"Unsere Verbündeten im wilden Osten"

Das westliche Zerrbild von orientalischen Christen

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Sie mögen ihm nicht „säkular genug“ sein - dennoch gelten die Christen des Orient dem Westen als Verbündete. Ein verzerrtes Bild, wie der Blick in den Libanon zeigt.

Vor allem Libanons Maroniten prägen die Wahrnehmung des Okzident, alle christlichen Orientalen seien seine Alliierten. Schließlich verhalf er ihnen zu ihrer in den christlich-orientalischen Annalen beispiellosen Erfolgsgeschichte: Die Maroniten, die sich vermutlich um 1000 n. Chr. im Libanongebirge ansiedelten, stellen bis dato die einzige Christengemeinde im Orient mit politischen Gewicht. Zudem kam ihnen das im Osmanischen Reich implantierte Wirtschaftsmodell zugute: Gemäß der Agrarbesteuerung trieben Lokalherren die Steuern von den Pachtbauern ein – ohne nach deren Konfessionen zu fragen.

Da Christen wie Juden als Schutzbefohlene mit einer gewissen Autonomie galten, etablierte sich in dem durch die Scharia regulierten Alltag ein säkular verankerter religiöser Pluralismus. Die Gemeinden der Christen, Juden, Araber, Griechen, Armenier und derer vom Balkan koexistierten Jahrhunderte lang unter osmanischer Dominanz, ohne fortwährende leibliche Bedrohung oder Progrome – im Gegensatz zu den Nicht-Christen in Europa.

Semi-säkulares Gemeinwesen bis 1850

Doch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begann das friedliche Miteinander zu bröckeln. Unter dem Druck des verstärkt intervenierenden Europas hatten die Osmanen 1840 Reformen erlassen, welche die zivilrechtliche Gleichheit von Muslimen und Nicht-Muslimen anordneten. Das klingt nach einer Aufweichung jeglicher Grenzen, war aber der Auftakt zum genauen Gegenteil: Wie sollen vor dem Gesetz alle gleich sein und doch - etwa in der Schulbildung oder in standesrechtlichen Fragen – autonom bleiben?

Dafür dass der Widerhaken bestehen blieb, sorgten die Europäer, die längst verbissen um die Region wetteiferten und sich als Garanten "ihrer" Gemeinden aufspielten. Die Franzosen bei den Maroniten, die Briten bei den Muslimen. Mit dem Konfessionalismus wurde auch der Territorialismus geweckt. Wer sich als gesonderte Gemeinde wahrnimmt, verspürt bald den Wunsch nach der eigenen Nation.

Zwischen 1840 und 1860 etablierten Frankreich und England die Territorialisierung der muslimischen (drusischen) und christlichen (maronitischen) Gemeinden. Das Resultat bestand aus einer doppelten Präfektur, in der jede Gemeinde die jeweils eigene Konfession repräsentierte. Allein der so heraufbeschworene Verwaltungsaufwand trieb absurde Blüten: Die Bewohner selbst kleiner Dörfer waren konfessionell gemischt. Die unter anderem durch diese administrative Verwirrung heraufbeschworenen Konflikte entluden sich 1860 in blutigsten Massakern, dem ersten libanesischen Bürgerkrieg.

Ab dieser Zeit wurde der Zugriff der Europäer immer einschneidender. Unmittelbar nach den Ereignissen von 1860 wurde das europäische Interesse an der Errichtung eines christlichen Staates deutlich: das Gesetz von 1861 sah vor, dass der Gouverneur des Libanongebirges ein Christ ist, was durchaus im Sinne vieler Maroniten war. Als die kolonialen Siegermächte nach dem ersten Weltkrieg über die Landkarte Arabiens wie über einen Legokasten herfielen, machte der maronitische Patriarch Elias Hoyek bei der Pariser Friedenskonferenz den Wunsch nach einem von Syrien unabhängigen und möglichst christlichen libanesischen Staat daher zum Imperativ.

Bereits damals verstanden viele Maroniten unter Unabhängigkeit nicht die vom Westen, sondern die von Syrien - und damit die vom Islamischen Staat, den Muhammad im 7. Jahrhundert errichtet hatte.

