War der Mai 68 ein Modernisierungsschub?

Frankreich schwelgt in der Deutung des historischen Ereignisses

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Man kann ein Thema totschweigen, oder es zumindest versuchen. Aber im Zeitalter des Internet ist es schwierig, alle Informationen zu einem gegebenen Thema zu unterdrücken oder die Leute am Zugang zu ihnen zu hindern. Man kann ein Thema jedoch genauso gut auch tot reden, es unter einer Flut von Informationen und Veröffentlichungen begraben oder die Reflexion durch eine kaum zu bewältigende Masse an Bildern und Eindrücken behindern. Genau dies passiert im Augenblick mit der Erinnerung an ein historisches Ereignis, das sich in diesem Monat zum 40. Mal jährt.

In der Massenmedienwelt hat sich in den letzten Monaten ein Blickwinkel auf die Ereignisse des französischen Mai 68 - Studentenrevolte plus folgender Generalstreik - fast vollständig durchgesetzt, der das Geschehen einerseits als eine Art „Riesenfete“ oder ein faszinierendes Feuerwerk abfeiert, es andererseits aber jeglichen kritischen Inhalts beraubt. Die Zielsetzungen der Teilnehmer an den Ereignissen werden, in einer Rückwärtsprojektion, auf eine „Modernisierungsleistung“, einen „Erneuerungsschub“ am bestehenden Gesellschaftssystem, reduziert.

So fingen die Fortsetzungsserien, etwa in der Tageszeitung Libération, zur 40. Wiederkehr der Ereignisdaten zum Teil schon im Februar an. Und in den letzten Wochen hat dieses Herangehen an den Mai 1968 die Stadt Paris auch optisch geprägt: Anfang Mai etwa hatte ein Buchladen in Steinwurfweite von der Pariser Oper, in einer wahnwitzig teuren und bourgeois geprägten Wohngegend, sein gesamtes riesiges Schaufenster ausschließlich mit Werken zum Mai 1968 ausstaffiert. Ähnliches lässt sich in manch anderen Büchershops beobachten. Allein 80 Bücher sind in den letzten Wochen zum Thema erschienen. Fast keine Foto- oder Musikzeitschrift, die nicht seit Ende April ihre Titelseite den Maiereignissen vor 40 Jahren gewidmet hätte.

Vollends absurd wurde es, als das neoliberal-bunte Wochenmagazin Challenges, das vor allem Wirtschaftsthemen behandelt, seine Mai-Ausgabe mit der Schlagzeile aufmachte: „Ihr Mai 1968 - ‚Ich erinnere mich’“. In der aufwändig präsentierten Story kommen Führungskräfte wie der sterbenslangweilige wirtschaftsliberale Ideologe Alain Minc, der konservative Sozialpolitiker und Sarkozy-Berater Raymond Soubie oder der frühere Bankenpräsident Jean Peyrelevade zu Wort, neben ihnen auch die CGT-Gewerkschaftssekretärin Maryse Dumas. Nicht alle, aber so manche von ihnen waren damals „Rebellen“. Heute ist das in aller Regel weniger der Fall.

Challenges zieht unterdessen einen gewagten Vergleich: Im Mai 1968 habe Frankreich eine verkrustete konservative Sozialstruktur aufgewiesen (was tatsächlich zutrifft) - und heutzutage sei dies wieder der Fall, da Frankreich den neoliberalen „Reformen“ gegenüber ängstlich verschlossen bleibe. Und das Blatt zitiert den, längst vom Anarchisten zum bürgerlichen Konformisten gewandelten Daniel Cohn-Bendit, der in eine ähnliche Richtung denkt:

Was heute noch aktuell bleibt, das ist die Allergie der französischen Gesellschaft gegenüber Veränderungen. Nach 40 Jahren haben wir noch immer nicht den Schlüssel zur Modernisierung der französischen Politik gefunden.

An anderer Stelle, etwa in seinem am 3. April dieses Jahres in Frankreich publizierten Buch "Forget 68", hatte Cohn-Bendit allerdings dafür plädiert, dass heute - anders als damals - kein Rebellentum mehr vonnöten sei, da inzwischen „unsere Ideen doch gewonnen“ hätten. Cohn-Bendit wählt als Beispiel für den Siegeszug der revolutionären Ideale von einst eine Begebenheit, die sich im Stadtrat von Frankfurt/Main zutrug, zu Zeiten, als er selbst dort in den frühen 90er Jahren als Multikultur-Dezernent amtierte. In einer Debatte rief ein CDU-Mann („katholisch, gläubig, sehr nett“) ihm zu, das Problem sei aber doch der Islam, „weil der die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, und damit die Basis unserer Demokratie, nicht akzeptiert“. Cohn-Bendit sieht sich dadurch vom vermeintlichen politischen Gegner darin bestätigt, dass „68 gesiegt“ habe, denn in den sechziger Jahren sei die Gleichberechtigung der Frauen etwa in Frankreich noch nicht so hoch gehängt worden. Konformistischer lie? sich die aktuelle Situation wirklich nicht deuten.

