GTA IV führt zu Epochenbruch im Feuilleton

Angesichts des "GTA IV"-Hypes erkennen klassische Qualitätsmedien staunend und nur mit einigem Widerwillen, dass Computer- und Videospiele längst den Kinderschuhen entwachsen sind. Wird das neue Medium wirklich erst jetzt "erwachsen" - oder kann es schlicht nicht mehr ungestraft ignoriert werden?

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War letzten Herbst der außergewöhnliche wirtschaftliche Erfolg von „Halo 3“ so manchem klassischen Medium eine Meldung wert, so läutet der enorme kritische Erfolg von „GTA IV“ (Der algorithmische Zwang zum Bösen) unter Umständen ein halbes Jahr später eine Zeitenwende in der Betrachtung der Spielkultur auch durch die qualitätsvollen Mainstream-Medien ein. Ausgerechnet der letzte Ableger der „GTA“-Reihe, die in den vergangenen Jahren durch die berüchtigte „Hot Coffee“-Mod und schier unendliche Gewaltdiskussionen zum Gottseibeiuns selbsternannter Jugendschützer geworden war, ist jetzt weltweit das erste Spiel, das von der New York Times abwärts keiner mehr zu ignorieren wagt - auch aufgrund einer beispiellosen PR-Kampagne und kluger Informationspolitik der Publisher.

Alle Bilder: Grand Theft Auto IV/Rockstar Games

Erstaunlicherweise zeigt sich in den aktuellen Berichten eine neue Differenzierung und Akzeptanz des Mediums, die noch vor wenigen Monaten außerhalb der spezialisierten Fachzeitschriften undenkbar gewesen war – bisher waren es vor allem fantasiebetriebene „Killerspiel“-Kampagnen vom Schlag eines „Panorama“-Journalismus, die den weniger spielaffinen Zeitgenossen mit allen Mitteln die Gefahren für Kinder und auch Erwachsene einbläuten. Doch jetzt, nach der Veröffentlichung eines der für derartig oberflächliche Kritik anfälligsten Spiele des Jahres, macht sich ein neuer, überraschender Grundtenor breit: Mit „GTA IV“ scheint ein „Epochenbruch“ vollzogen, nach dem man Computerspiele „nicht mehr getrost ignorieren“ könne.

Sogar die große Eminenz „Die Zeit“, aus deren Mini-Zurkenntnisnahme obige zwei Zitate stammen, zeigte sich, zumindest in der Printausgabe, bereit, dem suspekten Medium der Computerspiele einen kleinen Blick zu widmen. Dass dieser Blick allerdings von Widerwillen und Skepsis geprägt ist, zeigt sich nicht nur anhand der zweifelhaften, von anderen, ähnlich halbinformierten Großmedien abgeschriebenen Behauptung, das Spezielle an „GTA IV“ wäre die angeblich erstmalige „Annäherung an das Kino“ oder die wiederum angebliche Innovation, dass das Spiel erstmalig „Geschichten von Menschen, … die selbst eine Geschichte haben“, darstellen würde.

Auch der Hinweis auf die „infantilen Fantasieräume der Spielkonsolen, die längst auch Ältere faszinieren“ und gar die Kurzbeschreibung der Plakatkampagne als „Versprechen erwachsener Abenteuer – nur nicht für Erwachsene“ zeigen das Dilemma eines Kulturfeuilletonismus, der sich murrend plötzlich mit dem vermeintlichen Schmuddelkind Spielkultur abgeben muss - und dabei eigentlich keinen rechten Zugang findet. Dass Spiele seit mindestens zwanzig Jahren in der Lebensrealität von heute durchausälteren Semestern einen Platz haben, mag wohl dem Klischee vom Kinderkram widersprechen, ist aber eine seit Jahren bekannte Tatsache: Der durchschnittliche Spielekonsument ist heute um die 30 Jahre alt.

