Im Eifer des Geschlechts

Neue deutsche Alphamädchen schreiben Bücher, Lady Bitch Ray und Charlotte Roche kontern mit sexuell konnotiertem Angriffswitz. Ist das der neue Feminismus?

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Lady Bitch Ray hat eine Fotze. Das zumindest erzählt sie derzeit ständig und jedem. Lady Bitch Ray, mit bürgerlichem Namen Reyhan ?ahin, hat eine wirklich beachtliche Karriere hingelegt: In Bremen aufgewachsen, studierte die heute 27jährige Tochter türkischstämmiger Eltern nach dem Abitur Germanistik, Linguistik und Sexualpädagogik, landete dann als freie Mitarbeiterin beim Funkhaus Europa, flog dort aber wieder raus, weil sie als Rapperin pornografische Schmuddelreime online stellte. Heute arbeitet sie an der Uni Bremen und promoviert zum Thema „Semiotik der Kleidung“. Nebenher macht sie noch immer sexuell überdrehten HipHop, tritt für „vaginale Selbstbestimmung“ ein und zündet, wenn es nur immer irgendwie geht, ein sexuelles Feuerwerk an. Darum wird sie auch gerne in Sendungen wie „Menschen bei Maischberger“ oder „Schmidt & Pocher“ eingeladen.

Ist das der neue Feminismus? Ja, sagt Lady Bitch Ray. Alice Schwarzer sei zu alt und solle die Bühne räumen, jetzt wäre sie dran. Es kommen derzeit aber auch noch ganz andere: Gabriele Rohmann brachte bereits im letzten Jahr mit „Krasse Töchter“ ein Buch über „Mädchen in Jugendkulturen“ heraus. Sonja Eismann, Ex-Redakteurin der Musikzeitschrift Intro, veröffentlichte, ebenfalls im letzten Jahr, mit „Hot Topic“ ein Werk über „Popfeminismus heute“, nachdem ein Jahrzehnt lang nach dem essenziellen Buch „Lips Tits Hits Power?“ von Anette Baldauf und Katharina Weingartner in diesem Bereich kaum etwas zu lesen war.

Dann landete Charlotte Roche mit ihren ausführlichen Darbietungen über sexuell pervertierte Vorlieben in „Feuchtgebiete“ in diesem Jahr einen Kassenschlager und all die neuen deutschen Alphamädchen meldeten sich plötzlich zu Wort wie aus der Versenkung: Die Autorinnen von „Neue deutsche Mädchen“, Jana Hensel und Elisabeth Raether, erklärten gar den Feminismus à la Schwarzer in ihrem Buch für tot. Schwarzer feuerte zurück und warf gleich einer ganzen neuen Autorinnenschaft vor, „Propagandistinnen eines Wellness-Feminismus“ zu sein.

Junge Generation versus alte Generation

Der Feminismus-Streit zeigt, wie eine neue Generation jung aufstrebender Frauen sich von ihrer Vorgängerinnengeneration lossagt, dem Feminismus einen neuen Anstrich verpassen möchte und doch einem Paradoxon ausgesetzt bleibt: Verteidigen die jungen Frauen einen Feminismus, indem sie stark theoretisch argumentieren, sich beispielsweise auf die Philosophin Simone de Beauvoir beziehen oder sich im Argumentationsfeld Alice Schwarzers bewegen, treten sie also für einen Gleichheitsfeminismus ein, wird er als abgestanden und verkrampft interpretiert. Versuchen junge Frauen neue Wege einzuschlagen und Weiblichkeit als Differenz zu erfahren (das tun nicht alle), ohne gleich gegen das Patriarchat in den Kampf zu ziehen, gelten sie schnell als niedliche Modernisierungsreserve neoliberaler Kräfte und der Feminismus gerät zum Fare-Trade-Feminismus.

