AOK: "Alle Oder Keiner"

Notizen aus dem Krankentagebuch eines Freiberuflers und politische Anmerkungen zum Wandel im Gesundheitssystem. Teil 2

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Wer sagt eigentlich, dass Einrichtungen zur Versorgung von Kranken Profite abwerfen müssen? Sind Menschen mit einer neu geschenkten Gesundheit, gelinderte Schmerzen oder menschenwürdig versorgte Sterbende für unsere materiell so reiche Gesellschaft denn nicht Gewinn genug? Dass Profitdenken im Gesundheitssystem zur Kostensenkung beiträgt, die Qualität steigert oder ein gutes Zusammenwirken aller Beteiligten fördert, wird außer den Lobbyisten der einschlägigen Profiteure wohl auch niemand mehr öffentlich behaupten. Oder doch?

Außenwerbung einer gesetzlichen Krankenkasse (Foto: P. Bürger)

Wie unfein, schon diese ganze Gelddiskussion, hat vor einiger Zeit ein finanziell gut abgesicherter Ex-Entertainment-Seelsorger aus der Fernsehbranche gemeint. Immer wird über Kosten geredet und immer geht es nur darum, wer sie trägt. Wie materialistisch! Wo bleibt denn da die Menschlichkeit? Wie unfein, sagt möglicherweise ein anderer: „Mein privat versicherter Tischnachbar bekommt nicht nur ein leckeres Hirschragout, sondern auch das Doppelte an Einzeltherapien bei einem nur halb so schlimmen Krankheitsbild.“

Dass auch in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen an bestimmte Patientenklassen exklusive Mahlzeiten ausgegeben werden, mag man noch als merkwürdiges Relikt aus dem Feudalismus belächeln. Dass gesetzlich krankenversicherte Patienten inzwischen wochen- oder gar monatelang bei besonderen Fachärzten auf der Warteliste stehen und immer mehr gute Mediziner sich wegen des Budgetierungs-Terrors ganz auf Privatversicherte verlegen, ist hingegen nicht mehr lustig.

Im viel zitierten Artikel 1 des Grundgesetzes steht nicht, die Würde des Menschen sei lediglich etwas Unsichtbares bzw. Platonisches und nur dieses gewissermaßen hypothetisch-transzendentale Merkmal könne bei allen Menschen als gleich unantastbar gelten bzw. müsse geachtet und geschützt werden. Ist es wirklich mit Artikel 1 GG vereinbar, dass sich überlebenswichtige Fragen wie etwa der Termin für eine dringende Herzoperation nach dem wirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Person bzw. der Angehörigen richten? Es gibt nach meinem Dafürhalten gute Gründe, den seit Jahren vorangetriebenen Weg in die Zwei-Klassen-Medizin für verfassungswidrig zu halten.

Derweil lassen wir uns weismachen, wir müssten den privaten Krankenkassen für die Mitfinanzierung des ganzen Kuchens noch dankbar sein. Das aber wäre doch wohl erst dann angesagt, wenn diese sich etwa bei der Versorgung chronisch Kranker und beim Versicherungsschutz für nicht so gut situierte Familien mit Kindern ebenso stark einbringen wie die gesetzlichen Kassen. Wir lassen uns von gut versorgten Leuten auch weismachen, zum Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Kassen bei der allgemeinen Gesundheitssorge gebe es keine Alternative. Und schließlich stellt kaum jemand die Frage, warum es denn so viele verschiedene gesetzliche Krankenkassen mit ebenso vielen separaten Planungs- und Verwaltungsapparaten gibt und warum zu den Profilierungskampagnen der solchermaßen zersplitterten gesetzlichen Krankenversicherung neuerdings kostspielige Außenreklame gehört.

Legen Sie Widerspruch ein! – Manchmal sind die Krankenkassen oder deren Mitarbeiter nämlich besser als ihr Ruf

Leider muss ich meinen eigenen Erfahrungsbericht hier auch ganz materialistisch mit einer Kostenfrage fortführen. Nach der chirurgischen Verschraubung meines Oberschenkelhalsbruchs (ohne künstliches Gelenk) durfte meine rechte Hüfte zehn Wochen lang nicht belastet werden. Nimmt man den ebenfalls ruhig gestellten und chronisch schmerzenden Schulter/Oberarm-Komplex hinzu, so litt ich im Grunde unter einer „rechten Seite“ – ähnlich wie nach einem Schlaganfall.

