Die Diskussion um Cognitive Enhancer

Neuer Wein in alten Schläuchen

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Geistig auf der Höhe zu sein wünscht sich jeder. Um den eigenen und sozialen Ansprüchen gerecht zu werden, greifen verschiedene Personengruppen zu Arzneimitteln, die in dem Ruf stehen Konzentration und Merkfähigkeit zu fördern. Die wissenschaftliche Basis für einen solchen Einsatz ist aber dürftig. Auch die neuen Chemo-Kandidaten aus den Biotech-Schmieden der USA versprechen mehr als sie halten.

Im April 2008 veröffentlichte Nature die Ergebnisse einer Online-Befragung, in der die Teilnehmer Auskunft über ihre Einnahme von Medikamenten zur kognitiven Leistungssteigerung gaben. Tatsächlich gaben 20 % der 1400 Befragten an, schon einmal Modafinil (Provigil), Methylphenidate (Ritalin) oder einen Beta Blocker wie Propranolol eingenommen zu haben, um sich konzentrierter zu fühlen oder das Gedächtnis zu unterstützen. Dieser Off-Label-Use hat unterschiedliche Ausprägungen, 27.3 % der Teilnehmer nehmen ein solches Arzneimittel nur einmal im Jahr, rund ein Viertel nehmen es monatlich oder einmal die Woche, wiederum ein Viertel täglich.

Die Befragung ist gleich aus mehreren Gründen interessant. Zum einen deutet sie auf ein Phänomen hin, das unter der Bezeichnung „cognitive enhancement“ seit einiger Zeit in den USA und Großbritannien diskutiert wird (zu ethischen Fragen siehe die Zusammenstellung von Martha J. Farah). Die zugrunde liegende Annahme ist, dass weithin nebenwirkungsfreie Medikamente zur Verfügung stehen, die der Hirnleistung von gesunden Menschen förderlich sind. Eine Analyse der zur Verfügung stehenden Studien zeigt allerdings die Unhaltbarkeit einer solchen These. So berichtet beispielsweise die Hälfte aller der von Nature befragten Personen von unangenehmen Nebenwirkungen.

Es existieren wenige Untersuchungen, die beispielsweise positive kognitive Effekte von Modafinil bei gesunden Menschen nachweisen konnten. Danielle Turner von der Universität Cambridge testete Modafinil 2003 an 60 gesunden Probanden. Das Ergebnis: Gegenüber Placebo schnitten sie in einem Test des Kurzzeitgedächtnisses signifikant besser ab. Die genauere Analyse relativiert den Befund: So verbesserten sich beispielsweise die Werte bei der Mustererkennung und dem Zahlenerinnerungstest Digit-Span, nicht aber beim schnellen Erfassen visueller Informationen und dem CANTAB-SWM2, einer klassischen Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung. Und: Die Modafinil-Testpersonen waren in der Bearbeitungsgeschwindigkeit beim Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) nicht besser als andere. Eine Übersichtsarbeit von Michael Minzenberg und Cameron Carter ergab 2007, dass Modafinil bei gesunden Probanden nicht automatisch alle kognitiven Leistungsparameter nach oben schraubt. Wie sagte schon Laotse so schön: „Will man messen, muss man Maßstab wissen.“ Nicht nur bei Modafinil, auch bei Methylphenidat, Piracetam und den anderen Substanzen, die als Gehirndoping-Tipps durch die Internetforen geistern, erschweren unterschiedliche Testbatterien die Vergleichbarkeit von Studien.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten standen immer wieder Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel und nicht zugelassene Substanzen für kurze Zeit in dem Ruf, der geistigen Aufnahmekapazität zuträglich zu sein. Man erinnere sich nur an die „Smart-Drugs“ der 90er Jahre. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich bis heute, dass die Mittel entweder Derivate altbekannter Stimulanzien sind (so wie Methylphenidat, bekannt als Ritalin, das ähnlich dem Amphetamin wirkt), und damit primär wach halten, oder aber die Arzneimittel zwar die kognitiven Funktionen bei dementen Patienten moderat verbessern, bei gesunden Menschen aber weithin versagen. Es gibt von daher keinen Grund, den Begriff der „Nootropika“ wieder aus dem Hut zu zaubern oder gar eine neue Substanzklasse der Cognitive Enhancer zu etablieren.