Alice Schwarzer holte weit aus. Sie wurde schließlich zuvor von Jana Hensel und Elisabeth Raether in ihrem Buch „Neue deutsche Mädchen“ als „oll“ bezeichnet. Dem mag man zustimmen oder nicht. Was man im Gegenzug nicht verteidigen kann, ist, dass die jungen Buchautorinnen „Girlies“ oder „Post-Girlies“ seien, wie Schwarzer sie nennt. Alice Schwarzer hört der Generation junger Frauen genauso wenig zu oder nimmt sie nicht ernst, wie die neuen deutschen (Alpha-)Mädchen Schwarzers Ausführungen nicht zu kennen scheinen - Schwarzer hat sich nicht nur mit den Themen Prostitution, Pornografie und der Stellung der Frau im Islam befasst, was ihr ein Teil der jungen Generation nachsagt. Im Grunde machen Schwarzer und die neuen „Mädchen“ das, was man an anderer Stelle auf keinen Fall will: Dass Frauen Rollen zugeschrieben werden, die sie nicht verdient haben.

Bei all den Reibereien wird man den Verdacht nicht los, es ginge beim derzeitigen Feminismus-Streit zumindest genauso um die Klärung einer Vormachtstellung wie um die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft. Lady Bitch Ray gegen Sarah Connor („Sarah Connor du Kaugummi kauende Schlampe, Du bist so billig wie 'ne Nutte an der Ampel“), die neuen deutschen (Alpha-)Mädchen gegen Alice Schwarzer, Alice Schwarzer gegen die neuen deutschen Mädchen: Wer ist Deutschlands Super-Feministin? In einem Punkt behält die jüngere Generation dennoch Recht: Soll es einen neuen Feminismus geben, muss er von denen angeführt und verteidigt werden, die als Vorbilder für eine jüngere Generation in Frage kommen. Das kann Alice Schwarzer schon lange nicht mehr.

Eine neue Generation macht sich Platz

Eine neue Generation junger Frauen macht sich derzeit Platz und im Grunde will sie so wahrgenommen werden, wie Frauen heute oft auch sein können - mit allen Unterschieden und Möglichkeiten. Den „einen“ Feminismus wird es darum nicht geben (ihn gab es auch noch nie): Zu unterschiedlich sind junge Frauen und ihre Zielvorstellungen, zu verschieden sind die Mittel der Zielverfolgungen und das Verständnis von eigener Weiblichkeit: Lady Bitch Ray möchte junge Frauen, vor allem Türkinnen, ermuntern, zu ihrer Weiblichkeit zu stehen, das heißt für sie, zu ihrem „Arsch“, ihren „Titten“ und ihrer „Fotze“.

Lady Bitch Ray - Mein Weg

Charlotte Roche hingegen versucht ein Tabu zu brechen, indem sie gegen Hygieneregeln anschreibt und Sexualität zum bewusst ekligen Phantasma werden lässt. Jana Hensel und Elisabeth Raether wiederum berichten autobiografisch über ihre Erfahrungen als Frauen in einer flexiblen, unruhigen Welt. Ein „Wir“, das Frauen vereint und das die Autorinnen Meredith Haaf, Susanne Klingner und Barbara Streidl in ihrem Buch „Wir Alphamädchen“ verteidigen, gibt es nicht.

Einig sind sich die meisten jungen Frauen dennoch darin, dass man Karriere machen möchte, und das ist ein Fortschritt. Alice Schwarzer klagt an, die heutige junge Generation habe nur „Männer und Karriere“ im Kopf. Machen Frauen keine Karriere, wirken sie rückständig und das Patriarchat funktioniert. Haben sie Erfolg, scheinen sie die Frauenfrage außer Acht zu lassen und man wirft ihnen vor, nur für sich zu kämpfen. Schwarzer stellte einst den Kampf gegen das Patriarchat und den Kampf für die Frauen vor einen gegen den Kapitalismus, wenngleich der Kapitalismus als Unterdrückungsregulativ des Subversiven galt. Heute versucht sich eine junge Generation in Rollen des Kapitalismus durch ein Miteinander zu behaupten.