Aus den dennoch durchaus lobenden Berichten über „GTA IV“ auch in sonst unbeleckten Medien meint man aber dann auch die unentwegte Verblüffung der meisten Autoren über das ihnen zuvor wohl aus eigener Erfahrung völlig unbekannt gebliebene Medium lesen zu können – obwohl getrost davon ausgegangen werden kann, dass auch und besonders hier wohl oft voneinander abgeschrieben wurde.

Als an Spielkultur interessierter Gamer – und derer gibt es immerhin eine verblüffend große, rasant wachsende Zahl – steht man den Versuchen des Kulturfeuilletons, diese fremde, neue Welt mit dem altbekannten Handwerkszeug zu erforschen, wohl meist mit einer Mischung aus Stolz, Rührung und Ärger gegenüber. Hier hilft kein Vergleich mit der gewiss studierten Filmgeschichte, hier scheitern Interpretationswerkzeuge, die in Literatur und Theater seit Jahrzehnten Bestand haben – das neue Medium funktioniert nach eigenen Regeln.

Vor allem eine Hürde, den einen lächerlich klein, den anderen unverschämt hoch erscheinend, versperrt wohl so manchem altgedienten Kulturexperten den Weg zum neuen Medium: Sie wollen tatsächlich selbst gespielt werden, die neuen Kunstprodukte, eine Aufgabe, die wohl die meisten der jetzt auch „GTA IV“ in den Qualitätsblättern lobenden Redakteure nicht oder nur unzureichend erledigt haben. Dies zeigt sich nicht nur am teilweisen Unvermögen, „GTA IV“ in einen sinnvollen Zusammenhang in seinem Medium und Genre zu stellen, sondern punktuell etwa auch am eigentlich mehr als peinlichen Recherchefehler in der „Zeit“, „GTA IV“ wäre von US-Amerikanern geschaffen worden.

Natürlich muss begrüßt werden, dass sich auch große Qualitätsmedien endlich des gar nicht mehr so neuen Mediums annehmen. Neben dem Abbau der Vorurteile bräuchte es aber wohl nicht nur den Willen, sich ernsthaft mit der Geschichte und den Besonderheiten der Spielkultur auseinanderzusetzen, sondern auch ein fortgesetztes Interesse, Spiele auf Augenhöhe als Kulturprodukte in ihrem speziellen Kontext zu betrachten, und das ganz abseits vom althergebrachten technischen Bewertungsschema der Fachzeitschriften.

Spiele nicht nur wie diese am Ende mit dürren Prozentzahlen zu benoten, sondern sie tatsächlich zu kritisieren, wird zu einer Herausforderung, die mit Sicherheit auch durch den jetzigen „Epochenbruch“ nicht gemeistert ist. Denn die andere Seite der Berichterstattung über „GTA IV“ zeigte die professionelle Games-Review-Branche, in der zwischen Hype, PR und Enthusiasmus der Redakteure schwer zu unterscheiden war: Dass „GTA IV“ ein gutes, vielleicht sogar ein wichtiges und großes Spiel ist, mag schwer zu ignorieren sein; ob es aber wirklich das „perfekte Spiel“ ist, das vor allem im hype-gebeutelten angloamerikanischen Raum mit perfekten Hunderterwertungen in Serie bedacht wurde, wird sich wohl erst im Rückblick herausstellen, wenn die nächste Hype-Welle über die ungesund mit ihren Kritikern verwachsene Spielebranche hinweggespült ist.

Im Zuge einer Entwicklung des Mediums hin zur „traditionelleren“ Berichterstattung außerhalb von Branchenmedien würden wohl nicht nur die Spiele, sondern auch die Spielkritik einen großen Schritt in Richtung Erwachsenheit machen. Und auch im Kulturfeuilleton werden sich wohl in den kommenden Jahren mehr und mehr Menschen finden, deren Jugend nicht nur von obsessiver Bob-Dylan-Verehrung, sondern vielleicht auch vom C64 und NES im Kinderzimmer geprägt war.