Armut in Wahlkampfzeiten

Die arg strapazierte SPD müht sich um ihr soziales Image, während die Parteien Armut zu ihrem Steckenpferd machen

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Für eine Erhöhung des Arbeitslosengeld II-Satzes wurde am Montag in Berlin vor dem Brandenburger Tor demonstriert. Mit Farbbeuteln attackierten Aktivisten vom Berliner Sozialforum dabei die "Ignoranz" - in Gestalt von Peter Hartz, verkörpert von einer symbolischen Figur. Die Mitglieder des Sozialforums forderten während der Performance eine Regelsatzerhöhung auf 500 Euro, die bedarfsgerechte Aufstellung des Kinderregelsatzes in erwerbslosen Haushalten und die Abschaffung der Leiharbeit, die zu Existenzunsicherheit führe. Partner im Protest waren gewerkschaftliche Erwerbslosengruppen unter dem Dach des DGB Berlin. In punkto Leiharbeit war man in diesen Reihen etwas weniger radikal als beim Sozialforum. Doch wandten sich auch die Erwerbslosengruppen gegen Armutslöhne und forderten 420 Euro Regelsatz für Erwerbslose.

Zur gleichen Zeit fand die Expertenanhörung zur Alg-II - Regelsatzbemessung vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales im Bundestag statt. Die Opposition von Linkspartei und Grünen hatte diesen Termin erwirkt. Zwar brachte er keine ernsthafte Aussicht auf Änderung. Mit einer knappen Stunde war die Anhörung angesetzt Zu den Experten zählte ein Vertreter des CDU-nahen Instituts für die Zukunft der Arbeit. Die Forderung von Linken und Grünen nach erheblich mehr Arbeitslosengeld II vertiefte noch einmal die Widersprüche in der Politik der großen Koalition. Ständig steigende Lebenshaltungs- und Energiekosten, und besonders der jüngste UNICEF-Bericht zur Kinderarmut nötigen ihr zunehmend Rechtfertigung auf.

Seit Ende 2007 werden auch aus Teilen der Grünen-Fraktion deutlichere Töne laut, was die Sozialgesetzgebung betrifft. Wollte die Linke schon seit mehr als zwei Jahren die Anhebung beim Arbeitslosengeld, so sehen nun auch die Grünen höhere Eckregelsätze für notwendig an und wiesen etwa auf die Angemessenheitsrichtlinie des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes von 420 Euro hin.

Die Parteien entdecken das Soziale

Zentral ist im neuen Antrag der Grünen die bedarfsgerechte Errechnung eines monatlichen Regelsatzes für Kinder unter 15 Jahren. Sie entdecken nun, was Sozialverbände und Erwerbsloseninitiativen seit langem anprangern: Einen speziell zugemessenen Bedarfssatz für Kinder von 7 bis 14 Jahren gab es nicht in der Sozialgesetzgebung der Hartz-Kommission. Für Kinder bis 15 Jahre hatte mit 208 Euro monatlich die errechnete Bedarfspauschale eines alleinstehenden Rentnerhaushaltes zu gelten.

Die Veröffentlichung des UNICEF-Berichtes korrigierte den geschönten Armutsbericht von Sozialminister Scholz. Jedes sechste Kind in Deutschland lebe unter der Armutsgrenze, so UNICEF. Weiterhin wurde auf die gesundheitliche und psychische Gefährdung der Kinder in einkommensschwachen Familien verwiesen. Dass das Alg II für Kleidung, Schulessen und Schulausflug sowie Lernmaterial nicht ausreicht, wurde damit offiziell.

Die SPD, ohnehin seit Monaten an Popularität schwer einbüßend, geriet damit noch zusätzlich unter Druck. An die Regelsätze will man hier jedoch nicht ran, abgesehen von einzelnen Stimmen wie dem Fraktions-Linken Ottmar Schreiner, die wegen der drohenden Gasteuerung auch für eine Alg II-Erhöhung laut wurden. Doch die SPD versucht, auf ihrem Kurs fortzufahren. Im Jahr vor der Bundestagswahl wird Thema Armut für alle Parteien zum Steckenpferd. Das machte sich bereits bemerkbar, als die Vorsitzenden der großen Koalition auf die geplante Diätenerhöhung im Bundestag verzichteten – weil sie, mit den Worten von Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach "für die Bürger nicht vermittelbar" war.

Nach dem UNICEF-Bericht zur Kinderarmut präsentierte die SPD ihren Zehn-Punkte-Aktionsplan, gefolgt von der FDP, die im Bundestag ein "Gesamtkonzept" gegen die Kinderarmut forderte. Westerwelle überraschte auf dem FDP- Parteitag mit der Betonung des Sozialen und packte den hinlänglich bekannten Fehler der SPD auf den Tisch, Geringverdiener mit Kindern steuerlich zu benachteiligen. FDP und CDU plädierten dann für eine Anhebung des Kindergelds und einen höheren Kinderfreibetrag. Mit dem längst fälligen Zugeständnis, den Kinderfreibetrag für Geringverdiener umzugestalten, zieht die SPD jetzt nach. Außerdem sollen kostenlose Mittagessen und Schulbücher für Bedürftige sowie eine gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Hochschule bereitgestellt werden. Getreu ihrer Bewertung im nationalen Armutsbericht betont die SPD weiterhin Bildung und Betreuung als maßgeblich, um das Armutsrisiko abzuwenden.