Immer diese Widersprüche

Dass sich eine junge Generation dabei vielen Widersprüchen ausgesetzt sieht und ihre Argumente oft auch widersprüchlich bleiben, macht die Sache nicht weniger kompliziert. Die Geschlechterbilder sind durcheinander geraten, Ursula von der Leyens (CDU) „konservativer Feminismus“ und ein Frau-am-Herd-Prinzip à la Eva Herman stehen neben all den Frauenkarrieren von Meredith Haaf bis hin zu Lady Bitch Ray zwischen neuer Natürlichkeit und provokativer Weiblichkeit. Die Sozialwissenschaftlerin Katharina Pühl hat darum berechtigt von „neoliberalen Paradoxien“ in der heutigen Zeit gesprochen. Der kalifornische Soziologe Manuel Castells sieht gar ein Ende des Patriarchats kommen, da ein gestiegenes Selbstbewusstsein unter Frauen und eine zunehmende ökonomische Unabhängigkeit zu einer geschlechterdemokratischen Gesellschaft führe.

Diese „geschlechterdemokratische Gesellschaft“ bringt aber auch erstmals in der Geschichte der Menschheit einen Feminismus hervor (die sogenannte dritte Welle, der „Third-wave feminism“ seit den 90er Jahren), der Teilnahme verspricht und erst durch den heutigen Erfolgsdruck junger Frauen zu einem solchen wird. Die jungen Frauen müssen sich das gesetzliche Recht auf Arbeit nicht mehr erkämpfen, sie gehen arbeiten, sie machen auch Karriere und greifen auf Rollenmuster in einer globalisierten Arbeitswelt zurück, die für Vielfalt und Selbstbestimmung stehen.

Es ist zwar nicht der erste Feminismus im Kapitalismus, der sich nicht vorrangig gegen das kapitalistische System richtet (bereits Frauen der bürgerlichen Bewegung im 19. Jahrhundert setzten sich für die volle Gleichberechtigung innerhalb eines kapitalistischen Systems ein, im Gegensatz zur sozialistischen Frauenbewegung, die die Abschaffung des Kapitalismus als Voraussetzung für die Befreiung der Frauen sah). Es ist aber der erste Feminismus im und nicht gegen einen Kapitalismus (wenn man auch vorgegeben mag, gegen diesen zu sein), der Rollenbilder als Ausweg kodiert, zugleich aber dadurch noch immer bestehende Machtverhältnisse in den Hintergrund geraten lässt.

Das erinnert an Michel Foucault, der in seinen philosophischen Arbeiten über „Sexualität und Wahrheit“ treffend beschrieben hat, wie Macht heute nicht mehr gleichzusetzen ist mit einer Regierungsmacht, einer Unterwerfungsart oder einem Herrschaftssystem, in dem es nur unten und oben gibt. Vielmehr ist Macht zurückzuführen auf eine „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“, die sich in ihrer Beziehung zu Verhältnistypologien wie ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen oder sexuellen Beziehungen nicht als etwas „Äußeres“ verhalten, sondern diesen „immanent“ sind. Machtbeziehungen sind Foucault zufolge einerseits die unmittelbare Auswirkung von Teilungen, Ungleichheiten und Ungleichgewichten, die in jenem Verhältnis zustande kommen. Andererseits sind sie die inneren Bedingungen jener Differenzierungen. Macht wirkt folglich nicht hemmend, sondern hervorbringend produktiv.

Diese Differenzierungen bringen auch eine Lady Bitch Ray und Charlotte Roches Protagonistin Helen Memel aus „Feuchtgebiete“ hervor. Sie beide stehen für eine sexualisierte und pornografisierte Gesellschaft, die zwar nicht immer gleich so schlimm sein muss, wie Alice Schwarzer sie macht, in der der Tabubruch aber Kalkül ist und das Interesse daran von globalisierter Geilheit zeugt. Sexuelle Freizügigkeit soll befreiend wirken, sie erscheint dennoch zwanghaft und entspricht durchaus auch männlichen Wunschvorstellungen, dass Frauen die letzten Textilien in einer freizügigen Welt fallen lassen.

