Warum Nerven zu haben nicht genügt

Nicht nur Neuronen kommunizieren

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Es gibt offenbar eine Grundregel in der Wissenschaft: Auf den zweiten Blick ist alles komplizierter als angenommen. Denn immer, wenn die Wissenschaft gerade dabei ist, zumindest ein grundlegendes Verständnis etwa für biologische Phänomene zu entwickeln, folgt im nächsten Schritt die Erkenntnis, dass man gerade mal einen Aspekt des Themas zu durchschauen beginnt. So geht es regelmäßig den Genforschern: War man zunächst stolz darauf, die Vererbung anhand der Gene vollständig erklären zu können, müssen die Forscher außer dem Genom längst auch Transkriptom und Proteom in die Betrachtung einbeziehen (siehe Menschen sind komplizierter als Fadenwürmer).

Ähnliches vollzieht sich anscheinend gerade in der Hirnforschung. Bisher standen hier vor allem die mindestens 100 Milliarden Neuronen im Vordergrund. Die Vermutung, allein sie wären für Signalübertragung und -verarbeitung im Gehirn zuständig, führte bis hin zu Projekten wie Blue Brain, das die neuronale Struktur der Großhirnrinde im Supercomputer simulieren will - mit der Perspektive, dereinst ein funktionierendes Abbild des Gehirns im Rechner zu haben.

Sterne im "Leim": die Astrozyten

Nun besteht das Nervengewebe aber nicht allein aus Nervenzellen. Den ganzen Rest hat man unter dem Namen Gliazellen zusammengefasst, abgeleitet vom griechischen Wort für Leim, weil man ihnen zunächst reine Stützfunktionen unterstellte. Die Gliazellen sind allerdings eine recht bunte Familie, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie eben keine Nervenzellen sind. Eine wichtige Gruppe darin bilden die Astrozyten, wegen ihrer sternförmigen Verzweigungen auch Sternzellen genannt. Sie machen immerhin die Hälfte des Zellmaterials in der Hirnrinde aus.

Von ihnen war bisher schon bekannt, dass sie für die Flüssigkeitsregulation im Gehirn zuständig sind. Zudem genehmigten die Forscher ihnen einen gewissen Anteil an der Informationsverarbeitung im Gehirn. Sie können zum Beispiel auf Signale (Neurotransmitter wie Glutamat) reagieren und im Gegenzug ebenfalls Glutamat und andere neuroaktive Substanzen abgeben, die die Signalwege beeinflussen.

Einer Forschergruppe des amerikanischen MIT ist es nun gelungen, die Astrozyten mit Hilfe von Zwei-Photonen-Mikroskopie direkt bei ihrer Arbeit zu beobachten, und zwar im visuellen Kortex, der Sehrinde, von Frettchen. Dazu haben die Forscher im Prinzip einen der beiden Zelltypen bei der Arbeit behindert und sich die Konsequenzen daraus angesehen. Das Ergebnis, von dem das Team in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science berichtet: Neuronen und Astrozyten arbeiten mindestens bei der Weiterleitung visueller Informationen Hand in Hand, keine der Zellen kommt ohne die anderen aus.

Die Arbeit beantwortet ganz nebenbei auch noch eine andere wichtige Frage: Warum funktioniert eigentlich die funktionale Magnetresonanztomografie (fMRI)? Dass sie geeignet ist, die Arbeit des Gehirns zu verstehen, steht ja außer Frage - viele aktuelle Forschungsarbeiten stützen sich extensiv auf dieses Verfahren, obwohl seine Grundannahme bisher nicht geklärt war: dass die Veränderung der Blutzirkulation im Gehirn auch die neuronale Aktivität widerspiegelt. Das fehlende Glied, das zeigen die MIT-Forscher nun, bilden die Astrozyten. Sie nehmen die neuronalen Signale auf und regulieren nach dieser Vorgabe direkt den Blutfluss. Ohne funktionierende Astrozyten sind keine fMRI-Beobachtungen mehr möglich. Zudem sind diese Zellen genauso systematisch angeordnet wie die Neuronen.

Dass die Astrozyten bisher der Wissenschaft kaum aufgefallen sind, liegt daran, dass sie sich anders als die Neuronen elektrisch ganz still verhalten - sie kommunizieren auf chemischem Wege. Im nächsten Schritt wollen die Forscher nun die genaue Arbeitsweise der Astrozyten aufklären.