Kinderarmut in Deutschland

Die neueste UNICEF-Studie und das Dossier zu "Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen" warnen einmal mehr vor einem Scheitern der aktiven Sozial- und Familienpolitik

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Die Fakten sind seit langem bekannt, und so beweist ihre stets aktualisierte Präsentation in Form groß angelegter Studien vor allem eins: Die politischen Entscheidungsträger sind in Deutschland nicht willens oder nicht fähig, zeitnah auf offenkundige Fehlentwicklungen zu reagieren, auch wenn ihnen Experten entscheidende Daten und Szenarien an die Hand geben, andere Länder mit gutem Beispiel voran gehen und sie selbst über komfortable parlamentarische Mehrheiten verfügen, die eine schnelle Beschlussfassung möglich machen sollten.

Der neue UNICEF-Bericht Zur Lage von Kindern in Deutschland, der am vergangenen Montag vorgestellt wurde, macht da keine Ausnahme, denn er basiert bereits auf der Vergleichsstudie „Zur Situation von Kindern in den Industrieländern" aus dem Jahr 2007. Die OECD und World Vision sind längst zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, und das gilt auch für die Autoren der Pisa-Studie oder des Armuts- und Reichtumsberichts.

Deutschland im Mittelmaß

Zu welchen Ergebnissen die aktuelle UNICEF-Studie, die sich nicht nur mit der materiellen Situation von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, sondern explizit auch Faktoren wie Bildung, Gesundheit, persönliche Sicherheit, Beziehungen zu den Eltern und Freunden und das persönliche Wohlbefinden einbeziehen wollte, am Ende kommen würde, war also absehbar. Deutschland sei zwar eine der wichtigsten Exportnationen dieser Erde, befand UNICEF, doch wenn es um das Wohlbefinden der hier lebenden Kinder gehe, komme das Land "in allen untersuchten Dimensionen" nicht über internationales Mittelmaß hinaus.

Die Autoren, zu denen renommierte Erziehungs- und Bildungswissenschaftler wie Hans Bertram oder Rainer Lehmann von der Berliner Humboldt-Universität zählen, präzisieren diese wenig originelle Feststellung mit einigen aussagekräftigen Zahlen. Demnach wachsen derzeit 35 bis 40 Prozent der Kinder in Ein-Eltern-Familien in relativer Armut auf und leiden damit unter engen Wohnverhältnissen, schlechter Infrastruktur oder begrenzten Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten. Doch die Probleme beginnen schon früher. Von dem ehrgeizigen, aber kaum ausreichenden Ziel, bis 2013 für mindestens ein Drittel aller Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zu schaffen, ist Deutschland " noch weit entfernt". 2005 lag die Quote in Westdeutschland bei 6,2 Prozent und in Ostdeutschland bei 36,6 Prozent.

Gleichzeitig werden bei immer mehr Kindern Krankheitssymptome diagnostiziert. Insbesondere Übergewicht und Verhaltensauffälligkeiten haben laut UNICEF "in den vergangenen Jahren stark zugenommen". Der Nachwuchs der Ausländer- und Migrantenfamilien ist in dieser schwierigen Gesamtsituation besonders benachteiligt. Zurzeit verlassen rund 17 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund ihre Schule ohne Abschluss, in Baden-Württemberg liegt dieser Wert bei 30 Prozent, Hamburg und Berlin folgen mit 25 Prozent.

Die UNICEF-Autoren glauben, dass sich die strukturellen Defizite der hiesigen Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik durch einzelne Maßnahmen nicht mehr grundlegend und nachhaltig beheben lassen. Bund, Länder und Gemeinden müssten ihren "zersplitterten, an einzelnen Ressorts orientierten Ansatz" aufgeben. Sie fordern keine kosmetischen Korrekturen und Umschichtungen, sondern einen glaubwürdigen Perspektivwechsel, der zum Wertewandel avancieren könnte.

Das Wohlergehen von Kindern ist ein zentraler Maßstab für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. In Deutschland muss es einen Perspektivwechsel geben – weg von einem funktionalistischen Blick auf den Nutzwert von Kindern und hin zur Umsetzung der Rechte der Kinder und der Verbesserung ihrer individuellen Zukunftschancen.

UNICEF

Armutsrisikoquoten

Die UNICEF-Studie enthielt freilich nur einen Teil der schlechten Nachrichten, wie Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen am Montag feststellen musste. Das Dossier Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, das von der Prognos AG im Auftrag des Kompetenzzentrums familienbezogene Leistungen im Bundesministerium erstellt wurde, kam zeitgleich zu dem Schluss, dass die Armutsrisikoquote bei den unter 18-Jährigen im Jahr 2006 bereits bei 17,3 Prozent lag.

