Pragmatismus beweist wie in ihrem Wahlkampfprogramm von 2006, das überwiegend die gleichen Reformen fordert, wie es nicht-islamische Bewegungen seit zehn Jahren tun. Die Fatah andererseits mag aufgeschlossener sein (wobei das nicht das Vorzugskriterium des Westens ist, der gegen die „radikal-islamistische“ Sittenpolizei Saudi-Arabiens keine Einwände hat) - aber durch und durch korrupt wurde sie nun einmal vom Volk abgewählt.

Der Westen schiebt dies beiseite und arbeitet so de facto gegen Demokratie und Zivilgesellschaft in Palästina. Der Erfolg dürfte ihm sicher sein, denn darin sind sich alle kritischen Beobachter einig: Nach der Hamas kommt Al-Qaida Nummer zwei.