Vier Wände zum Heimisch Werden

Der historische und gesellschaftspolitische Kontext des Bauhaus Award "Wohnungsnöte"

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Dass Alexander Mitscherlich die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ anprangerte, ist gemeinhin bekannt. Dass er unserer Gesellschaft auch einen „Wohnfetischismus“ attestierte, weniger. Gemeint hat er damit ein Verhalten, das zuerst auf "Sauberkeit und Ordnung" und erst dann auf die Bedürfnisse der Menschen und ihre Beziehungen zueinander ausgerichtet ist. Und das schätzte er als Hindernis für ein bedürfnisgerechtes Wohnen fast ebenso hoch ein wie die Sterilität mancher Großsiedlung.

Wobei das mit den Wohnbedürfnissen so eine Sache ist. Nicht nur ausreichend groß, bezahlbar und kommod, auch flexibel soll es sein, das eigene Heim. Sich in stärkerem Maße an sich verändernde Lebenssituationen anzupassen, ist als Desiderat seit langem erkannt und benannt. Die nicht determinierten Räume von Gründerzeitwohnungen mit ihren mehrfachen Erschließungen bieten hier fraglos mehr als die – auf die vermeintlichen Gebrauchsmuster der Kleinfamilie abzielenden – Grundrisse des modernen Wohnungsbaus. Auch die Popularität, der sich Lofts bei einem bestimmten, meist freiberuflichem Klientel erfreuen, spricht diesbezüglich Bände. Trotzdem muss man konstatieren, dass sich im Wohnungsbau fast nur im gehobenen Marktsegment etwas bewegt – und dann zumeist im Service-Bereich mit Doorman- oder in Boarding-House-Konzepten.

In dem Maße jedoch, wie "Prekarisierung" als Stichwort zur Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Deutschlands dient, stellt sich heute die Frage, wie sich das Wohnen für jene gestaltet, die am Rande des Existenzminimums leben. Wenn nun mit dem Bauhaus Award (Wohnungsnöte) auf aktuelle „Wohnungsnöte“ reagiert wird, dann ist damit implizit auch das (Selbst)Verständnis einer zeitgemässen ‚Normalität’ im Wohnungsbau angesprochen.

Zur Geschichte der Wohnungsfrage

Um das zu veranschaulichen, ist ein Blick in die Geschichte vonnöten: Seit dem Vormärz verdichtete sich die „Wohnungsfrage“ mehr und mehr zu einem Themenfeld der Politik, und zugleich kristallisierte sich die Tendenz heraus, Wohnungs- als Familienpolitik zu verstehen und zu betreiben. Andererseits löste man sich auch nach der Einführung der Gewerbefreiheit in Teilen des Handwerks und außerhalb der großen Städte nur zögernd von der sozial immer problematischer werdenden Identität von Arbeits- und Wohngemeinschaft unter patriarchalischer Aufsicht, dem sogenannten „Logiswesen“. Nur mählich, prozesshaft, mit vielschichtiger Überlagerung gingen (und gehen) solche Veränderungen vonstatten, die (auch) verhaltens- und mentalitätsbedingt sind. Teils nebeneinander laufend, teils ineinander verknäult, mussten sich viele unterschiedliche Fäden und Fallstricke erst zu einem Themenstrang zusammenfinden.

Während die Genossenschaftsbewegung verstärkt auf Selbsthilfe bei der Wohnungsvorsorge setzte, baute die sich in den 1870er Jahren organisatorisch verfestigende Sozialhygienebewegung vornehmlich auf staatliche und kommunale Instrumente. Eine ihrer wichtigsten Grundlagen war, dass der Boden der Städte gesäubert werden müsse, um das Aufsteigen gefährlicher „miasmatischer“ Dünste zu verhindern. Dennoch dauerte es, bis man Wohnungen als verhaltensprägendes Milieu identifizierte und daraus die Folgerung zog, sie müssen angemessen groß und gut ausgestattet sein. Gleichwohl war am Ende des 19. Jahrhunderts die „Wohnungsfrage“ – als sozialpolitisches Problem – nach wie vor virulent.

Beginnend mit dem belgischen "Gesetz über die Arbeiterwohnungen" (1889) über das spanische "Gesetz über Billigwohnungen" (1911) bis zum deutschen "Wohnungsgesetz" (1918) zeigt sich in ganz Europa eine annähernd gleichgerichtete Zielformulierung. Sie waren ein Versuch, viele bis dahin weit gestreute Maßnahmen für die Volkswohnungsversorgung zu vereinen und zu verstärken. Doch die baulichen Rahmen, innerhalb derer das tatsächliche Leben verortet wurde, gerieten mitunter zu seltsamen Zwitterwesen, irgendwo zwischen sozialem Ausgleich und höchstmöglicher Rendite pendelnd.

