Warum nicht sein Gehirn mit Medikamenten und Drogen aufputschen?

Fünf Gründe gegen Psycho-Enhancement - Teil 1

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Das Thema des Psycho-Enhancements (manche sprechen auch vom „Mind Doping“) beschäftigt uns in jüngster Zeit immer wieder. Wer würde sich in unserer Leistungsgesellschaft nicht darüber freuen, ein paar Punkte mehr „Intelligenz“, mehr Aufmerksamkeit und Konzentration oder ein besseres Gedächtnis zu haben? Auch wenn die Zukunft noch unklar ist – und das gilt sowohl für die Medikamente, die noch kommen mögen, als auch für unseren Umgang mit ihnen – ist heute schon eines klar: Das Problem ist da und wird nicht von alleine verschwinden.

Erster Grund: Unbekannte Risiken

Das Problem der Risiken wird von Ethikern gerne in einem Halbsatz vom Tisch gefegt. Wenn die Substanzen nicht sicher genug sind, argumentieren sie, dann würde ihre Verwendung von vorne herein ausscheiden. Wenn man es aber dabei bewenden lässt und von einer Situation ausgeht, in der es Substanzen ohne Nebenwirkungen gibt, dann betreibt man Science-Fiction-Philosophie. Die Realität sieht anders aus; und eine ethische Lösung hätten wir gerne nicht nur für Wolkenkuckucksheim, sondern für unsere Welt hier und jetzt.

Wenn man den Medien und manchen Wissenschaftlern Glauben schenkt (was man aber nicht unbedingt tun sollte, dann liegt das Psycho-Enhancement voll im Trend. Immer wieder liest man von einem magischen „Viertel“ der College-Studenten oder Schüler in den USA, die sich bereitwillig für ihre Prüfungen dopen würden. Diese Zahl beruht auf haltloser Spekulation, suggeriert aber leider, dass die Substanzen nicht nur wirken, sondern auch risikofrei genommen werden könnten. Für beides gibt es keine eindeutigen wissenschaftlichen Daten, sie könnten aber zu einer „self-fulfilling prophecy“ werden, wenn ihnen nur genügend Menschen glauben. Dabei ist selbst unter US-amerikanischen Naturwissenschaftlern das Mind Doping nicht so weit verbreitet In etwa jeder Zehnte gestand kürzlich den regelmäßigen Konsum in einer Online-Befragung.

Die tatsächlich erforschten Daten deuten auf eine weitaus geringere Verbreitung hin als oft behauptet. In der groß angelegten Studie von Sean McCabe und Kollegen von der University of Michigan, an der knapp 11.000 Studierende an über 100 Colleges in den USA teilnahmen, gaben 6,9 Prozent der Teilnehmer an, schon einmal in ihrem Leben illegal Stimulanzien ausprobiert zu haben. Nur 2,1 Prozent gaben an, dies im letzten Monat getan zu haben. Bildet man die Häufigkeit des Konsums im letzten Jahr wie hier dargestellt an den einzelnen Colleges ab, wird sofort deutlich, dass die gerne von den Medien aufgegriffenen 25 Prozent gerade einmal an einem von über 100 Colleges berichtet wurden. Unter diese Angaben fiel allerdings nicht nur das Psycho-Enhancement, sondern auch der Konsum, um einen Rauschzustand zu erleben. Neuere Studien sind zwar nicht so repräsentativ wie diese Untersuchung, stützen aber die Zahlen im einstelligen Prozentbereich. Quelle: McCabe, S. E., Knight, J. R., Teter, C. J. & Wechsler, H. (2005). Non-medical use of prescription stimulants among college students: prevalence and correlates from a national survey. Addiction 99, S. 100.

