Industrialisierung der Krankenversorgung durch Privatisierung?

Seit 1991 ist der Anteil privater Krankenhäuser in Deutschland von 15 auf 27 Prozent gestiegen. In einigen Jahren könnte er bei 40 Prozent liegen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Auch der Gesundheitssektor unterliegt hierzulande den Gesetzen der Marktwirtschaft, unabhängig davon, ob diese tatsächlich berechtigt ist, den Zusatz "soziale" zu führen. Allgemeine Krisensymptome, Finanzierungsprobleme oder Rationalisierungsschübe treffen Beschäftigte und Patienten oft ebenso unvermittelt wie die zunehmend desorientierten Teilnehmer am spätkapitalistischen Wirtschaftskreislauf. Und noch eines hat der Gesundheitsmarkt mit all den anderen Märkten gemeinsam: Die politischen Verantwortungsträger, die sich am runden Tisch Optimalkonstellationen vorgestellt hatten, zeigen noch immer Perspektiven auf, die mit der Realität längst nichts mehr zu tun haben.

Die Gesundheit ist eines der höchsten Lebensgüter. Es ist das Ziel der Gesundheitspolitik, die Gesundheit der Bürger zu erhalten, zu fördern und im Krankheitsfall wieder herzustellen. Gesünder leben, länger leben und aktiver leben zu können, dies ist für jeden Bürger bestmöglich zu gewährleisten. Das Gesundheitswesen qualitativ auf hohen Stand und gleichzeitig finanzierbar zu halten, ist die Herausforderung, vor der die Gesundheitspolitik heute und auch in Zukunft steht. Dazu bedarf es eines umfassenden Systems gesundheitlicher Sicherung, das allen Bürgern wirksam und ohne Hindernisse zur Verfügung steht.

Bundesministerium für Gesundheit

Dass diese hehren Vorgaben längst zur Phrase erstarrt sind, weiß jeder, der mit dem ernüchternden Alltag einer offensiven Zwei-Klassen-Medizin nähere Bekanntschaft machen musste. Doch das eigentliche Problem liegt tiefer und beginnt sehr viel früher. In Deutschland fehlen zunehmend die strukturellen, finanziellen und institutionellen Voraussetzungen, um der eigenen Aufgabenstellung - ein umfassendes System gesundheitlicher Sicherung für JEDEN Bürger bestmöglich zu gewährleisten - gerecht zu werden.

Privatisieren und Outsourcen

Eine aktuelle Studie von Nils Böhlke und Thorsten Schulten, die am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans Böckler-Stiftung arbeiten, zeigt nun, dass in den vergangenen knapp 20 Jahren in keinem anderen europäischen Land so viele Krankenhäuser privatisiert wurden wie in Deutschland. Gleichzeitig sank die Investitionsbereitschaft der Länder, die 1984 noch bei 2,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gelegen hatte, auf 1,3 Prozent im Jahr 2004. Auf Ministerebene sind diese Zahlen bestens bekannt, zumal sie vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in regelmäßigen Abständen wiederholt werden. So monierte der Rat im Jahr 2007:

Seit dem Jahr 1991 sind die bereinigten Kosten der Krankenhäuser nominal um rund 52 % gestiegen, während die Länder die öffentliche Investitionsförderung nach § 9 KHG um mehr als 25 % reduziert haben (Stand: 2006). Offenbar gelingt es der öffentlichen Hand kaum noch, die vorhandene Krankenhausstruktur mit ausreichend Investitionsmitteln zu versorgen.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen

Die Zahl der Krankenhäuser, die sich in öffentlicher Trägerschaft befinden und auf solche Investitionen angewiesen sind, geht derweil immer weiter zurück. Nach den Berechnungen von Böhlke und Schulten, die sich auf Zahlen des internationalen, von der EU-Kommission finanzierten Projektes PIQUE stützen, lag ihr Anteil 2006 nur noch bei 34 Prozent und sank damit um veritable 12 Prozent gegenüber 1991. Im gleichen Zeitraum blieb der Prozentsatz der freigemeinnützigen Krankenhäuser, die von Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden getragen werden, relativ konstant, während die privaten Kliniken ihren Marktanteil von knapp 15 auf mehr als 27 Prozent steigern konnten.