Sogar die prominente „Margarethenhöhe“ in Essen lässt sich so lesen: Die Kruppsche Siedlung steht einerseits im Einflussbereich der aufziehenden, reformerischen Gartenstadtbewegung, gehorcht aber andererseits den paternalistischen Vorstellungen des Werkwohnungsbaus, dessen Gesamtarrangement ein, wie es der Historiker Clemens Zimmermann formuliert, „dem Arbeiter zugedachtes Gefühl von Ruhe und Überschaubarkeit bewirkt“. Das Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen war seither prägend für einen Wohnungsbau, der vielerorts als sozialpolitische Herausforderung gesehen wurde und zudem im Urbanisierungsprozess eine zentrale Rolle spielte.

In Europa war dies durchaus nicht ergebnislos; global gesehen blieben die „Wohnungsnöte“ jedoch ein so gravierendes wie ungelöstes Problem. Doch erst 1976 luden die Vereinten Nationen zur ersten Weltsiedlungskonferenz ein. Zwar fand die Deklaration von Vancouver recht deutliche Worte:

Wir erkennen, dass die Probleme menschlichen Wohnens nicht isoliert von der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Länder und im Zusammenhang mit bestehenden ungerechten, internationalen Beziehungen zu sehen sind.

Aber in der Praxis führte dies nicht zu nennenswerten Reaktionen. Erst die HABITAT-Konferenz 1996 (in Istanbul) sowie URBAN 21 (im Sommer 2000 in Berlin) bewirkten einen gewissen Bewusstseinwandel bezüglich des weltweiten Wohnungsproblems: Bestand zuvor die gängige Einstellung darin, strikte slum-clearence zu betreiben (was auf gewaltsame Beseitigung von Slums oder Squattersiedlungen und die rücksichtslose Vertreibung ihrer Bewohner hinauslief), so gilt es heute, eine ausgewogene Antwort auf die Frage „qualitatives Minimum versus quantitative Herausforderung“ zu formulieren.

Strategien der Verbesserung

Idealtypisch liegt den Programmen die Absicht zugrunde, sich an der realen Kaufkraft der Zielgruppe zu orientieren sowie die Wohn- und Infrastrukturstandards ohne hohen technologischen Aufwand zu verbessern. Zur Verwirklichung solcher Zielsetzungen wurden von Weltbank und Entwicklungshilfeinstitutionen vornehmlich sites-and-services- oder upgrading-Projekte initiiert. Erstere verfolgen das Ziel, abseitiges Gelände, das sich in öffentlicher Verfügungsgewalt befindet, durch die Schaffung einer minimalen (technischen) Grundversorgung (services) zu erschließen und in bebaubare Grundstücke (sites) aufzuteilen. Je nach Art des betreffenden Wohnungsbauvorhabens können darüber hinaus Fundamente, Nasszellen (sanitäre Anlagen, Küche) oder sogenannte Kernhäuser (core-houses; bestehend aus z.B. Nasszelle und einem Wohnraum) durch die Träger des Bauprojektes erstellt werden, während es dem Mieter oder Käufer überlassen bleibt, im Lauf der Zeit und je nach finanzieller Möglichkeit deren Weiterbau anzugehen.

Mit der zweiten Strategie ist eine nachträgliche Ausstattung, eine Form der Verbesserung gemeint, die ein notwendiges Minimum an Infrastruktur, d.h. an Versorgung mit Wasser, Licht und Entwässerungssystemen herstellt. In Slumgebieten (die sich in der Art der Entstehung, kaum jedoch im Hinblick auf Wohnqualität von Squattergebieten unterscheiden) ist dies zwar meist vorhanden, aber nicht mehr funktionsfähig. Allerdings setzt diese „Aufwertung“ meist eine Reduzierung der Bevölkerungsdichte und eine räumliche Neuordnung (reblocking) voraus.

Bei beiden Strategien geht es darum, die Selbsthilfe der Bewohner als unbezahlte Arbeitskraft für den Wohnungsbau („Muskelhypothek“) zu aktivieren und privat verfügbare Ressourcen zu mobilisieren. Bisherige Erfahrungen offenbaren jedoch, dass die Zielgruppen selbst mit solchen Programmen oft nicht erreicht werden bzw. die Kosten für sie weitaus zu hoch angesiedelt sind. Was sicherlich auch dadurch bedingt ist, dass die Standards von Experten und Planern stammen, die bestimmte Vorstellungen von „menschenwürdigem“ Wohnen mitbringen.