Danielle Turner und Barbara Sahakian, zwei Pioniere in der Erforschung von Substanzen fürs Psycho-Enhancement von der Cambridge University, schätzen die Aussichten für relativ sichere Mittel zur Leistungssteigerung positiv ein und führen als Beispiel Modafinil an. Dieser Wirkstoff, der in dem Medikament Vigil® enthalten ist, wird seit mehreren Jahren zur Behandlung bestimmter Schlaferkrankungen eingesetzt. Die beiden Forscherinnen haben die Wirkung von Modafinil auch bei gesunden Versuchspersonen untersucht. Dabei muss man berücksichtigen, dass solche Versuche unter sehr unrealistischen Bedingungen durchgeführt werden: Zum einen ist die Gruppe der Teilnehmer meist sehr klein und besteht hauptsächlich aus jungen, risikobereiten Männern bei bester Gesundheit; zum anderen werden die Substanzen oft nur ein einziges Mal verabreicht. Damit sind die Erfahrungen aus diesen wissenschaftlichen Studien für die Allgemeinheit nicht sehr aussagekräftig. Würde sich das Psycho-Enhancement gesellschaftlich durchsetzen, zählten sicher Personenkreise aller Altersschichten zu den Interessenten und würde es nicht um die einmalige, sondern dauerhaftere Anwendung gehen.

Schaut man in die Information für Fachkreise wie Ärzte und Apotheker, zeichnet sich ein kritischeres Bild ab. Diese Daten, die auch in den gesetzlichen Packungsbeilagen für Medikamente landen, stammen aus mehrjähriger klinischer Erfahrung. Sehr häufig (bei mehr als zehn Prozent) wurden bei Modafinil beispielsweise Kopfschmerzen berichtet, häufig (ein bis zehn Prozent) jeweils Brust- und Bauchschmerzen, Herzjagen, Übelkeit, Durchfall (so auch eine Beobachtung des TP-Autors Jörg Auf dem Hövel in seinem Selbstversuch), Nervosität oder Schlaflosigkeit, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Aus der psychiatrischen Fachliteratur sind sogar Fälle bekannt, in denen die Behandlung nach wenigen Wochen zu Psychosen oder ernsthaften Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System führte. Gerade bei Personen, die bestimmte bekannte oder unbekannte Risikofaktoren besitzen, könnte ein Selbstversuch ohne ärztliche Aufsicht daher vorzeitig enden – wenn man Pech hat, gar auf der Intensivstation. Absurderweise müsste dann die Gesellschaft die Kosten für die medizinische Behandlung tragen, die aus dem egoistischen Motiv der Leistungssteigerung gegenüber anderen entstanden ist.

Bei einer Kosten-Nutzen-Abwägung sind fundierte Daten über die Risiken, die sich durch mehrjährige Einnahme der Medikamente ergeben, daher eine notwendige Voraussetzung. Da es aber weder mehrjährige, noch für die Bevölkerung repräsentative Studien für Modafinil, Methylphenidat oder anderen Stimulanzien gibt, die sich vielleicht als Enhancer eignen, muss man klipp und klar festhalten: Eine Kosten-Nutzen-Abwägung können wir beim heutigen Wissensstand nicht durchführen. Daher müssen sich Ethiker auch klar und deutlich von der Empfehlung eines Selbstversuchs distanzieren, bevor sie das Wolkenkuckucksheim betreten und einseitig über die Vorteile, den möglichen Nutzen des Psycho-Enhancements nachdenken. Freilich können (und sollen) wir uns als Gesellschaft aber auch heute schon Gedanken darüber machen, ob wir überhaupt in die Lage kommen möchten, eine solche Abwägung vorzunehmen. Sollten wir mehrjährige Studien mit repräsentativen Freiwilligen fördern oder gar fordern? Damit könnten wir die Weichen stellen, in Zukunft über bessere Daten zu verfügen. Für diese Entscheidung ist es sinnvoll, sich mit anderen ethischen Argumenten auseinander zu setzen. Denn kommt man hier schon zu dem Ergebnis, dass ein Psycho-Enhancement eher abzulehnen ist, dann kann man sich die Förderung dieser Forschung aus ethischen Gründen von vorne herein sparen und das Geld für erwünschte Zwecke ausgeben.