"Passive Leistungen" bei den Jobcentern sollen reduziert werden

Doch die Politik der Stärkung des Niedriglohnsektors ist vom Phänomen Armut nicht zu trennen. Und weiterhin blenden SPD und CDU ebenso wie FDP die Lage der von staatlicher Grundsicherung Abhängigen aus. "Franz Müntefering versprach, bis Februar diesen Jahres die Berechnung der Alg II- Regelsatzhöhe überprüfen zu lassen. Doch nichts ist passiert", bringt Rainer Wahls vom Berliner Sozialforum in Erinnerung. Das zeige, wie wenig von den Versprechungen der Partei, die die Agenda 2010 aus der Taufe hob, zu halten sei. Wahls kritisiert außerdem die Argumentation der SPD, dass Bildung und Zeitmanagement in den einkommensschwachen Familien maßgeblich wären, um Armut zu verhindern. "Damit schafft man eine Ausflucht und schanzt Bildungs- und Integrationsmaßnahmen vor, anstatt den bildungsfernen Schichten einfach mehr Geld zur Verfügung zu stellen", so Wahls. Beim Sozialforum mache man sich seit Beginn von Hartz IV keine Illusionen über den Gang der SPD. Deshalb thematisierten die Sozialforums-Mitglieder die Armutsverwaltung mit Hartz IV ebenso wie die SPD-Politik der prekären Beschäftigung mit der Leiharbeit.

Ein doppeltes Spiel zeigt die SPD allerdings auf dem Gebiet der Erwerbslosenverwaltung. Im "Bericht zur Lage in Deutschland" von Minister Scholz wurde auf die Sozialtransfers wie Kindergeld und Arbeitslosengeld II hingewiesen, die verhinderten, dass 34 Prozent der Kinder in Armut landeten (gemäß Scholz` Bericht beträgt die statistische Höhe der Kinderarmut 12 Prozent, laut UNICEF sind es mindestens 15 Prozent). Was noch wenig bekannt wurde: Der Arbeits- und Sozialminister zeichnet verantwortlich für eine gemeinsame Zielvereinbarung 2008 mit dem Finanzministerium und der Bundesagentur für Arbeit. Demnach sollen die "passiven Leistungen" bei den Jobcentern im Jahresverlauf um 6,5 Prozent gesenkt werden.

"Aufforderung zum Rechtsbruch"

Die tatsächliche Arbeitsmarktentwicklung interessierte nicht bei der Zielsetzung, bei der die Bezüge von Alg-II-Regelsatz, Unterkunfts- und Heizungskosten und Mehrbedarfe – etwa für Alleinerziehende - reduziert werden sollen. Die "Zielvereinbarung 2008" - für Harald Thomé, Fachreferent für Sozialrecht bei dem Wuppertaler Tacheles e. V., ist sie ein Skandal. "Dies bedeutet die ministeriale Aufforderung zum Rechtsbruch", so Thomé, der seit vielen Jahren Erwerbslose und Sozialhilfe-Leistungsempfänger berät. "Mit der Zielvereinbarung werden immer mehr Menschen aus den Leistungsbezügen bei den Jobcentern gedrängt – obwohl sie auf diese einen klaren Rechtsanspruch haben."

Die ARGEn würden damit angewiesen, planmäßig Zugangshürden für den Bezug von Leistungen aufzubauen - etwa indem Sachbearbeiter nicht mehr persönlich und telefonisch erreichbar sind, Erstantragsquoten gesenkt und mehr Sofortangebote gemacht werden. Thomé kennt "diese Mechanismen, mit denen das gemacht wird. Auch heute noch, dreieinhalb Jahre nach Beginn von Hartz IV, sind 70 bis 80 Prozent der Bescheide, die auf den Tischen der Beratungsstellen landen, falsch - natürlich zu Ungunsten der Betroffenen."

Weiteres Vorhaben laut Zielvereinbarung: Integrationen der Jobcenter sollen um 10,3 Prozent steigen. Dass dabei nur sinnvolle und notwendige Maßnahme wie Qualifizierungen für sozial Benachteiligte vorgesehen sind, sieht Thomé nicht garantiert. Er befürchtet, dass auch mehr Verfolgungsbetreuung auf dem Programm steht: Sogenannte "Sofortangebote" zur Abschreckung, Trainingsmaßnahmen zur Prüfung der Arbeitsbereitschaft, zur Eingliederung nicht erforderliche Ein-Euro-Jobs oder Meldeaufforderungen zur Prüfung der Ortsanwesenheit. Begründet wird die jährliche Schaffung solcher Zielvereinbarungen mit Paragraph 48 des SGB II – eine Art Ermächtigungsgesetz für Arbeits- und Finanzministerium und Bundesagentur für Arbeit. "Ein zentrales Steuerungsinstrument der Armutsverwaltung in Deutschland", so Thomé. Mehr zivilgesellschaftliche Proteste seien gegen diese "Entwicklung der alimentierenden und drangsalierenden Armutsverwaltung" dringend notwendig.

Höhere Regelleistungen für Kinder seien längst überfällig. In 2007 mussten rund 1,9 Mio. Schüler von Alg II leben – "Schulbücher und andere Materialien sind nicht drin mit diesem Geld", meint der Berater für Sozialrecht. "In alten Sozialhilfezeiten ging das Geld zum 26. des Monats aus, seit Hartz IV war es meistens der 18." Die Erwerbslosen müssten jetzt für höhere Regelleistungen und gegen die Entrechtungsstrategien durch die politisch Verantwortlichen eintreten. Aufgrund der diversen bevorstehenden Wahlen sieht Thomé den Moment dafür günstig.