Als multimorbider Rollstuhlfahrer war ich unfähig, die vier Treppenabschnitte zwischen Haustür und Wohnung nach oben oder unten zu bewältigen. Eigene Transfers in oder aus dem Rollstuhl waren äußerst mühselig. Das Mindeste, was ich Zuhause nach meiner Krankenhausentlassung brauchte, war – leihweise – ein Pflegebett mit einer Fernbedienung für die verschiedenen Höhenverstellungen und mit einem so genannten „Galgen“ (zum Hochziehen meines Körpers und zum imaginären Aufhängen an selbstmitleidsvollen Tagen). Die Verordnung dazu hatte das Stationsärzteteam auch ausgestellt. Aber dann kam die Nachricht vom Sanitätshaus, die Krankenkasse habe eine Kostenübernahme abgelehnt. Ein Pflegebett könne nur beim Vorliegen einer Pflegestufe bereitgestellt werden; aber eine vorübergehende Pflegestufe für Fälle wie den meinigen sei nicht vorgesehen (warum eigentlich nicht?). Mein Entlasstag musste verschoben werden (ein Tagessatz mehr für die Krankenkasse), bis ich eine behelfsmäßige Lösung gefunden hatte.

Nun habe ich durch Auseinandersetzungen mit den für meine Eltern zuständigen Stellen gelernt, dass man Bescheide zu Gesundheitsfragen niemals als Evangelium akzeptieren sollte. Meine Mutter leidet an Multipler Sklerose und ist völlig immobil. Sie braucht keine Wellness-Unterlage, sondern eine hochwertige Wechseldruckmatraze zur Vorbeugung von Druckgeschwüren. Nach einem argumentativen Schriftwechsel (nebst Hinweisen auf die juristische Relevanz vermeidbarer Hautschäden) ist ein solches Hilfsmittel auch (wieder) in ihre Wohnung gekommen. Nebenbei sei angemerkt, dass es für den Bereich der häuslichen Krankenpflege offenbar keine zuverlässige Studie hinsichtlich erprobter Anti-Dekubitus-Produkte gibt.

Die Qualitätsunterschiede der angebotenen Fabrikate sind aber erheblich. Sehr bald folgte das nächste Problem im Elternhaus. Obwohl mein Vater 16 Stunden am Tag „sauerstoffpflichtig“ war und sich kaum mittels Rollwagen fortbewegen konnte, verweigerte ihm eine ziemlich zynische Krankenschwester vom „Medizinischen Dienst der Krankenkassen“ die Bescheinigung einer Pflegebedürftigkeit der niedrigsten Stufe (leider werden Mitglieder von Pflegeberufen sehr leicht zu Komplizen der Sparpropheten, wenn sie die praktische Pflege verlassen und sich als kostenbewusste „Gesundheitsexperten“ Lorbeeren verdienen möchten). Auch hier haben wir eine erneute Begutachtung beantragt. Leider kam ein positiver Bescheid erst, als mein Vater sich schon auf den Tod vorbereitete. Die Pflegestufe hätte er weiß Gott früher gebrauchen können.

In meinem eigenen, vergleichsweise undramatischen Fall erwies sich mein Gesprächspartner bei der AOK sofort als einsichtig und äußerst hilfsbereit. Der Terminus „Pflegebett“ war falsch. Ich brauchte nach seiner Auskunft ein Bett, das meinen krankheitsbedingten Behinderungen gerecht wurde. Unter dieser neuen Kategorie wurde eine Kostenübernahme für ein Bett der oben beschriebenen Art genehmigt. Die AOK erstattete auch Vergütungen für einen Teil der jetzt notwendigen Haushaltshilfe, was bei gesetzlichen Krankenkassen durchaus nicht überall Standard ist, und sie übernimmt die kontinuierliche physiotherapeutische Betreuung meines Schulterkomplexes, der mir leider bis zur Stunde Anlass zu großer Sorge gibt. Bei der häuslichen Pflege machte die AOK allerdings keine Ausnahme bezogen auf den üblichen Unfug. So genannte Behandlungspflege wäre in meinem Fall erstattungsfähig gewesen. Mit einiger Mühe konnte ich mir aber linkshändig die Thrombose-Spritze selber verpassen. So genannte Grundpflege hingegen war nicht verordnungsfähig. Doch gründlich waschen konnte ich mich ohne Hilfe noch nicht. Meine langjährige Erfahrung mit unterschiedlichsten Unterabteilungen der AOK: Noch immer trifft man auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ein solidarisches Versicherungsideal als ihre Sache ansehen und manchmal eigenen Unmut über neue Entwicklungen nur mühsam verstecken können.