Zwischen Gated Communities und No-Go-Areas

Gemessen daran war das 20. Jahrhundert in Europa eine Erfolgsgeschichte des „Wohnungsbaus als gesellschaftliche Aufgabe“. Zumindest wird sie gerne so annonciert. Indes, was den Wohnungsbedarf anbelangt, befinden wir heute wieder in einer Situation, die jener vor achtzig Jahren gleicht. Erneut wird – verhalten und unsicher – nach Lösungen gesucht, die möglichst viele Bedürfnisse abdecken. Ungenügend ist der Wohnungsbau "in der Breite" schon deshalb, weil er trotz des enormen Wandels, den unsere Gesellschaft durchläuft, die Möglichkeit, neue Wohnweisen auszuprobieren, kaum zulässt. Erprobt werden müsste indes ein Wohnungsprogramm, das seine Maßordnung in den Bedürfnissen des Menschen findet; ein Raumreservoir, das, im Interesse des Benutzers, zur Veränderung freisteht, das verlockt zu eigenen Einfällen, freien Entscheidungen und bewusster Selbstbestimmung. Und das insgesamt finanzierbar, zugleich für den Einzelnen bezahlbar ist.

Da es beim Wohnen eher um das Alltägliche, weniger um das Besondere geht, scheinen Architekten sich damit schwer zu tun. Wenn sie sich – intellektuell und emotional – tiefer auf das Thema einlassen, dann oft mittels der Zauberworte Flexibilität und Variabilität. Doch wohnt dem Ansatz, viele Optionen zuzulassen, ein gedanklicher Fehlschluss inne: Denn im Ergebnis ist zumeist nicht eine räumliche Verbesserung, sondern die bessere Anpassung an kurz- oder mittelfristige Veränderungen der Bedürfnisse. Bis heute benutzen Architekten das Konzept der Flexibilität immer noch vorwiegend rein konstruktiv (um Wände durch wenige Stützen zu ersetzen). Von dieser Flexibilität profitiert letztlich vor allem der Architekt selbst, weil sie den Entwurf vereinfacht; die dem Benutzer versprochene Flexibilität der Raumorganisation wird dagegen so gut wie nie eingelöst.

Die Massen-Dimension des Wohnens wirkt zudem tief hinein in die Nachhaltigkeits-Diskussion. Der Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft - weg vom einseitigen Wirtschaftswachstum, hin zu mehr Lebensqualität - spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Kommt doch in diesem „mehr Lebensqualität“ beispielsweise zum Ausdruck, dass Familien und Haushalte heute nach immer mehr Wohnfläche verlangen; statistisch sind es heute in Deutschland pro Kopf bereits 42 Quadratmeter. Doch ist es zugleich ein Zeichen von Anspruch auf mehr Lebensqualität. So stößt man bei dieser Frage sehr schnell auf politische und kulturelle Grundwerte unserer Gesellschaft: das private Eigentum und die Abgeschlossenheit und Unabhängigkeit einer privaten Sphäre.

Diese Werte sind aufs engste verknüpft mit der Hoffnung auf individuelle Autonomie. Virginia Woolf hat ihrem Buch zur Frauenfrage nicht zufällig den Titel gegeben: ,,Ein Zimmer für sich allein“. Andererseits: Dass sich die Individualisierung und Pluralisierung von Wohnbedürfnissen scheinbar weniger gut im verdichteten innerstädtischen Zusammenhang und in massierter Bauweise realisieren lässt, legt die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nahe, in denen sich eine Bevölkerungsverschiebung in Richtung auf die Stadtränder und das städtische Umland vollzog. So erweist sich am Beispiel des Wohnens, dass ökologische Maximen durchaus in Konflikt geraten mit den emanzipatorischen Gehalten der Kultur. Und dieser Zwiespalt hat immer noch Bestand.

Nicht nur das: Eine bipolare Entwicklung – einerseits Gated Communities als geschützte Wohnquartiere für die Reichen, andererseits „no-go-areas“ und Wohnsilos als Reservat für die Zu-kurz-Gekommenen – macht augenscheinlich, dass die Wohnungsfrage gesellschaftlich mitnichten gelöst ist. Recht eigentlich berührt sie unsere menschliche Existenz schlechthin.

Wir könnten nicht leben, wenn wir nicht wohnten. Wir wären unbehaust und schutzlos. Unsere Wohnung ist das, was die Welt befestigt. Der Verkehr zwischen Wohnung und Welt ist das Leben.

Vilém Flusser

Philosophisch ausgedrückt bedeutet Wohnen soviel wie: Sich die Gewissheit des Geschützseins real und symbolisch zu bewahren. Dies unter den gegenwärtigen Bedingungen erneut in Erinnerung zu rufen, ist ein – vorlaufender – Verdienst des diesjährigen Bauhaus Award.