Lady Bitch Rays und Charlotte Roches enthemmte Selbstbeschäftigung verhindert geradezu eine ernsthafte Debatte über die Belange von jungen Frauen, wenn ihre Themen auch nicht unwichtig sind. Was bei Lady Bitch Ray als Bumsen für Gleichberechtigung gedacht ist, wird bei Charlotte Roche zum feuchten Traum, Mädchen sollten auch mal über ihre Hämorrhoiden und Analfissuren ohne Peinlichkeitsröte in einer aufgeklärten Zeit diskutieren können. Ja, auch das sind Themen. Es wären aber keine, würde man sie sachlich diskutieren. Das würde keinen interessieren. Berichten die neuen Alphamädchen dann in aller Klarheit darüber, dass sie im Schnitt 20 Prozent weniger Lohn für die gleiche Tätigkeit hierzulande verdienen als Männer, die Schönheitsindustrie Frauen nie schön genug werden lässt und sie Kind und Karriere kaum vereinen können – das bringt keinen wirklich aus der Fassung.

Der Erfolg der Alpha- und neuen deutschen Mädchen rührt nicht daher, dass sie endlich mal Klartext reden, sondern, weil sie gegen Alice Schwarzer Krach machen und darum in einem Rutsch mit Charlotte Roche und Lady Bitch Ray mal eben mit erwähnt werden. So gesehen haben wir es mit einem Medien-Feminismus zu tun. Der sexualisierte Tabubruch treibt eine Charlotte Roche in die Bestseller-Listen und eine Lady Bitch Ray in jede zweite Talkshow, nicht aber die Alphamädchen. Ernsthaft über die Probleme von Frauen wird in den Talkshows auch nicht diskutiert. Vielmehr protegiert der Medienbetrieb ein Bild von Weiblichkeit, das für Männlichkeit keine Gefahr bedeutet.

Übertreibung als Weg?

Die Geschlechterfrage wird heute zunehmend als Teil einer Unterhaltungskultur geklärt, dabei auch auf humoristische Weise oder durch die Kunst des Übertreibens. Man kann das natürlich als Protest lesen. Frauen kontern mit sexuell konnotiertem Angriffswitz. Ja, auch das ist der neue Feminismus, jetzt kommt der Aufstand der Unanständigen. So stellt die Linguistin Helga Kotthoff fest, dass gerade in den letzten zwei Jahrzehnten Frauen zunehmend humoristische Angriffslust entwickelten, selbst patriachatskritische Witze machen verstärkt die Runde (in Benimmbüchern des westlichen Kulturraumes begegnen uns bis in die 50er Jahre hinein Anweisungen an die „Damen“, ihr Lachen unter Kontrolle zu halten). Zugleich ist Witzigsein in unserer Gesellschaft noch immer männlich bestimmt - Frauen wird im Unterhaltungssektor eine „enthaltene Welterkenntnis“ (Helga Kotthoff) bis heute nicht im gleichen Maße attribuiert wie Männern. Kotthoff verweist dann auch zu Recht darauf, dass wir von einem weiblichen Woody Allen - schlecht frisiert, mit Dackelblick und die Lacher auf seiner Seite - noch immer weit entfernt sind.

Dass weibliche Selbstbestimmung auf kultureller Ebene, weniger jedoch hochtrabend auf der politischen Schaubühne eingefordert wird, ist zwangsläufig auch akademischen Überthematisierungen in einer Wissenswelt geschuldet. Alles wurde bereits gesagt und in Theorien gepackt. Geändert hat sich einiges (Deutschland hat eine Kanzlerin), aber nicht alles, und wer das immerzu wiederholt bringt nur gähnende Langeweile in den Geschlechterbetrieb.

