Die Zahl der Kriegstoten wurde bislang weit unterschätzt

US-Wissenschaftler haben eine neue Methode entwickelt, nach der die Zahl der Kriegstoten seit 1995 drei Mal höher als bisherige Schätzungen ist und nach der im Irak seit 2003 mehr als 180.000 Menschen getötet wurden

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Wie viele Menschen in Kriegen sterben, ist auch eine wichtige politische Zahl. Aber, wie man beispielsweise beim Irak-Krieg wieder sehen konnte, weichen die Zahlen erheblich voneinander ab. Manche sprechen von 80.000 Toten seit der Invasion, andere von 150.000, höhere Schätzungen gehen von 650.000 Toten aus, einige meinen gar, es handle sich um eine Million (Irak-Krieg: Hunderttausend oder eine Million Todesopfer?). Wissenschaftler der University of Washington, Seattle, und der Harvard Medical School, Boston, kommen auf der Grundlage einer neuen Methode zur Schätzung zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Toten in vergangenen Krieg oft weit geringer veranschlagt wurde, als sie – vermutlich – wirklich war. Daher gebe es auch nicht den behaupteten Rückgang von Toten in den Kriegen der letzten Zeit.

Für die Studie, die im British Medical Journal erschienen ist, wurden die Kriege in 13 Ländern zwischen 1955 und 2002 untersucht. Zugrunde gelegt wurden Daten aus dem World Health Survey der WHO, die repräsentative Erhebungen durchführt. Hier wurde 2002/2003 jeweils eine zufällig ausgewählte Person in einem Haushalt gefragt, ob Geschwister gestorben sind und ob sie im Krieg getötet wurden. Während sonst entweder aus Umfragen in Haushalten aufgrund von Informationen aus Medien und Augenzeugen die Zahl der Toten unter unterschiedlichen Annahmen hochgerechnet werden, seien die Angaben der WHO-Erhebungen in Friedenszeiten genauer, sagen die Wissenschaftler. Abgeglichen wurden die Zahlen mit UN-Daten aller Todesfälle seit 1955, wo diese erstmals erhoben wurden.

Die Zeitspanne wurde in Abschnitten von jeweils einem Jahrzehnt aufgeteilt und die 13 Länder ausgewählt, in denen innerhalb eines Jahrzehnts aufgrund der World Health Survey besonders viele kriegsbedingte Todesfälle von Geschwistern berichtet wurden. Für die abschließende Hochrechnung wurden zahlreiche Korrekturen der Ausgangsdaten vorgenommen. Von den insgesamt 38 613 Todesfällen von Geschwistern nach 1955 in den 13 Ländern waren 797 (81% Männer) eine Folge von Kriegsverletzungen.

Da viele Kriege in Regionen geschehen, wo eine durchgängige Erfassung der Bevölkerung nicht stattfinden, oder in Kriegszeiten die statistische Erfassung, beispielsweise anhand von Volkszählungen, nicht mehr möglich ist, gibt es normalerweise keine verlässlichen Zahlen und müssen die Daten aus kleinen, auch selbst nicht verlässlichen Erhebungen hochgerechnet werden. Bei Umfragen kann die Zahl der Toten überschätzt werden, in stark umkämpfte Gebiete gehen auf der anderen Seite auch keine Interviewer oder Medienangehörige. Angaben aus den Leichenhäusern seien unvollständig. Allgemein würden derart erhobene Daten oft je nach politischer Gesinnung unter- oder überschätzt.

Nach den Schätzungen mit der neuen Methode sind in den 13 Ländern zwischen 1955 und 2002 insgesamt 5,4 Millionen Menschen (3-8,7 Millionen) durch Kriege gestorben. 3,8 Millionen alleine in Vietnam. Die Wissenschaftler verglichen ihre Schätzungen mit den Daten über Kriegstote zwischen 1956 und 2006, die vom International Peace Research Institute, Oslo (PRIO), und dem Uppsala Conflict Data Program (UCDP) zusammengestellt wurden und als relativ verlässlich angesehen werden. Die UCDP-PRIO-Zahlen lagen für die 13 Länder erheblich unter den mit der neuen Methode abgeschätzten. Durchschnittlich war danach die Uahl der Kriegstoten drei Mal so hoch. Am größten war die Differenz in Bangladasch, Georgien und Simbabwe. Der Krieg, der in Bangladesch zur Unabhängigkeit führte, kostete nach der neuen Methode 269.000 Menschen das Leben, nach den UCDP-PRIO-Zahlen hingegen nur 58.000.

Auch bei den Schätzungen, wie viele Menschen jährlich weltweit sterben, gibt es erhebliche Differenzen. Nach den UCDP-PRIO-Daten waren es zwischen 1985 und 1994 jährlich durchschnittlich 137.000, nach der neuen Schätzung 378.000. Auch der Trend, der aus den UCDP-PRIO-Zahlen abgelesen wurde, dass die Zahl der Kriegstoten weltweit zurückgehe, könne nicht bestätigt werden.

Die Wissenschaftler räumen ein, dass natürlich auch die von ihnen entwickelte Methode erhebliche Ungenauigkeiten enthält. So wird beispielsweise nur die Zahl der direkten Kriegstoten erfasst, nicht aber von denjenigen, die nicht durch Gewalt, sondern durch die Folgen von Kriegen ums Leben kommen. Je nach Krieg und Land kann die Zahl der direkten Kriegstoten noch unter der Zahl derer liegen, die in Folge etwa an Infektionen sterben. Problematisch ist auch, ob sich die Menschen genau an Zeit und Umstände von Todesfällen erinnern, zumal wenn sie Jahrzehnte zurückliegen. Wenn es in Familien keine Überlebenden gibt, fallen diese auch aus den Schätzungen heraus. Und natürlich ist die Datenbasis für diese Studie ziemlich klein gewesen, von der aus die Schätzungen hochgerechnet wurden.

Die Wissenschaftler geben zuletzt auch ihre Schätzung für die Kriegstoten im Irak mit 184.000 an. Nach dem Iraq Body Count sind (Stand April) 86.539 (82 772 - 90 305) Menschen seit 2003 getötet worden. Nach dem Iraq Family Health Survey der WHO (Stand 2006) waren es 151.000 (104.000 – 223.000). Nach der in Lancet 2006 erschienenen Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health wären es 601.000 (426 369 - 793 663) gewesen.