Wie klingt der Beton im Keller von Amstetten?

Böse, scharf und präzise: Elfriede Jelinek zu den "vielen Nischen und Gängen" des österreichischen Verlieses

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Es gäbe keinen Fall Österreich, sagt Bundeskanzler Gusenbauer, und der muss es ja wissen. Schließlich ist EM im Land, das Image bedroht, und da muss man halt Prioritäten setzen. "Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält", zitiert Elfriede Jelinek wiederum reimend und präzisiert scharf: "Im noch viel kleineren Kellerverlies von Amstetten findet die Aufführung statt, täglich, nächtlich." Das ist der Anfang eines Textes unter dem Titel "Im Verlassenen", den Jelinek jetzt auf ihrer Website veröffentlicht hat. Es ist die bisher klügste Auseinandersetzung mit den Vorgängen von Amstetten und läutet das Ende der Sprachlosigkeit des zivilisierten Teils von Österreich ein.

Die erste Medienwelle ist verebbt, der Boulevard lechzt nach neuen Nachrichten, die für seinen Durst viel zu spärlich fließen. Nun beginnt das Nachdenken, die Reflexion und Überprüfung des spontanen emotionalen Eindrucks, dass "Amstetten" und die Verbrechen des Josef F. jenseits des Einzelfalls auch die Dimension eines für Österreich emblematischen Verbrechens haben.

Kunst und Geist haben recht. Und Kunst und Intellektuelle wissen mehr und ahnen mehr als der Rest der Gesellschaft - auch, wenn diese das nicht wahrhaben will. Die Bücher von Bernhard, Jelinek und Streeruwitz, die Filme von Haneke, Hausner und Seidl - sie scheinen viel von dem vorweggenommen und geahnt zu haben, was die Öffentlichkeit über Amstetten erfuhr. Wirklich gewordene Phantasien. Nun wieder macht die Phantasie etwas mit der Wirklichkeit.

Katholizismus, Nationalsozialismus, Patriarchat

"Im Verlassenen" ist der Titel jenes Textes, den Elfriede Jelinek, Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin, jetzt auf ihrer Website veröffentlicht hat. Und wer sonst, wenn nicht die Jelinek, hätte das tun können? Einmal mehr erweist sie ihr Talent, die Gegenwart zu lesen, kühl, ohne die Gesten sentimentaler Empörungsrhetorik, dafür mit scharfem, bösem, präzisem Blick.

Es ist ein Stakkato-Bewußtseinsstrom, der dort über vier Seiten zu lesen ist, eine Art innerer Monolog, aber vielstimmig, im einem "Wir" gehalten, das zugleich ein nationales, dubioses Kleinbürgerkollektiv ist wie auch der Pluralis Majestatis eines Täters, der Mann, Vater, Großvater, Gottvater ist. Jelinek spricht von einer heiligen Dreifaltigkeit und stellt jenen Zusammenhang aus Katholizismus und Nationalsozialismus und Patriarchat wieder her, an dem sich einst die Texte des Thomas Bernhard wundgerieben haben.

Der Fall Amstetten ist Wasser auf die Mühlen Jelineks, weil sich in ihm all die Themen ihres Werks - Österreich, Weiblichkeit, Patriarchat, Macht, Lüge, Todsünden - zusammenfügen, weil sich hier all das Provinzielle und Bizarre und Grauenvolle bündelt und fokussieren lässt, das das Bild Österreichs schon immer verfärbt hat. Die Tonlage der Autorin ist voller Hohn und schwarzem Humor - soweit das angesichts der Ereignisse möglich ist. Jelinek malt sich das Leben im Verborgenen, "im Verlassenen" des Kellerverlieses, aus, das Gießen des Betonpfropfs, das Auswählen der Kachelfarbe, Austauschen der Fernbedienungsbatterien, Geburtsschreie und Sex-Gestöhne, etc. Und das Opfer der einzigen Kellertochter/Enkelin zur Befreiung der Mutter/Schwester.

Sie weist auch darauf hin, dass der Täter die Räume der Kellerwohnung kunstlos, aber "nach dem Muster der Frau" gebaut hat, dem weiblichen Körper nachgebaut, "mit vielen Nischen und Gängen", als geheimer Tempel für die Gier des Vaters.

Höllenqualphantasien

In Josef F., den das Boulevard längst verniedlichend und dabei dämonisierend "den Fritzl" getauft hat, kommt die männliche Macht idealtypisch - als uneingeschränkte - zu sich selbst, bündelt sich mit dem Unverdrängten, in den mentalen Keller abgeschobenen Erbe der nicht vollzogenen Entnazifizierung Österreichs, zu einem autoritären Charakter vom Reißbrett, einem Mann, der die Tyrannei lebt.

Hier gilt das Wort das Vaters, der sogar schon Großvater ist, nichts besonderes, es gibt Väter und Großväter sogar in einer Person, es gibt ja auch die hl. Dreifaltigkeit, einen in drei Personen, hier haben wir einen Gottvater, der alle Personen ist und alles Sprechen (mit Ausnahme des Fernsehapparats und des Radios, welche unten gestattet waren) erledigt.

Das Land der Lüge

Fast parallel dazu hat Jelinek, gezeichnet mit dem 24.4.08, ihren Internetroman "Neid" fertig gestellt und veröffentlicht, der tagebuchartig auf über 900 Seiten all diese Themen vertieft, zum Teil den Fall Natascha Kampusch aufgreift und Amstetten – zu finden auf der Webseite der Schriftstellerin. Diejenigen, die allzu weite Schlüsse und Werkdeutungen gern ablehnen, muss man wohl darauf hinweisen, dass "Neid" aus katholischer Sicht eine Todsünde ist. Und das Werk Jelineks dreht sich genau um diese sieben Todsünden. So ist dies nach "Lust" und "Gier" das dritte Buch, das eine von ihnen zum Titel hat. Am Ende des Textes steht auch nicht zufällig ein Teil des Todsünden-Bildes des Hieronymus Bosch, dessen Höllenqualphantasien jetzt im Keller von Amstetten Wirklichkeit wurden. Die Kunst und auch die Kritik sind eben klüger als manche Konsumenten.

Was jetzt um so mehr aussteht, ist ein Jelinek-Roman über die Lüge. Denn sie bildet, wie auch Jelinek zeigt, den eigentlichen Subtext von Amstetten. Die Österreicher leben schon lange mit der Lüge, sie kultivieren die Lüge (worauf Thomas Bernhard unermüdlich hingewiesen hat) - aber elegant soll sie schon sein, bittschön. Und etwas uneleganter als der Herrenreiter Kurt Waldheim oder der fesche Jörg Haider war der Fritzl halt schon.