Im Einzelfall wird von schlecht informierten Ratgebern auch zu Unrecht unterstellt, die Krankenkasse werde sich bei einem bestimmten Anliegen ohnehin nicht kooperativ zeigen (mein Rat: fragen Sie immer selbst nach und begeben Sie sich nie vorab in eine Opferrolle). Allerdings kann ich persönlich meine Anliegen recht gut kommunizieren. Wie viel Gehör z.B. unerfahrene und hilfsbedürftige Patienten oder Angehörige ohne professionelle Pflegekenntnisse sich verschaffen können und ob diese Gruppen bei negativen Bescheiden überhaupt einen zweiten Anlauf unternehmen, vermag ich nicht zuverlässig zu beurteilen.

Für sehr kritikwürdig halte ich das gar nicht so unkomplizierte Prozedere zur Erlangung einer Befreiung von Zuzahlungen für Arztbesuche, stationäre Aufenthalte, Therapien und Medikamente. Wie viele Patienten hätten Anspruch auf eine solche Befreiung und nehmen sie nicht wahr? Würde unterm Strich nach Abrechnung der ganzen Zuzahlungsbürokratie noch etwas übrig bleiben, wenn alle materiell schwächer gestellten Anspruchsberechtigten in der Lage wären, auch wirklich einen Befreiungsantrag zu stellen, und wenn außerdem das asoziale Abkassieren von Zuzahlungen sogar bei Hartz-IV-Empfängern (z.T. mehr als 80 Euro/Jahr) eingestellt würde?

Mein Rat an andere Freiberufler ohne hohes Einkommen: Sammeln Sie alle Zuzahlungsquittungen und richten Sie bei der Apotheke Ihres Vertrauens eventuell ein Kundenkonto für Zuzahlungspflichtiges ein. Bei einer unverhofften schweren Erkrankung könnten auch Ihnen diese an sich nutzlosen Nachweise sehr nützlich werden.

Rehabilitation beim Gesundheitskonzern

Wer nach orthopädischen Eingriffen über viele Wochen hin seine Gelenke nicht belasten darf, kann – mangels „Reha-Befähigung“ – unmittelbar nach dem Krankenhausaufenthalt noch keine vom Sozialdienst organisierte Anschlussheilbehandlung wahrnehmen. In diesem Fall muss man eine Rehabilitationsmaßnahme nach der Entlassung selbst beantragen (für Gesunde mit etwas Ämter-Erfahrung nicht so schwer, für Kranke aber manchmal sehr anstrengend oder unmöglich). Wohl dem, der einen aufmerksamen Hausarzt hat und eine intelligente Ansprechpartnerin bei der Krankenkasse, die weiß, dass orthopädische Dauerschäden (aufgrund einer mangelnden Nachsorge) teuer werden können.

Fensterblick aus dem vom Verfasser belegten Zimmer in einer Reha-Klinik (Foto: P. Bürger)

Der zuständige Rentenversicherungsträger hat mir auf ein Eilverfahren hin eine stationäre Reha-Einrichtung zugewiesen. Da das Haus einen landschaftsbezogenen Namen führt, denkt man am ehesten an eine öffentliche Einrichtung. Der Träger ist aber eine Aktiengesellschaft, die bereits mehrere Dutzend Einrichtungen im ganzen Bundesgebiet unterhält. Im Beirat der Aktiengesellschaft sitzt z.B. ein Professor für „Qualitätssicherung in der Rehabilitation“.

Von diesem Fachmann würde ich nun gerne meine gesammelten „Tagespläne“ für insgesamt drei Reha-Wochen begutachten lassen. Dem therapeutischen Personal des Hauses und meinem Stationsarzt stelle ich rückblickend gute Noten aus.

Als motivierter Patient mit zwei Krankheitsschauplätzen musste ich mich jedoch mehrfach zur Therapieplanung aufmachen, um halbwegs akzeptable Therapiepläne einzufordern. Ohne mein eigenes mitgebrachtes „Therapieprogramm“ hätte ich an manchen Tagen hauptsächlich Däumchen gedreht. Ich finde das nicht akzeptabel. Eine Tagesklinik für Rehabilitation kann einen Patienten nur kommen lassen, wenn sie auch wirklich ein angemessenes Programm bereithält. In einer Reha-Klinik gibt es da vielleicht weniger Skrupel, denn der Patient hängt ja sowieso vor Ort fest.