Abgedrängte Stimmen

Allerdings – und das ist das Entscheidende - ist bis heute fraglich, wie repräsentativ Hoyeks Position für die Maroniten war. Im breiten Diskurs blieben zumindest all jene konkurrierenden Identitätsdebatten marginalisiert, die die vom Westen initiierte und auf konfessionelle Proporzsysteme gegründete Kantonisierung lostrat. Etwa jene Initiative, die für einen säkularen, von arabischer wie französischer Einmischung freien Nationalstaat eintrat.

Abgedrängt wurde auch Ahmed Fares Shidyaq (1805-1887). Der Bibel-Übersetzer und Verfechter des Rechts der Frau auf sexuelle Befriedigung – wenn nötig, auch außerhalb der Ehe -, trat für die Aufrechterhaltung der osmanischen Herrschaft und der islamischen Gemeinschaft ein. 1860 konvertierte der Christ zum Islam, abgestoßen von den "1000 Gräueltaten" des katholischen Klerus, wie er in seinem Meisterwerk, dem Roman "La jambe sur la jambe" schrieb.

Michel Aflaq wiederum (1910-1989), der spätere Gründer der Baath-Partei, zählt zu den Christen, die den arabischen Nationalismus anführten. Eine Bewegung, die sich gegen jegliche Fremdherrschaft, ob westlicher, türkischer oder persischer Art, aufbäumte und die durch ihre Befürwortung einer säkular-arabischen Gemeinschaft den Gegenentwurf zur islamischen Gemeinschaft lieferte.

Zu den Gruppierungen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten, gehört die von dem griechisch-orthodoxen Libanesen Antoun Saadeh 1932 gegründete "Syrische Soziale Nationalistische Partei". Bis heute legt sie sich ihre eigene Heimat namens "Großsyrien" zurecht. In den Territorien Syriens, Libanons, Palästinas und wohl auch Jordaniens und Zyperns entdeckte der "Führer" Saadeh eine natürliche geographische Einheit, die lange vor der mohammedanischen Botschaft existiert habe und eine eigene Zivilisation bilde. Degeneriert sei diese erst unter dem Einfluss arabischer Nachbarländer.

Der Erfolg von Saadeh ist auf eben diese Rückbesinnung auf die vorislamische Zeit – unter Auslassung jeglicher Konfessionszugehörigkeiten - zurückzuführen. Er entwarf gewissermaßen eine säkulare, zivilisatorische Gemeinschaft, in die sich viele Nicht-Maroniten auch deshalb zurücksehnten, weil sie eine andere Demographie als die Maroniten aufwiesen: Weit über das Libanongebirge hinaus hatten sie ihre Wurzeln in Palästina, Transjordanien und Syrien. Die noch heute existierende Partei gehört zu den erbittertsten Gegnern der westlichen Politik.

Konfessionalismus in Reinkultur

Doch es sind vor allem die Christen, die aktuell hinter Michel Aoun, dem Maronitenführer und engsten Hizbollah-Alliierten, stehen, die das westliche Konstrukt eines reibungslosen tête à tête mit den orientalischen Glaubensbrüdern unterlaufen. Hierin lebt der alte Pluralismus fort. Eines aber hat sich grundlegend geändert. Der Säkularismus, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt wurde und bis Mitte des 20. Jahrhunderts wieder belebt werden sollte, scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der Tagesordnung verschwunden. Nie zuvor in der Landesgeschichte hat der Konfessionalismus in solchem Ausmaß getobt.

Die Christen scheinen dabei wie mit einem Lineal unterteilt: die Anhänger Michel Aouns reihen sich in die "pro-arabische Achse" der Hizbollah, der Hamas, des Iran und Syriens ein, die Anhänger des gleichfalls maronitischen Samir Geagea in die "pro-westliche Achse" der USA, Europas, Israels und der "gemäßigten" arabischen Diktaturen. Der Konfessionsführer ist der Meinungsführer.

Der westliche Betrachter mag angesichts von soviel Konditionierung den Kopf schütteln. Doch darüber vergisst er, dass es sich um eine relativ junge Erscheinung handelt, hervorgerufen vor allem - durch seine Politiker.