Ampakine für das Gedächtnis

Zwei weitere Beispiele. Anfang der 2000er Jahre wollte man mit den „Ampakinen“ den Schlüssel zum Gedächtnisspeicherung gefunden haben. Diese Substanzen wirken primär an einer Untergruppe der Glutamat-Rezeptoren im Zentralnervensystem, den AMPA-Rezeptoren. Aber die Versuche mit CX-516 und anderen Kandidaten verliefen im Sande.

Vor ein paar Jahren unternahmen einige Forscher und Unternehmen den Versuch, die Mechanismen des Langzeitgedächtnis' pharmakologisch zu pimpen. Wissenschaftsmagazine und andere Medien berichteten ausführlich, der Rummel war auch daher so groß, weil der angesehene Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel involviert war. Zwei Firmen waren Anfang des neuen Jahrtausends angetreten: Die unter der Schirmherrschaft von Kandel stehende Memory Pharmaceuticals und die unter Leitung von Tim Tully stehende Helicontherapeutics. Diese beiden Firmen wollten nicht am AMPA- oder anderen Botenstoff-Rezeptoren ansetzen, sondern sahen in Wirkstoffen, die noch diffizilere Hirnfunktionen angingen, den Schlüssel zu Erinnerung. Um diese neuen Wirkstoffe zu entwickeln, wurde die Ebene der Neurotransmitter verlassen, genauer gesagt, sie wurde weiter ausdifferenziert, denn die Genforschung hielt Einzug in die Pharmazie.

Der Ansatz klang vielversprechend: Der Weg vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis wird, so vermuteten die Wissenschaftler, über chemische Substanzen geregelt. Schon früher hatte man entdeckt, dass in den Neuronen ein körpereigenes Molekül schlummert, das so genannte zyklische Adenosinmonophosphat (cAMP). Dieses ist von Adenosintriphosphat (ATP), dem klassischen Energielieferanten der Zellen, abgeleitet. Beim Kurzzeitgedächtnis wird im Neuron das cAMP aktiviert, welches eine Verbindung zwischen zwei Synapsen kurzzeitig verstärkt. Bei Wiederholungen oder intensiven Erlebnissen kann dieses cAMP aber den Zellkern erreichen und dort Gene aktivieren, die zum Wachstum neuer Nervenzellen aufrufen.

Dies tut cAMP aber nicht selbst. Über Zwischenschritte aktiviert es eine weitere Substanz im neuronalen Haushalt, nämlich cREB. Was genau nun wiederum ist cREB? Der Name steht für „cAMP Response Element-Binding Protein“. Dieses Eiweißmolekül schwimmt nicht wie die Neurotransmitter im synaptischen Spalt, sondern sitzt in den Zellen, aus denen die Synapse gebildet wird. Das cAMP ist die bekannteste Substanz aus der Klasse der so genannten sekundären Botenstoffe (engl. second messenger). Diese heißen so, da sie die Bindung eines Neurotransmitters an seinen Rezeptor ins Innere der Zelle weitermelden.

Der Signalweg ist also folgender: Ein Botenstoff wie Glutamat oder Dopamin dockt über den synaptischen Spalt an einen Rezeptor an. Der Weg des Neurotransmitters endet an der Membran der Zielzelle, die keine direkte Passage zulässt. Hier beginnt die Aufgabe eines Botenstoffs, der Transfer des Primärsignals und seine Übersetzung in sekundäre, intrazelluläre Signale. Als Kopplungsstellen fungieren die jeweiligen Rezeptoren und Subrezeptoren in der Zellmembran. Auf der Innenseite des Rezeptors wird ein Enzym aktiviert, welches aus ATP den sekundären Botenstoff cAMP synthetisiert. Das cAMP wiederum aktiviert nun selbst bestimmte Enzyme, die für weitere Katalyseschritte notwendig sind. Diese Enzyme hängen eine Phosphatgruppe an zellinterne organische Moleküle an, ein Vorgang, der Phosphorylierung genannt wird. Dies führt zu vielfältigen Effekten, unter anderem erhöht sich die elektrische Leitfähigkeit, wichtiger aber ist: cREB entsteht. Das Molekül bildet den vorläufigen Endpunkt einer komplexen Kaskade der Signalübertragung.