Denken Sie nun nicht, es käme auf Quantitäten an. Ein Kranker merkt von selbst – auch ohne professionelle Kenntnisse – den Unterschied etwa zwischen einer Discount-Moorpackung und einer intensiven physiotherapeutischen Einzelbehandlung. Das eine ist im günstigen Fall ein schönes Wellness-Erlebnis oder eine gute Vorbereitung für eine manuelle Körperbehandlung, das andere aber ist unverzichtbar zur Behebung orthopädischer Schäden. Wenn das Verhältnis zwischen solchen qualitativ höchst unterschiedlichen Angeboten nicht stimmt und man Protest äußert, hört man nach meiner Erfahrung vermutlich eine der folgenden Begründungen: bei der Physiotherapie herrsche augenblicklich ein hoher Krankenstand, es gebe leider Probleme mit der Computersoftware für die Therapieplanung oder der Arzt habe wohl gewisse Verordnungen zu spät vorgenommen.

Im Foyer der Rehabilitationseinrichtung hing eine Auszeichnungsurkunde vom Januar 2008 für „Premiumpartnerschaft“ mit Betriebskrankenkassen. Zimmerkomfort und Gastronomie des Hauses ließen tatsächlich wenig zu wünschen übrig. Zur ganzheitlichen Rehabilitationsmedizin gehörten während meines Aufenthaltes auch Kino-Programme. So konnte ich zusammen mit vorwiegend älteren Mitpatienten die Filme „The Marine“ (DVD-Werbung: „Es knallt und kracht ohne Unterlass“) und „Transformers“ („epische Schlacht“ zwischen Gut und Böse) auf der Leinwand anschauen. Beide US-Titel sind im Rahmen meiner Studien zum propagandistischen Kriegskino von Interesse. Zum Kulturprogramm an Wochenenden gehörte außerdem ein Basar im Haus, bei dem z.B. Heilschmuck mit Magnetismus angeboten wurde.

Die Telefonanlage für die Zimmer war seit einiger Zeit auf „0180“-er Nummern umgestellt worden. Eine ältere Dame hat mir erzählt, sie riefe immer ihrerseits die Enkel und andere Verwandte an. Sonst wäre das ja einfach zu teuer für die Anrufer. Ich selbst habe auf eine Telefonanmeldung verzichtet. Warum es in dieser Reha-Einrichtung noch Montagsentlassungen gab, obwohl ab Freitagnachmittag an den Wochenenden gar kein Heilangebot mehr gemacht wird, können Sie sich vielleicht denken.

Ist der Physiotherapeut der Zukunft ein Roboter?

Besonders verwunderlich fand ich es während meiner Rehabilitation, dass die von mir aufgesuchte Einrichtung ganz nach dem klassischen Modell der Ärztehierarchie aufgebaut war. Wenn man orthopädischer Patient ist und wenn keine speziellen postoperativen Komplikationen vorliegen, sind es ja Mitglieder einer anderen Berufsgruppe, die einen wirklich weiterbringen: die Physiotherapeuten. Nicht jeder wünscht sich „Qualitätskontrolle“ und Innovationen im Bereich der medizinischen Rehabilitation. Wer dieses wichtige Feld jedoch weiterentwickeln will, wird Forschung, Ausbildung und Verschreibungspraxis im Bereich der Physiotherapie als vordringliche Themen ansehen. Es ist unsinnig, modernste Operationsverfahren anzuwenden, wenn die Leistung guter Chirurgen anschließend durch keine quantitativ und qualitativ ausreichende Physiotherapie gesichert wird.

Eine Schulter/Arm-Schiene mit Chip-Karte für individuelle Patienteneinstellungen (Foto: P. Bürger)

Vor einigen Jahren schlugen Vertreter von Krankenkassen vor, bei chronischen Erkrankungen „Therapiepausen“ im Bereich der physiotherapeutischen Verordnungen einzuführen. Deutlicher konnten sie eine Ignoranz gegenüber diesem Versorgungsfeld nicht eingestehen. Durch solche Therapiepausen kann man nämlich bleibende Verkürzungen von Muskeln, Sehnen oder Bändern im Bereich der Gelenke und mancherlei andere Deformationen produzieren. Kein halbwegs anständiger Richter würde bei entsprechenden Körperverletzungen die Verantwortlichen straffrei davon kommen lassen.