Auch Prognos definiert Armut nicht allein unter materiellen Aspekten, sondern auch als "Mangel an Teilhabechancen". Gleichwohl sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache, denn die Armutsrisikoquote beschreibt konkret den Anteil der Bevölkerung, dessen bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen pro Kopf weniger als 60 Prozent des statistischen Mittelwertes beträgt. In Haushalten ohne erwerbstätigen Elternteil leben mittlerweile bis zu 72 Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze.

Dabei weisen die Armutsrisikoquoten von Kindern und Jugendlichen erhebliche regionale Unterschiede auf. Während in Sachsen-Anhalt (30 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (30), Bremen (28), Thüringen (26) und Brandenburg (25) mindestens jeder vierte Heranwachsende betroffen ist, liegen die Werte in Baden-Württemberg (11) oder Bayern (12) weit unter dem Durchschnitt.

Ein Blick auf die europäischen Nachbarländer zeigt, dass die Höhe der staatlichen Transferleistungen nicht zwingend zu einer Verbesserung der Situation beitragen muss. So gibt Frankreich mehr Mittel für Familienleistungen aus als beispielsweise Schweden, verzeichnet aber gleichwohl eine höhere Armutsrisikoquote. Prognos empfiehlt deshalb eine stärkere Konzentration auf die jeweilige Zielorientierung der familienbezogenen Leistungen.

Anhand internationaler und historischer Studien lassen sich zwei Strategien zur Reduzierung der Kinderarmut identifizieren, die beide erfolgreich zur Armutsreduzierung beitragen: Erstens monetäre Leistungen zur Einkommensverbesserung von Familien und zweitens Sachleistungen zur Förderung der Erwerbsbeteiligung der Eltern. Die Länder, in denen es eine intelligente Kombination beider Strategien gibt, sind besonders erfolgreich in der Armutsbekämpfung.

Prognos AG

Der "Instrumenten-Mix aus Geld- und Infrastrukturleistungen" soll einerseits klassische Maßnahmen wie Kindergeld, Kinderzuschlag, Mehrbedarfszulage, Wohngeld oder Unterhaltsvorschuss umfassen, andererseits aber auch Aspekte wie den Ausbau der Kinderbetreuung bis hin zum Rechtanspruch oder verstärkte Anstrengungen auf dem Gebiet der Arbeitsförderung berücksichtigen.

Streitpunkt Kindergeld

Prognos ist fest davon überzeugt, "dass vom Kindergeld und der Familienkomponente in der Grundsicherung die bei weitem größten Effekte ausgehen" und liegt damit genau auf der Argumentationslinie der Familienministerin.

Ursula von der Leyen hatte bereits im April vorgerechnet, dass eine Erhöhung des Kinderzuschlags eine Viertelmillion Kinder vor Hartz IV "bewahren" könnte. Im Herbst will sie nun mit Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) über eine Erhöhung des Kindergelds verhandeln, das zuletzt 2001 - und damals nur für die ersten beiden Kinder - angehoben worden sei. "Wir haben in unserem Land das dritte Kind und alle weiteren Kinder vergessen", klagte die siebenfache Mutter, der wie allen anderen Eltern in Deutschland nach § 66 Abs. 1 EStG für die ersten drei Kinder jeweils 154 Euro und ab dem vierten Kind 179 Euro im Monat zustehen.

Das kostet 35 Milliarden Euro im Jahr, soll sich aber lohnen. Denn gäbe es kein Kindergeld, so rechnet die Ministerin vor, dann würden noch einmal 1,7 Millionen Kinder unter die Armutsgrenze fallen. Schließlich bilde das Kindergeld bei Alleinerziehenden mit zwei Kindern durchschnittlich 20 Prozent ihres Einkommens.

Ursula von der Leyen steht mit ihrer Forderung nicht allein, auch ihre Partei verlangt - ähnlich wie die FDP - eine Anhebung der Regelsätze für 2009 und insbesondere für Mehrkinderfamilien ein gestaffeltes Kindergeld. Die Union ist damit klug beraten, denn schon im September gibt es vermutlich keinen Beifall mehr für derlei populäre Vorhaben. Wenn Finanzminister Steinbrück den neuen Bericht über das Existenzminimum in Deutschland vorlegt, könnte eine Erhöhung des Kindergeldes ganz einfach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entsprechen, entschiedenere Vorkehrungen gegen die Verarmung von Kindern und Jugendlichen zu treffen.