Es waren die früheren Arbeiten von Eric Kandel, die den oben beschriebenen tiefen Einblick in die neuronale Signalkaskade gab. In den 80er-Jahren untersuchte er wieder einmal die bei ihm aufgrund ihrer besonders großen Nervenfasern so beliebte Aplysia-Schnecke und wagte einen Versuch: Er injizierte dem Tier Moleküle, die an cREB andockten und es blockierten. Die Folge: Es wurden keine Informationen mehr langfristig gespeichert. Später wurden genveränderte Mäuse, bei denen das Gen für das cREB-Protein ausgeschaltet war, durch Käfige geschickt: Sie fanden ihr Futter nicht mehr. Seither gilt das cREB-Protein unter einigen Experten als eine Art Hauptschalter für die Bildung von Langzeiterinnerungen.

Der cREB-Weg: Zentralschalter für das Gedächtnis?

Aber was genau tut cREB im Zellinneren, wenn es durch ein Signal von außen aktiviert wird, es selbst speichert ja keine Erinnerung ab? Es kann aber, und das war die Sensation, für die Kandel den Nobelpreis erhielt, bestimmte Gene an- oder ausschalten. Dafür bindet es an genau definierte Abschnitte der DNA. Die Bindung bewirkt ein verstärktes Umschreiben spezifischer Gene in die Ribonukleinsäure (RNA). Dies wird in der Genetik als „Transkription“ bezeichnet, cREB ist daher ein so genannter „Transkriptionsfaktor“. Die RNA, bei deren Transkription cREB mithilft, trägt den Bauplan für synapsenverstärkende Proteine in sich. Über den Umweg über die Gene schieben cAMP und cREB also die Synthetisierung von „Gedächtnisproteinen“ an. Die Erkenntnis war ein tiefer Einblick in den biochemischen Prozess, wie eine Zelle durch ein Signal von außen angeregt werden kann, ein bestimmtes Gen zu aktivieren.

Nachdem diese Prozesse durch Kandel und andere aufgedeckt worden waren, war klar, dass Wissenschaftler hierin über kurz oder lang den molekularen Schlüssel zum Langzeitgedächtnis sehen. Wieder einmal schien eine Substanz für die Konsolidierung flüchtiger Gedächtnisinhalte verantwortlich zu sein. Um cREB ist bis heute ein ganzer Forschungszweig und eine Industrie entstanden, die hofft, an dieser Stelle den Zentralschalter für die Erinnerung gefunden zu haben. Der Gedankengang der Forscher war naheliegend, denn aus ihrer Sicht ist mehr cREB gleichbedeutend mit erhöhtem Potenzial zur Verfestigung synaptischer Verknüpfungen. Die Essenz der Idee: Anstatt sich mit dem unberechenbaren Neurotransmitterhaushalt herumzuschlagen, setzt man auf die Genforschung. Diese muss nur alle Gene identifizieren, die an der Bildung von Erinnerungen beteiligt sind, sodann sei es möglich, das Gedächtnis über die Proteinprodukte dieser Gene zu manipulieren.

Mitte der 90er-Jahre versuchte man am Cold Spring Harbor Laboratorium auf Long Island, New York, die Erkenntnisse über cAMP und cREB praktisch umzusetzen. Tim Tully und Jerry Yin veränderten die Gene von Taufliegen so, dass in deren Synapsen mehr cREB verfügbar war. Der Erfolg war verblüffend: Innerhalb eines Trainingsdurchgangs merkten sich die Fliegen, wie eine bestimmte Aufgabe zu lösen war. Ihre unbehandelten Artgenossen mussten die Lektion zehn Mal durchlaufen, bevor sie sie behielten. Die wissenschaftliche Gemeinschaft wurde hellhörig, andere Forscher probierten die Genmanipulation an Meeresschnecken und Mäusen aus, und auch hier wurden Lerninhalte sehr viel schneller ins Langzeitgedächtnis übernommen. Konnte dies auch beim Menschen klappen?

MEM 1414 wurde wieder in die Schublade gesteckt

Um dies zu eruieren gründete Kandel zusammen mit anderen 1998 die besagte Biotech-Firma Memory Pharmaceuticals in Montvale, USA. Dort versucht man sich seither am cREB-Pfad. Ob bei Mäusen oder Menschen, der molekulare Haushalt im Zellinneren ist direkt schwer beeinflussbar. Um gleichwohl mehr aktives cREB zur Verfügung zu stellen, arbeiteten die Wissenschaftler einen Plan aus. Man hatte entdeckt, dass der sekundäre Botenstoff cAMP – wie andere Transmitter auch – von einem Enzym abgebaut wird. Dieses Enzym ist die Phosphodiesterase (PDE). Man entwickelte daher einen Wirkstoff, der die Phosphodiesterase blockiert, einen so genannten Phosphodiesterasehemmer. Diese Substanz ist bis heute Gegenstand von Hoffnungen und Kontroversen, ihr Name: MEM 1414.