Physiotherapie ist kein Wohlfühl-Luxus, sondern eine zentrale Säule in vielen Heilungsprozessen. Aber man braucht qualifizierte Therapeuten, und deren Arbeit kostet Geld. Es ist nach meiner Überzeugung absehbar, dass physiotherapeutische Hilfsmittel wie Bewegungsmotoren für unterschiedliche Gelenke in den nächsten Jahren auf revolutionäre Weise weiterentwickelt werden. Die Chip-Karten der bisherigen Geräte können derzeit noch nicht alle Variablen der Bedienung erfassen.

Der Physio-Roboter der Zukunft wird aber wohl die individuellen Längen der Gliedmaßen erfassen, Art und Winkel der ausgewählten Bewegungsabläufe bestimmen, sensorisch gesteuerte und mit einem „Gedächtnis“ ausgestattete Programme zur Steigerung der physischen Belastung aufweisen und möglicherweise gar anspruchsvolle „manuelle“ Therapiegriffe ausführen. Wird man diese Roboter dann den privat versicherten Patienten im häuslichen Bereich zur Verfügung stellen, und den anderen zumindest eine Nutzung in öffentlich zugänglichen Zentren anbieten (z.B. auch gegen Münzeinwurf)? Wird man dann noch den klassischen Physiotherapeuten brauchen?

Um es unmissverständlich zu sagen: Technologische Revolutionen im Bereich der physiotherapeutischen Hilfsmittel, die allen Patientengruppen gleichermaßen zugute kommen, sind unbedingt begrüßenswert. Allein schon die passive, mechanische Bewegung von Gelenken kann viele Folgeerkrankungen verhindern und Schmerzen lindern. Dass Roboter den Physiotherapeuten einmal ersetzen werden, ist hingegen kaum vorstellbar. Mit den Worten einer Schriftgraphik in der von mir besuchten Reha-Klinik lässt sich das Ganze auf den Punkt bringen: „Menschen brauchen Menschen.“

Wenn der Physiotherapeut z.B. einen Schmerzpatienten nicht mental für eine Zusammenarbeit gewinnt, laufen alle seine Handgriffe ins Leere. Innerliche und äußere Bewegungen müssen gleichzeitig in Gang gesetzt werden. Therapeuten bringen ihr eigenes Körpergefühl und ihre Freude an unserer menschlichen Beweglichkeit ein. Zu den bemerkenswerten Ereignissen einer Therapiestunde gehören viele Dinge, die – wie ein befreiendes Lachen – in keinem Leistungskatalog stehen. Effektive Physiotherapie besteht zu einem Großteil auch aus Einübungen in eigenes, oft ganz alltägliches Tun des Patienten (eine sehr zeitaufwändigeVermittlungsaufgabe). Kurzum, Physiotherapeutinnen und Therapeuten sind unersetzlich. Wer ihnen so viel verdankt wie ich, wird ihnen jederzeit gerne eine Liebeserklärung machen.

Indessen sieht es mit der Motivationslage für diesen Berufsstand gar nicht so gut aus. Die Ausbildungsjahre werden zumeist noch immer selbst finanziert, erst recht die unerlässlichen Zusatzqualifikationen für manuelle Therapie, Lymphdrainage etc. Angesichts des neuen Windes, der bei den Krankenkassen weht, gehört zur Eröffnung einer eigenen Praxis schon viel Mut. Die schon jetzt mögliche Verbindung der Ausbildung mit einem speziellen Studiengang wird der Physiotherapie hoffentlich zu der ihr angemessenen Rolle bei der Erforschung, Gestaltung und Weiterentwicklung von Rehabilitation verhelfen. Keine Frage, sie braucht eine bessere Lobby.

Apropos: „Streik im Gesundheitswesen“

Im Februar 2008 waren viele Beschäftigte der von mir aufgesuchten Reha-Klinik sehr beunruhigt. Trotz vorangegangener Verzichtsleistungen beim Weihnachtsgeld hatte die Geschäftsleitung auf die schlechte Wirtschaftslage der Einrichtung verwiesen und neue Verzichtsleistungen gefordert. Ansonsten seien Entlassungen notwendig. Offenbar hatten einige Beschäftigte sich bereits neue Arbeitsverträge mit verschlechterten Konditionen andrehen lassen. Im Haus selber liefen ausgehängte Stellenausschreibungen auch unter dem Briefkopf einer separaten Personalgesellschaft des Mutterkonzerns (die Funktion solcher Gründungen beim Aushebeln von überkommenen Arbeitsverträgen ist wohl inzwischen allgemein bekannt).