Die Autoren gehen davon aus, dass sich die Privatisierungswelle mit kleineren zwischenzeitlichen Eintrübungen in naher Zukunft fortsetzen wird und "perspektivisch bis zu 40 Prozent" aller Krankenhäuser in Privatbesitz übergehen. Schließlich hätte schon jetzt mehr als die Hälfte aller öffentlichen Krankenhäuser - auf dem Wege der Umstrukturierung in eine Körperschaft privaten Rechts - eine „formelle Privatisierung" durchgeführt. Außerdem würden immer mehr öffentliche Kliniken komplette Arbeitsbereiche wie Reinigung, Küche oder Labor-Untersuchungen an private Firmen outsourcen beziehungsweise die entsprechenden Aufträge an eigene Tochtergesellschaften vergeben.

Übernahmen und Großkonzerne

Dass diese Entwicklung auch vor großen Kliniken nicht Halt macht, bewies der Verkauf des Krankenhausverbundes LBK in Hamburg, der 2005 mit den Standorten in Altona, Barmbek, Eilbek, Harburg, St. Georg, Wandsbek und der Einrichtung Klinikum Nord von der Asklepios Gruppe aufgekauft wurde. Asklepios verwaltet mittlerweile etwa 22.000 Betten, beschäftigt 36.000 Mitarbeiter in Deutschland, Europa und den USA und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von 2,3 Milliarden Euro.

Nur ein Jahr später übernahm die Rhön-Klinikum AG das renommierte Universitätsklinikum Marburg-Gießen. Mit derzeit 47 Krankenhäusern, 18 Medizinischen Versorgungszentren und 32.000 Mitarbeitern gehört das seit 1989 börsennotierte Unternehmen ebenfalls zu den Protagonisten auf dem umkämpften Gesundheitsmarkt. Wolfgang Pföhler, Vorstandsvorsitzender der Rhön-Klinikum AG, hatte denn auch bereits explizit für eine „Industrialisierung“ des Arztberufes geworben und damit energischen Widerspruch seitens der Bundesärztekammer provoziert. Deren Präsident, Jörg-Friedrich Hoppe, zitierte „einen Klinikmanager“ auf dem 110. Deutschen Ärztetag in Münster mit den Worten:

Die derzeitige Leistungserbringung entlang der Wertschöpfungskette am Patienten im Krankenhaus folgt zudem weniger einer industriellen Fertigungslogik, sondern ist durch ein tradiertes, eher handwerkliches Arztverständnis geprägt. Aus ökonomischer Sicht sind die Ärzte dort einzusetzen (…) wo sie die größte Wertschöpfung erbringen. Mit der neuen ärztlichen Arbeitsteilung geht die Krankenversorgung denselben Weg der Industrialisierung wie die Automobilindustrie vor hundert Jahren.

„Klinikmanager“ zitiert von Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Friedrich Hoppe

Der Präsident versprach daraufhin:

Aber bevor das passiert, werden wir von Freiberuflern zu Freiheitskämpfern!

Jörg-Friedrich Hoppe

Deutschland hat mit der Privatisierung einen Sonderweg beschritten, der in Europa ohne Beispiel ist. Denn in den meisten Nachbarländern werden allenfalls Dienstleistungen ausgelagert oder sogenannte Public-Private-Partnerships vorangetrieben.

In Schweden wurde im Jahr 2004 von der damaligen sozialdemokratischen Regierung sogar ein gesetzliches Verbot einer weiteren Privatisierung von Krankenhäusern erlassen. Gemessen an der Bettenkapazität ist der Marktanteil privater Krankenhauskonzerne in Deutschland heute schon fast so hoch wie in den USA. Lediglich Frankreich verfügt traditionell über einen noch größeren gewinnorientierten Krankenhaussektor.