Die Debatten hatten sich zunächst in den 60er und 70er Jahren an Autorinnen wie Luce Irigaray, der „Mutter des Differenzfeminismus“, und Simone de Beauvoir, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern postulierte, in der Wissenschaft entzündet. In den 90er Jahren setzte sich dann Judith Butler über den Streit zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus hinweg und sprach sich für eine völlige „Dekonstruktion“ des Geschlechts aus. Das Geschlecht stellt für Butler eine soziale Kategorie dar, die erst in der Vorstellung von Geschlechtern zu einer Definition von als weiblich und männlich geltenden Körpern wird.

Lady Bitch Ray vs. HHO

Diese Debatten mögen einige zum Nachdenken angeregt haben und sie waren gut. Für viele waren und bleiben sie aber schwer verständlich. Die Debatten wirkten verkopft, sie wurden von vielen auch als verkrampft und unsexy empfunden, als hätte man nicht nur ein Problem mit der Gesellschaft, sondern eins mit sich selbst. Viele der jungen Frauen wollen kein solches Problem haben. Sie wollen selbstbewusst sein, ihr Geschlecht nicht „dekonstruieren“. Sie wollen zu ihrer Weiblichkeit stehen, was immer das auch in der heutigen Zeit alles heißen mag.

Der Feminismus und seine Grenzen

Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Feminismus darum aber an seine Grenzen gestoßen. Vielfältig sind nicht nur die Vorstellungen von Weiblichkeit und die Frauen selbst. Es erscheint auch geradezu unmöglich, für „die Frauen“ zu sprechen, wenngleich die Frauenbewegung noch nie ein einheitliches Gebilde war. Auch fehlt ein klares Gegenüber, gegen den man vorgehen möchte. Den Vorwurf, Frauen würden die Errungenschaften des Feminismus nur hinnehmen und nicht mehr kämpfen wollen, muss sich zwar ein Großteil der jungen Frauen gefallen lassen (Alice Schwarzer: „Wie ganz und gar ungeil es den zwangsverschleierten Musliminnen und den meist aus dem Elend oder gar aus dem Frauenhandel rekrutierten Prostituierten und Porno-Darstellerinnen dabei geht - an diesen Gedanken scheinen die Post-Girlies noch keine Sekunde verschwendet zu haben“). Zugleich ist die Selbstbehauptung in einer noch männlich dominierten Welt für viele Frauen durchaus ein - wenn auch ein individueller und oft auch selbstgerechter - Kampf.

Auch haben sich die Protestformen verändert. Sie haben sich im Vergleich zu den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre nicht nur mehr als verdreifacht, wie der Protestforscher Dieter Rucht feststellt. Es ist heute auch durch die Vervielfältigung von Protestformen umso schwieriger, auf sich aufmerksam zu machen; Protestformen sind individualisierter, kurzlebiger und auch medialer als noch vor Jahrzehnten. Zu berücksichtigen sind dann auch all die Internetblogs und -foren von maedchenmannschaft.net bis hin zu femalehiphop.net, auf denen informiert und diskutiert wird. Das kann man nicht als süßes Nichtstun dahinstellen.

Die „Alpha-“ und „neuen deutschen Mädchen“ machen sich dennoch kleiner als sie sind, wirkt der Begriff „Mädchen“ doch eher niedlich als aufmüpfig und verspricht im Gegensatz zum Wortlaut der Riot Grrrls der 90er Jahre um Bands wie Hole oder Bikini Kill keine kämpferische Reklamation der Verhältnisse. Das Engagement und das dezente Kleinbleiben der „Mädchen“ stehen für eine Gesellschaft, in der die jüngere Generation nicht erwachsen werden will und kann, sich unter ständigem Erfolgsdruck immer wieder erneuern und selbst finden muss, ja, nie richtig ankommt, im Grunde „klein“ bleibt. Auf die Barrikaden wollen viele dann sicher nicht mehr steigen, das bringt mehr Unruhe als Sicherheit. Da geht man lieber gleich an die Uni oder ins Büro.