Am 27. Februar fanden sich dann nach einem Aufruf der Gewerkschaft ver.di Beschäftigte aus allen Berufsgruppen zu einer „aktiven Mittagspause“ am Eingang der Klinik zusammen. In einer Presseerklärung wurden Verhandlungen über die Zukunft der Klinik gefordert. An Stelle von Lohnkürzungen oder Entlassungen, so teilte der Gewerkschaftssekretär mit, seien Perspektiven für die Zukunft der Einrichtung notwendig. Darunter verstanden einige vom Verfasser befragte Beschäftigte ein qualitativ neues Konzept in der physiotherapeutischen Begleitung mit individuell besser abgestimmten Therapieplanungen, mehr Einzeltherapien im Verhältnis zu den Gruppenangeboten und besseren Bedingungen für Eigentraining. Die löbliche Devise: Qualität vor Quantität beim Angebot. Das heißt: Mit weniger Menschen geht es auf Seite der Helfenden gerade nicht.

Eine „aktive Mittagspause“ von Gewerkschaftsmitgliedern und anderen Beschäftigten vor der vom Verfasser besuchten Reha-Klinik (Foto: P. Bürger)

Ähnliche Diskussionen werden derzeit in vielen Kliniken geführt. Allerdings verdienen Angehörige der Heil- und Gesundheitsberufe nicht nur Verständnis. Stets werben deren Interessensvertreter mit der hohen „sozialen Kompetenz“ des jeweiligen Berufsstandes. Doch wie weit her kann es mit dieser sozialen Kompetenz und namentlich mit der Parteinnahme für die ihnen Anvertrauten sein, wenn Pflegende, Therapeuten und Mediziner auf Streiks und drastische Maßnahmen zur Aufklärung der Öffentlichkeit verzichten?

Die unterentwickelte Streikkultur im Gesundheitswesen ist jedenfalls kein Ruhmesblatt. Streiks lassen sich intelligent gestalten, so dass kein wirklich Hilfsbedürftiger Schaden erleidet. Eine besonders niedrigschwellige Form wäre z.B. das Einstellen jeglicher Mitwirkung bei solchen Extraleistungen, die ausschließlich für Privatpatienten vorgesehen sind. Auf diese Weise könnten Gewerkschaften auch ein deutliches gesundheitspolitisches Signal gegen die Zwei-Klassen-Medizin setzen.

Arge Grundsicherungs-Angelegenheiten

Als freiberuflicher Publizist bearbeite ich Themen, die in kommerzieller Hinsicht eher uninteressant sind. Ich schreibe über regionale Sprachzeugnisse aus Südwestfalen, theologische Spezialitäten und Fragen einer dem Krieg zuarbeitenden Unterhaltungsindustrie. Bis zu meinem Unfall im November 2007 habe ich davon – mehr schlecht als recht – leben können. Wer sich solche Bedingungen für selbstbestimmtes geistiges Arbeiten aussucht wie ich, sollte jedoch nicht klagen. Aufstockende Sozialhilfe habe ich seit Beginn meiner Freiberuflichkeit im Jahr 2003 auch in sehr schlechten Monaten nicht beantragt.

Wer wie ich für keine Kinder sorgen muss, kann – wenn es ihm gefällt – so leben und obendrein noch mit seiner franziskanischen Gesinnung kokettieren . Indessen steht man wirklich auf dem Schlauch, wenn eine unvorhersehbare Krankheit kommt. Als Arbeitnehmer wäre man nach einem Unfall erst einmal abgesichert. Für einen kleinen Freiberufler kann es – trotz Künstlersozialkasse – schnell knapp werden. Eine bevollmächtigte Freundin hat deshalb für mich wenige Tage nach meiner Operation einen Antrag bei der ARGE auf Grundsicherung bzw. ALG II gestellt und dort auch – wie verlangt – meine Kontoauszüge vorgelegt.