Nils Böhlke/Thorsten Schulten

Budgetdeckelung, Fallpauschalen und Finanzierungslücken

Einen wesentlichen Grund für den Trend zu immer mehr Privatisierungen haben die deutschen Gesundheitspolitiker selbst gelegt. Die Reformbemühungen der 90er Jahre, die zu einer Budgetdeckelung der laufenden Krankenhausausgaben und zur Umstellung der Kostenerstattung auf ein Fallpauschalensystem führten, stellen die Krankenhäuser vor gewaltige Finanzierungsprobleme.

Nach Angaben des Krankenhaus Rating Report 2008, der vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung erstellt wurde, fehlen allein in diesem Jahr zwischen 1,3 und 2,2 Milliarden Euro. Im Vergleich zum gesamten deutschen Gesundheitsmarkt, der schon 2005 ein Volumen von rund 240 Millarden Euro und damit 10,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichte, scheint der Betrag verschwindend gering, doch für die betroffenen Krankenhäuser sind die Folgen gravierend. Ihnen fehlen zwischen 2 und 3 Prozent des kalkulierten Jahresbudgets.

Die Deutsche Krankenhaus Gesellschaft rechnet allein für den Zeitraum 2008/2009 mit Tarif- und Sachkostensteigerungen in Höhe von 8 Milliarden Euro. Diesen Aufgaben stände ein "Preiserhöhungsspielraum über die Grundlohnsystematik" von nur einer Milliarde Euro gegenüber. Die Kliniken kämen so "in eine nicht mehr hinnehmbare existentielle Notlage". Überdies werde die medizinische und pflegerische Versorgung der Patienten beeinträchtigt, "was in den Krankenhäusern zu Frustration und Wut führt".

Kein Wunder also, dass Hauptgeschäftsführer Georg Baum die Koalitionäre in Berlin Ende vergangener Woche noch einmal an die Einhaltung diverser Versprechen mahnte:

Die Mitglieder des Präsidiums und des Vorstands der Deutschen Krankenhausgesellschaft fordern die Koalitionspartner in der Bundesregierung nachdrücklich auf, endlich die angekündigten gesetzlichen Verbesserungen für die Krankenhäuser in die Tat umzusetzen. Die finanzielle Notlage der Kliniken muss jetzt durch konsequentes Handeln des Gesetzgebers endlich beendet und nicht bloß länger öffentlich diskutiert werden.

Georg Baum

Folgen für Beschäftigte und Patienten

Die unmittelbaren Gründe für "Frustration und Wut" bei Beschäftigten und Patienten sind schnell geklärt.

Da die laufenden Ausgaben zu etwa 60 Prozent aus Personalkosten bestehen, ist es aus ökonomischer Sicht naheliegend, dass Rationalisierungs- und Einsparmaßnahmen vor allem beim Personal ansetzen.

Nils Böhlke/Thorsten Schulten

Tatsächlich ist die Zahl der vollzeitbeschäftigten Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter seit den frühen 90er Jahren um fast 10 Prozent zurückgegangen. Für die Arbeitsbelastung galt das naturgemäß nicht, und so mussten Pflegekräfte in einem öffentlichen Krankenhaus im Jahr 2006 rund 450 Betten versorgen. Die privat beschäftigten Kollegen kamen sogar auf 515 Betten.

Für die Ärzte ergab sich ein ähnlich ungünstiges Verhältnis. Bei allgemein hoher Arbeits- und Stressbelastung mussten die Mediziner in privaten Klinken noch rund 30 Prozent mehr Patienten versorgen als in öffentlichen Einrichtungen. Die unmittelbaren Folgen für die Betreuung und medizinische Versorgung lassen sich - bei allem guten Willen der Mitarbeiter - vielerorts studieren, auch und gerade an den Vorzeigeobjekten der Privatisierungswelle. So reicht es am Allgemeinen Krankenhaus Altona, das mittlerweile "Asklepios Klinik Altona" heißt, offenbar nicht mehr für einen Pförtner. Wo 2002 noch 866 Patienten behandelt wurden, sollten 2006 schon 1.157 vom "umfassenden System gesundheitlicher Sicherung" profitieren.