Feminismus, da war doch mal was

Vor zweihundert Jahren mussten Frauen das, sie protestierten lautstark – ihnen blieb nichts anderes übrig. Sie wollten gehört werden und das erreichen, was wir heute als gegeben hinnehmen. Die Französische Revolution von 1789 kann als Geburtsstunde des modernen Feminismus gelten. Die Frauen waren ihrem Ehemann zu Gehorsam verpflichtet, sie hatten keinen Anspruch auf Eigentum und Bildung. Darum stürmten Frauen aller Schichten während der Französischen Revolution Versailles und erhielten zwei Jahre später unter der gesetzgebenden Versammlung der Girondisten erstmals ihre Gleichstellung im Erbrecht und das Recht auf Besitz.

Im Jahre 1792 wurde zudem ein Gesetz verabschiedet, das die Ehescheidung ermöglichte (im Falle natürlich, dass beide Partner zustimmten). Die Publizistin Margret Karsch nennt diese Errungenschaften in ihrem Buch „Feminismus für Eilige“ zu Recht ein bis dahin absolutes „Novum“. In Deutschland mobilisierte vor allem die Zeit des „Vormärz“, wie die Zeitspanne vor der Revolution 1848/49 genannt wird, erstmals Frauen. Es folgte das Wahlrecht für Frauen 1918 (in den USA 1920), dann kamen die wilden 20er Jahre, in denen schon damals die Rede von der „Neuen Frau“ war. Äußerlich bildeten Bubikopf und Zigaretten ihr Erkennungszeichen. Die neue Frau stand für sexuelle Selbstbestimmtheit, für politische, ökonomische und kulturelle Emanzipation. Auch wurden schon damals Forderungen laut, sich frei für oder gegen eine Mutterschaft entscheiden zu können.

Im Dritten Reich wurden all diese Errungenschaften wieder gekippt; Frauen wurden aus Berufen gedrängt, und 1933 gab es einen Numerus Clausus für Studentinnen, wonach der Frauenanteil an den Unis nur zehn Prozent betragen durfte. Die 68er wollten sich all das wieder erkämpfen. Sie traten ein für berufliche, sexuelle und kulturelle Selbstbestimmung. Gerade die Frauenbewegung der 68er war intellektuell geschult wie nie zuvor. Sie bezog sich auf Werke von Wilhelm Reich bis hin zu Simone de Beauvoir (1908–1986), die in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ die Gleichheit zwischen den Geschlechtern einforderte. Ihre These, dass man nicht „als Frau zur Welt kommt“, sondern dazu „gemacht wird“, eilte um die Welt und wurde zur kämpferischen Ansage für eine studierende Elite.

Bitte lasst mich eine Frau bleiben!

Heute gilt dann eher, dass man als Frau geboren wird und es auch bleiben will. Einen „Gehorsamsparagraphen“ gibt es hierzulande nicht mehr, der in Deutschland erst 1957 ersatzlos gestrichen wurde und nach dem der Ehemann die Entscheidungsbefugnis „in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten“ hatte. Vorbei ist auch eine Zeit, in der bis 1976 die eheliche Arbeitsteilung in Deutschland der Mann bestimmen konnte und erst nach einer Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) den Partnern selbst überlassen wurde (zugleich bekam die Frau bis 1977 anstelle eines gleichen Rechts auf Erwerbstätigkeit die vorrangige Pflicht zur Haus-Ehe zugeteilt).

Gabriele Winker und Melanie Groß betonen in ihrem Buch „Queer- / Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse“ zu Recht, dass sich „das Individuum“ heute, egal ob Mann oder Frau, durch „eigene Erwerbsarbeit zu unterhalten“ habe. Das hat nicht nur die Geschlechterbilder durcheinander gebracht, es hat auch ein weibliches Selbstbewusstsein gestärkt.