Zwei Monate lang geschah nun wenig bzw. gar nichts, weil ich persönlich nicht vorstellig werden konnte. Am 9. Januar 2008 wurde es immerhin möglich, dass ein Freund mich im Rollstuhl bei strömendem Regen zur Behörde fuhr (ein Behindertentaxi hätte die ARGE nicht erstattet). Der Sachbearbeiter betonte, er und seinesgleichen würden immer wieder zu Unrecht in eine böse Ecke gestellt. Dann folgten unverschämte Belehrungen und Verdächtigungen. Sollte ich da wirklich ehrlich sagen, was ich über ihn dachte? Der Mann gehörte – seiner Bürotapezierung nach zu urteilen – offenbar der gleichen Gewerkschaft an wie ich. Er wollte mir auch irgendwie Mut machen. Seine Hausaufgabe für mich, eine Vierteljahresbilanz, habe ich dann linkshändig in den Computer getippt. Wiederum einen Monat später, bei Antritt der Reha-Maßnahme, war hinsichtlich meines Unterhalts immer noch alles ungewiss.

Einfach sollte es auch nicht werden: Durch meine KSK-Versicherungsbeiträge gab es 6 Wochen nach dem Unfall Anspruch auf ein geringes Krankengeld, welches etwa für meine sehr niedrige Miete und Energiekosten reichte. Dieses Krankengeld war vorrangig und wurde von der ARGE-Abteilung für Selbstständige aufgestockt. Es folgte aber ein Anspruch auf ein noch geringeres Übergangsgeld des Rentenversicherungsträgers. Nunmehr füllten Briefwechsel mit drei Stellen meinen Krankenordner. Zuwendungen ließen auf sich warten, weil dreierlei eben alles kompliziert macht. Für unterschiedliche Stellen gibt es den gleichen „Zugangsschlüssel“ für meinen gläsernen Status. Sie wissen alle alles, aber wo es dem Antragsteller zur Grundsicherung seines Lebensunterhaltes dient, fehlt ihnen offenbar die Freude an einer zügigen Kooperation. Wie teuer mag das alles sein? Mein persönliches Votum: Bürgergeld!

Vom Physiotherapeuten für den Hausgebrauch improvisiertes Hilfsmittel aus einem alten Frömmigkeitsbuch und einer Personnenwaage (p. Bürger)

Krankheit als Chance?

Sehr gerne würde ich eine richtig ermutigende Fortsetzung dieses Artikels schreiben. Ich zögere aber noch, denn die in Frage kommenden Themen liegen allzu sehr im Trend. So ist das für mich selbst Unvorstellbare geschehen: Zur eigenen Sinngebung des November-Unglücks habe ich von der Nikotinsucht Abstand genommen. Bis dahin war ich ein Kettenraucher, der sich längst in das Schicksal zunehmender Atemnot und Durchblutungsstörungen ergeben hatte. Den Entzug bekam ich in den ersten Krankenhauswochen gleichsam gratis. Vergessen Sie bei ähnlichen Vorsätzen den Griesgram der „Gesundheitsfaschisten“. Mein erster Winter ohne Atemwegsinfekt liegt hinter mir. Die Freuden einer besseren Durchblutung sind auch nicht zu verachten. Nichtrauchen ist wirklich schön. Nur schade, dass es die Zigarette ohne Reue noch nicht gibt.

Und dann wäre da meine erneut entflammte Kleinkinderliebe. Im Februar habe ich, endlich wieder auf zwei Beinen humpelnd, meine Schmerzmittelrationen erfolgreich mit einem täglichen Besuch des nahen Schwimmbades ausgetauscht. Seitdem schaue ich regelmäßig beim Säuglingsschwimmen zu, bekomme gute Laune und wundere mich, dass mir dieser Spaß noch vor einigen Monaten ganz unbekannt war. Liebe Ursula von der Leyen: In den Schwimmhallen unserer Städte, diesen multikulturellen Tempeln der Gegenwart, tummeln sich die sonst meist unsichtbaren Kleinkinder mit ihren Mamas und Papas. Auch die zukünftigen Eltern mit Vorfahren aus allen verschiedenen Himmelsrichtungen der Erde flirten hier schon und werden hoffentlich in einer nahen Zukunft mit ihren Kleinen dafür sorgen, dass die Wörter „Rasse“ oder „deutsches Volk“ aus unserem Sprachschatz ersatzlos verschwinden. Brauchen wir wirklich noch andere Kampagnen zum Thema Nachwuchs?

Diesen Artikel widme ich der heiligen Hedwig, meiner Lieblingskrankenschwester vom November 2007.