Die Betriebräte berichten von eingekoteten Patienten, die ungewaschen auf der Station eingewiesen werden; von Nachtschichten auf Stationen, auf denen nur noch eine einzige Pflegekraft schwer Kranke und frisch Operierte betreut; von Arzthelferinnen aus Zeitarbeitsfirmen, die anstelle von ausgebildeten Kräften als Leiharbeitskraft direkt in der Notaufnahme eingesetzt werden.

Jörn Breiholz: Missglückte Operation

Ein deutliches Ungleichgewicht ließ sich auch bei der Entlohnung feststellen. Die Aufkündigung der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes durch private Träger begünstigt offenbar auch auf dem Gesundheitssektor das aus anderen Branchen bekannte Phänomen der Lohnspreizung.

Bislang vorliegende Untersuchungen deuten darauf hin, dass die privaten Kliniken vor allem eine höhere Lohnspreizung zwischen den einzelnen Beschäftigtengruppen anstreben. Demnach verdienen Ärzte in privaten Krankenhäusern genauso viel oder sogar mehr als ihre Kollegen in öffentlichen Einrichtungen, während zum Beispiel Pflegekräfte oft deutlich weniger verdienen.

Nils Böhlke/Thorsten Schulten

Gegenbewegungen

Dass Krankenhausleitungen und Gewerkschaften in seltener Eintracht die Aufhebung der Budgetdeckelung fordern, reicht kaum aus, um die verfahrene Situation wieder zu entwirren - so sehr den Krankenhäusern ein größerer finanzieller Spielraum und ihren Mitarbeitern eine leistungsgerechte Entlohnung zu gönnen wäre.

Zahlreiche Volks- und Bürgerinitiativen setzen deshalb früher an und versuchen, den Staat schon am Versuch zu hindern, sich aus seiner gesellschaftlichen und finanzpolitischen Verantwortung zu stehlen. Die Gruppe "Gesundheit ist keine Ware" initiierte beispielsweise im Februar 2004 eine Volksabstimmung gegen den Verkauf des Hamburger Krankenhausverbundes, an dem sich immerhin 64,9 Prozent der Abstimmungsberechtigten beteiligten. Mehr als drei Viertel von ihnen sprachen sich gegen den Verkauf aus, ohne den Beschluss der Bürgerschaft letztlich verhindern zu können.

Doch es geht auch anders. 2002 konnten Privatisierungsgegner die Übereignung des Klinikums Nordfriesland verhindern, und Anfang dieses Jahres wurde der geplante Verkauf der Dresdner Kliniken Neustadt und Friedrichstadt gestoppt, nachdem sich zahlreiche Initiativen zusammengeschlossen und ein erfolgreiches Bürgerbegehren gestartet hatten. 31.200 Unterschriften wurden für den Verbleib der Städtischen Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft gesammelt - 20.000 wären erforderlich gewesen.

Dass die Landespolitiker und kommunalen Mandatsträger trotzdem Mittel und Wege finden, ihre Vorhaben bei Gelegenheit durchzusetzen, ist damit keineswegs ausgeschlossen. Aber die viel zitierten mündigen Bürger haben ihre Möglichkeiten auch noch längst nicht ausgeschöpft.

Mitunter greifen die Krankenhausbeschäftigten auch wieder auf die traditionelle Kampfform des Streiks zurück, um sich gegen Privatisierungsbestrebungen zu wehren. So wurde zu Beginn dieses Jahres am Universitätsklinikum in Düsseldorf die Ausgliederung der Wäscherei, der Küche und der Sterilisationsabteilung durch mehrere Warnstreiks für einen möglichst teuren Sozialplan verhindert.

Nils Böhlke/Thorsten Schulten