Zugleich wird nicht alles besser in dieser freien Gesellschaft, auch schlechter. Die Schriftstellerin Tanja Dückers führt in der Wochenzeitung Die Zeit zu Recht an, dass „Dünnsein“ noch nie derart „aggressiv vermarktet“ worden ist wie heute, mit dem Ergebnis, dass jedes zweite Mädchen im Alter von zwölf Jahren in Deutschland bereits eine Diät hinter sich hat - Tendenz steigend. Und dass es Frauen oft doppelt schwer haben, wird nicht nur daran deutlich, dass sie heute einer zunehmenden Belastung durch Kind(er) und Karriere ausgesetzt sind.

Sie stolpern auch im Medienbetrieb immer wieder, wie auch das Beispiel Lady Bitch Ray zeigte. In sämtlichen Pressetexten wurde sie, die ihren Stil als „Fotzen-Power“ bezeichnet, belächelt. In der FAZ nannte sie ein Journalist ein „armes Provokationswürstchen im goldenen Glitzerdarm“. Selbst ein Gespräch in der als links geltenden Taz glich mehr einem Verhör als einem Interview. Man kann Lady Bitch Ray peinlich finden, ihre männlichen Szene-Kollegen sind es aber wenn genauso. Was Bushido, Sido und anderen aber vielfach gelingt, als Schmuddelrapper Aufmerksamkeit zu erzeugen und ernst genommen zu werden, schafft Lady Bitch Ray nicht.

Neue Weiblichkeit im HipHop und die Krise der Männlichkeit

HipHop ist die derzeitig führende Jugendkultur. Und gerade im Bereich HipHop wird immer wieder deutlich, dass sich vorrangig nur gut gebildete weibliche Interpretinnen auf die Bühne trauen, die sich ihrer schwierigen Situation bewusst sind. Die Rapperinnen Sookee, Pyranja, die Initiatorinnen des Netzwerkes femalehiphop.net - sie alle studieren, haben studiert oder promovieren jetzt. Viele der herum irrenden Klein-Bushidos in den selbst ernannten Gettos hingegen bekommen gerade mal ihren Hauptschulabschluss hin. Die Angst vor männlicher Insolvenz ist groß, da verwechselt man schon mal im Eifer des Geschlechts das Mikrofon mit dem Penis und geht in die Libidoofensive. Das tut auch Lady Bitch Ray. Sie inszeniert das Spiel sexualisierter Übertreibung, allerdings in Form ironischer, plakativer Gegenwehr gegen eine männliche Dominanz.

Sie zeichnet damit aber auch ein Bild von Weiblichkeit, welches Frauen als ebenso triebhaft dahinstellt und auch für junge Frauen einen Leistungsdruck in der Leistengegend bedeutet. Lady Bitch Ray und Charlotte Roche reagieren auch nur auf ein von Männern vorgegebenes Leistungsideal, das für eine Krise von Männlichkeit steht. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat „die Krise der Männlichkeit“ in seinem zuletzt erschienenen gleichnamigen Buch beschrieben. Er skizziert sie in Form eines bis heute anhaltenden „atomaren Rüstungswahn“ als Verhaftung an den „absoluten Feind“. Der junge Mann müsse „permanent siegen“, um „Leiden zu vermeiden“.

Richter blendet allerdings die Arbeitsmarkt- und die heutige Bildungssituation Jugendlicher gänzlich aus. Zwei Drittel aller Jugendlichen, die nur einen Hauptschulabschluss schaffen, sind männlich, jedes dritte Mädchen macht Abitur, aber nur jeder fünfte Junge, so das Ergebnis einer kürzlich erschienen Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Zu Recht hat der Jugendforscher Klaus Hurrelmann gefolgert, die jungen Frauen seien an den Männern vorbeigezogen; sie bleiben nur in Relation dazu auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt.