Die SPD zeigt sich in diesem Punkt gleichwohl weniger entschlossen. Das Kindergeld müsse erhöht werden, hatte Parteichef Kurt Beck noch im Februar verkündet, gleichzeitig aber auch die Verteilung von Sachleistungen in die Diskussion geworfen. Seiner Parteifreundin Kerstin Griese, die als Vorsitzende des Familienausschusses im Deutschen Bundestag sitzt, schweben ebenfalls zunächst andere Maßnahmen vor.

Wenn man Armut an ihrer Wurzel bekämpfen will, gibt es nur zwei Lösungen: Erstens Erwerbsarbeit für die Eltern und zweitens bessere Bildung beziehungsweise mehr Infrastruktur für die Kinder.

Kerstin Griese

Griese fordert nun „150-Euro-Gutscheine für Schulstarterpakete, Lernmittelfreiheit, kostenfreie Frühstücksangebote und gesunde Mittagessen in Kitas und Schulen“. Zur Finanzierung soll die noch gar nicht beschlossene Kindergeld-Erhöhung halbiert werden. Da die CDU an 10 Euro pro Monat denkt, blieben so nur noch 5 Euro übrig.

Nach Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen setzen die Christdemokraten beim Kindergeld ohnehin eine „falsche Priorität“. Schließlich habe die Bundesrepublik keinen grundsätzlichen Nachholbedarf bei den Transferzahlungen für Familien, sehr wohl aber im Bereich der frühkindlichen Bildungsförderung, wo Deutschland über den Status eines „Entwicklungslandes“ noch nicht hinausgekommen sei. Die Grünen verlangen deshalb einen großflächigen Ausbau der Kinderbetreuung, einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr und die Erhöhung der ALG-II-Sätze für Kinder.

Die LINKE zeigt sich auch in diesem Bereich deutlich freigiebiger als die Kolleginnen und Kollegen anderer Parteien. So erklärte Vorstandsmitglied Rosemarie Hein noch Anfang Februar:

Die LINKE hat ein Konzept für eine bedarfsorientierte und individuelle Kindergrundsicherung entwickelt. Darin sollen alle bisherigen Sozialleistungen zusammengefasst und in eine Kindergrundsicherung umgewandelt werden. Neben einem einheitlichen Kindergeld von 250 €, das selbstverständlich beim Einkommen von Bedarfsgemeinschaften nicht anzurechnen ist, soll jedes Kind eine einkommensabhängige Grundsicherung erhalten. Danach sollen allen Kindern mindestens 420 € monatlich zur Verfügung stehen.

Rosemarie Hein

Gregor Gysi geht das Thema etwas vorsichtiger an, doch auch er sieht in den Vorschlägen der Großen Koalition nur „kleinkarierte Schritte“. Auf 200 Euro soll das Kindergeld angehoben werden, und auch beim Kinderzuschlag will Gysi noch einmal nachbessern, um wenigstens für die jüngste Generation Chancengerechtigkeit herzustellen.

Zurück auf Anfang

Da die Vorstellungen über die Erhöhung der staatlichen Transferleistungen weit auseinander liegen, ist jetzt schon absehbar, dass man sich allenfalls auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen wird. Schon das kostet viel Zeit, die den Beteiligten anschließend fehlt, um intensiver darüber nachzudenken, wie Kinderarmut und Bildungsungerechtigkeit auf längere Sicht erfolgreich bekämpft werden können.

Dabei haben die Experten auch diesmal darauf hingewiesen, dass Kinderarmut bei den Eltern beginnt, sofern diese keine Arbeit und keine Zukunftsperspektive haben oder in Gelegenheitsjobs weit unter Tarif arbeiten. Bekannt ist die soziale Unausgewogenheit des deutschen Bildungssystems, bekannt ist die unzureichende Infrastruktur, bekannt sind die gewaltigen Defizite im Bereich der Betreuungsmöglichkeiten, und auch über die Notwendigkeit, gesamtgesellschaftlich einen neuen Familienbegriff sowie veränderte Perspektiven und Wertmaßstäbe für eine kinderfreundliche, tolerante Solidargemeinschaft zu entwickeln, ist gelegentlich schon gesprochen worden.

Folglich könnten sich Mandatsträger ebenfalls überlegen, wie Projekte, welche in diese Richtung zielen, sinnvoll und effektiv unterstützt werden können, und tatsächlich machen sie das auch – hier oder da. Doch in der öffentlichen Diskussion spielt der Streit um 10 Euro Kindergeld die prominentere Rolle, und deshalb wird sie in kurzem wieder von vorne beginnen. Mit rechtschaffener Empörung und eingeübtem Eifer, gleich bei der nächsten Studie. Als hätte es nie zuvor welche gegeben.