Le Monde konstatiert in einem Leitartikel vom 26. April: Das Anti-68-Denken erschöpft sich. Die Kritik von rechts am damaligen „Kulturbruch“ ist zwar eigentlich inzwischen - zumindest theoretisch - in der französischen Politik an der Macht. Denn der Inhaber des höchsten Staatsamts, Nicolas Sarkozy, hatte am 29. April 2007 auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs bei einer Großveranstaltung lautstark gefordert, endgültig „das Erbe des Mai 1968 zu liquidieren“, ihm den Garaus zu machen. Er habe die Arbeitsmoral im Lande verdorben und dadurch die Grundlagen der Gesellschaft unterminiert, er habe „glauben machen wollen, dass der Schüler genauso viel zählt wie der Lehrer“ und deswegen nichts mehr zu leisten brauche, er habe alle Autoritäten angegriffen. Aber in der derzeitigen Phase der Erinnerung an „40 Jahre danach“, in deren Verlauf sich Sarkozy bisher nicht (mehr) öffentlich zum Thema geäußert hat, überwiegt auch auf der politischen Rechten eher ein anderer Standpunkt.

Ohne 68 hätte Sarkozy nicht Präsident werden können

Der Generalsekretär von Nicolas Sarkozys Regierungspartei UMP, Patrick Devedijan, etwa gibt die derzeit zumindest in den Medien vorherrschende Position wieder, wenn auch er betont: „Der Mai 68 hat den Eintritt Frankreichs in die Modernität bezeichnet.“ Wobei der Mann lediglich vergisst hinzufügen, dass er damals noch irgendwo anders stand als die (angeblichen) „Modernisierer“: Devedjian gehörte seiner Zeit zu der rechtsextremen Schlägertruppe "Occident", die im Juni 1968 nach einigen Zwischenfällen verboten wurde.

Die revanchistische Rhetorik der notorischen Nörgler gegen alles, was mit der Chiffre „1968“ verbunden wird, aus dem konservativen Lager erweist sich im Moment in der Sache als saft- und kraftlos. Denn zumindest an einem Punkt geben die meisten Beobachter einer Anmerkung recht, die - unabhängig voneinander - sowohl Cohn-Bendit in seinen Tiraden in Buchform, als auch die linksliberale Wochenzeitung Charlie Hebdo (in einer Story unter dem Titel „Was wäre Sarkozy ohne 1968?“) und der zu den Unterstützern Nicolas Sarkozy übergelaufene Schriftsteller André Glucksmann tätigten. Alle wiesen nämlich darauf hin, dass es „vor 68“ schlichtweg nicht denkbar gewesen wäre, dass ein doppelt geschiedener und zum dritten Mal verheirateter Staatspräsident - wie Nicolas Sarkozy es nun einmal ist - amtieren hätte können.

Tatsächlich herrschte im Schatten von „Tante Yvonne“, Charles de Gaulles prüder und bigotter Präsidentengattin, eine äußerst drückende Sexualmoral. Bis im Dezember 1967 (und seit 1919) waren noch alle Verhütungsmittel in Frankreich gesetzlich verboten. Der Umbruch rund um die Systemkrise vom Mai 68 hat solcherlei Veränderungen sicherlich beschleunigt und unterstützt - die letzten Ausführungsdekrete zur "Loi Neuwirth", also jenem Gesetz, das die Verhütung freigab, wurden Ende 1972 verabschiedet.

Aber sollte das wirklich alles gewesen sein, was die gesellschaftliche Schlagkraft des Mai 1968 und die Zielsetzungen der daran (aktiv) Beteiligten betrifft? Ein Zweifel sei, trotz eines sich rund um die Betonung solcher Dimensionen herausschälenden neuen Konsens, doch erlaubt. Ihn teilen aber auch viele Franzosen. So veröffentlichte die KP-nahe Tageszeitung L’Humanité am 13. Mai eine interessante Umfrage. Die Zeitung tut ihrerseits heute so, als habe die hinter ihr stehende Partei die damalige Bewegung vollauf unterstützt - während sie in Wirklichkeit darum bemüht war, sie tunlichst abzuwürgen. Auch unter dem Druck der sowjetischen Botschaft in Paris, die lieber den „Anhänger einer neutralen nationalen Außenpolitik“ de Gaulle als die „pro-atlantische“ französische Sozialdemokratie in Paris am Ruder sehen und also keine Regierungskrise riskieren wollte – diese und andere Hintergründe wurden freilich jüngst bei einer Versammlung der Lesergesellschaft "Les Amis de l’Humanité" in Anwesenheit von Zeitzeugen aufgerollt und durchaus kritisch diskutiert.

Aber die Ergebnisse ihrer Umfrage sind insofern interessiert, als ihr zufolge 78 Prozent der Befragten die Periode rund um den Mai 1968 als eine „Zeit des sozialen Fortschritts“ betrachten. 65 % sehen demnach in den damaligen Ereignissen sowohl den Generalstreik als auch die „Studentenrevolte“ als bedeutsamste Ereignisse an (18 Prozent nennen nur den Massenstreik, 11 % allein die Studentenbewegung). Und immerhin 62 Prozent geben eine bejahende Antwort auf die Frage, „ob eine soziale Bewegung vom Ausmaß des Mai 68 sich heute in Frankreich ereignen könnte“.