Ängste vor „Entmännlichung“, von denen Richter spricht, drücken sich vor allem darin aus, in einer Arbeitswelt zu versagen, in der die Geschlechter miteinander konkurrieren. Dass Frauen dann immer wieder auf Reize reduziert werden (das gilt auch immer mehr für Männer, aber in deutlich geringerem Maße), ihr Äußeres in einen Bewertungskatalog mit einfließt, liegt vor allem daran, dass Frauen vorrangig in Feldern tätig sind, in denen zunehmend kognitive Fähigkeiten abverlangt werden. Physische Voraussetzungen sind in einer auf Kommunikation ausgerichteten Lohnarbeitswelt immer weniger gefragt. Gerade darum wird der Körper in Stellung gebracht. Es gilt das zu verteidigen, was einem keiner nehmen kann: das Geschlecht. Wer keinen Abschluss schafft und keinen Job findet, kann immer noch die Hosen runter lassen oder andere auf Körperlichkeiten reduzieren. Dazu braucht es nicht einmal gute Noten.

Dass Frauen Männer nicht nur im Bildungsgrad überholt haben, sondern ihnen auch rein argumentativ vielfach überlegen sind, wurde beispielsweise deutlich, als King Orgasmus One, Porno-Rapper und -Produzent aus Berlin, sich in die Sendung „Menschen bei Maischberger“ wagte. Die Sendung wurde sogar von Alice Schwarzer moderiert. King Orgasmus One, mit wirklichem Namen Manuel Romeike, saß dort in einer Runde gut gebildeter Frauen und wurde sozialpädagogisch zur Rechenschaft gezogen. Romeike konnte kaum einen Satz geradeaus reden. Er durfte sich glücklich schätzen, dass er noch eine Sonnenbrille aufhatte, hinter der er sich verstecken konnte. Generell scheint es ohne Sonnenbrille kaum zu gehen: Auch in Lady Bitch Rays alter Sendung „Große Fische, kleine Fische“ trauen sich Rapper wie B-Tight nur mit Sonnenbrille vor ihr Publikum. B-Tight, King Orgasmus One, sie alle flüchten in Rollen, oft können sie nicht anders. Lady Bitch Ray hingegen nimmt eine Rolle an, obwohl sie anders kann.

Die Krise des Mannes wird zur Krise der Frau

Die Krise des Mannes wird aber trotzdem zu einer der Frau: Im Spiel der Übertreibung geraten nicht nur Probleme von Frauen aus dem Blickfeld, da es vorrangig um den Eklat, nicht aber um die Belange der Person geht. Indem Frauen die Männer im Bildungsgrad überholen, in der Tendenz aber noch immer nach besser gebildeten Männern suchen, finden sie auch immer schwerer einen Lebenspartner. Der Paartherapeut Stefan Woinoff rät den Frauen von heute „Überlisten sie ihr Beuteschema“, so der Titel seines Buches. Das Paarungsverhalten habe sich über hunderttausende von Jahren „genetisch eingebrannt“. Obwohl Frauen höher qualifiziert denn je sind, suchen viele nach wie vor den Status überlegenen Versorger und auch groß gewachsene Männer.

Kleine Männer sind dann auch für Lady Bitch Ray ein Problem: Als sie von MTV eingeladen wurde und Moderator Markus Kavka sie fragte, ob sie einen Freund habe, sagte sie „nein“. Aber Kavka würde ihr gefallen. Schnell korrigierte sie sich, denn er sei ihr eigentlich zu klein. Er ginge ihr schließlich nur bis zu den „Titten“. Kavka schien verwundert, vielleicht war er auch ein bisschen traurig. Wenn das allerdings das einzige Problem wäre, das Männer und Frauen heute noch zu lösen hätten, man wäre in punkto Gleichberechtigung wirklich weit gekommen.