MEM 1414 sorgt wie andere Phosphodiesterasehemmer dafür, dass mehr cAMP zur Verfügung steht und damit der Signalweg Richtung cREB länger aufrechterhalten wird. 2002 stieg der Pharmakonzern Roche ein und testete MEM1414 an Alzheimer-Kranken. Ein erster Haken zeigte sich schnell: Phosphodiesterasehemmer sind keine unbekannten Substanzen, Koffein beispielsweise ist einer. Wie bei Pharmazeutika üblich geht es nicht nur um die Wirkung, sondern auch um die Nebenwirkung.

Frühere Versuche mit Phosphodiesterasehemmern hatten in Japan zur Zulassung als Antidepressivum geführt, aber Ärzte und Patienten zeigten sich unzufrieden, denn die Substanz führte bei vielen Patienten zu starker Übelkeit. Im menschlichen Organismus sind bis Ende 2007 sechs verschiedene PDEs nachgewiesen worden, die unter schiedlich in den Geweben lokalisiert sind. Wichtig ist für zukünftige Cognitive Enhancer, die für die Lernvorgänge relevanten Esterasen auszuschalten, aber dabei nicht nebenbei noch andere Abbauhelfer zu hemmen. So kommt beispielsweise die Phosphodiesterase vom Typ 5 häufig im Schwellkörper des Penis vor. Das bekannte Viagra (Wirkstoff: Sildenafil) hemmt diese Esterase, was zu dem erwünschten Effekt führt.

Im April 2005 schied Roche aus der MEM-1414-Kollaboration wieder aus, die Ergebnisse der Studie waren nicht vielversprechend genug. Mittlerweile hatte Memory Pharmaceuticals eine Nachfolgesubstanz zu MEM 1414 entwickelt und dieser den Arbeitstitel MEM 1917 gegeben. Die Indikationsfelder wurden erweitert, nun sollten beide Substanzen auf ihre Wirksamkeit bei Depressionen getestet werden. Seither ist es still geworden um die beiden Wirkstoffe. Die Firma spricht davon, einen „angemessenen Plan für sie auszuarbeiten“. Anders formuliert: Das einstmals gefeierte MEM 1414 ist in den Schubladen des Unternehmens verschwunden.

Balance

Die Beispiele Modafinil, Ampakin und MEM 1414 weisen auf ein Phänomen hin: Das menschliche Gehirn scheint im engen Zusammenspiel mit dem Körper ein Gleichgewicht zu halten, welches nur schwer optimiert werden kann. Dies deutet auf ein weiteres Phänomen hin, das durch die Nature-Befragung ans Licht gekommen ist. 60 Prozent derjenigen, die an der Umfrage teilnahmen, waren unter 35 Jahre alt, 70 % kamen aus den USA. Die Online-Befragung ist zwar nicht repräsentativ, zudem fehlen auch ansonsten verlässliche Daten über den Off-Label-Use von diesen Medikamenten. Bei vorsichtiger Interpretation lässt sich allerdings sagen, dass unter jüngeren, wissenschaftsaffinen Personen eine Tendenz existiert, konzentriert geistige Zustände durch Psychopharmaka evozieren zu wollen, um im Lern- und Berufsumfeld leistungsfähiger zu sein.

Das ist so neu nicht, wurde bisher halt nur unter den Schlagworten Medikamenten- und Drogenmissbrauch geführt. Zukünftig wird diskutiert werden müssen, an welchen Stellen der Missbrauch beginnt und wie weit sich ein soziales System erlauben möchte, jedwede Befindlichkeit mit einem Pharmazeutikum unterstützen oder unterdrücken zu wollen.

Von Jörg Auf dem Hövel ist gerade ein Buch über „cognitive enhancement“ in der Telepolis-Reihe erschienen: Pillen für den besseren Menschen. Wie Psychopharmaka, Drogen und Biotechnologie den Menschen der Zukunft formen.