Zweiter Grund: Fairness

In unserer Gesellschaft geht es nicht nur um ein harmonisches Miteinander, sondern auch den Konkurrenzkampf gegeneinander. Wir haben viele solche Wettbewerbssituationen, beispielsweise in der Marktwirtschaft und im Sport, natürlich aber auch auf dem Gebiet der intellektuellen Leistung. Oft entscheidet bereits ein kleiner Vorsprung, ob man zu den Gewinnern gehört oder zu den Verlieren. Ein kleines bisschen schlechter kann das K.O.-Kriterium sein, um in der aktuellen Runde auszuscheiden. Gut ist eben nicht immer gut genug. Eine der Annahmen ist, dass dieser Wettbewerb diejenigen belohnt, die sich am meisten anstrengen. Die Belohnung ist ein Anreizsystem, und würde die Goldmedaille jedem offen stehen, wer müsste sich dann noch Mühe geben, und was wäre sie dann noch wert? Das setzt aber voraus, dass die Fairness gewahrt bleibt, denn sonst gewinnt nicht der Tüchtige, sondern womöglich der Verschlagene den Preis.

In der Marktwirtschaft haben wir deshalb Kartellämter und Wettbewerbsregeln – wer durch eine Monopolstellung zum Nachteil der Verbraucher den Markt beherrscht oder mit unlauteren Methoden die Kunden zu sich lockt, der muss mit saftigen Strafen rechnen. Aus dem Profisport sind Dopingkontrollen kaum noch wegzudenken und alljährlich kommen neue Skandale ans Tageslicht, die jeweils zu großem Prestigeverlust führen. Auch im Sport soll der Tüchtigste belohnt werden und nicht derjenige, der sich die besten Medikamente besorgen konnte.

Bei Psycho-Enhancement denken viele gleich an die Schule oder ans Studium, die intellektuellen Leistungssituationen schlechthin; aber auch in der Arbeitswelt der Weißkragen ist geistige Leistungsfähigkeit nicht weniger angesagt. Dass Doping im Sport schon länger als Problem wahrgenommen wird als Mind Doping, mag daran liegen, dass Funktionen der Muskeln oder des Herz-Kreislaufsystems leichter zu verstehen – und zu manipulieren – sind als diejenigen des Gehirns. Es wird kein Zufall sein, dass die Anfänge dieser Diskussion in die von Politikern ausgerufenen „Dekaden des Gehirns“ fallen. Mit der (scheinbaren) Verfügbarkeit von Hirnfunktionen durch pharmakologische Mittel stellt sich nun die Frage, ob die Kontrollmechanismen aus anderen Wettbewerbsfeldern auch in die Welt der intellektuellen Leistungen übertragen werden müssen.

Die Fairness wird für einen Teilnehmer jedenfalls dann verletzt, wenn ihn ein anderer nicht aufgrund von dessen Tüchtigkeit, sondern wegen der Einnahme leistungssteigernder Mittel überholt, die im Wettbewerb nicht jedem zur Verfügung stehen. Der Leistungsvorsprung ist dann nicht dem Konkurrenten, sondern der Substanz zuzuschreiben. Dass wir aber nicht bloß das Endprodukt, sondern die Leistung desjenigen bewerten, der es anfertigt, sehen wir auch am Umgang mit Plagiaten oder anderen Täuschungsversuchen: Wenn ein Teil der Leistung nicht einer Person zuzurechnen ist, sondern einer anderen (oder im Fall des Enhancements gar keiner), dann können wir ihn auch nicht der Person zugute halten, die ihn unter ihrem Namen abgibt. Das Resultat mag durchaus gut sein, aber nicht mehr ihr Verdienst.

Der Kognitionsforscher Michael Gazzaniga, der auch im Ethikrat des US-Präsidenten sitzt, lehnt zwar das Doping im Sport ab, sieht das für den akademischen Bereich aber anders; hier würde man schließlich nur für sich die Entscheidung treffen, ohne auf andere eine Auswirkung zu haben. Allerdings dürfte allein die Möglichkeit, ein anderer könnte sich durch die Einnahme von Psychopharmaka einen Vorteil verschaffen, im Wettbewerb Druck auf den Teilnehmer ausüben. Er muss dann fürchten, dass seine Leistung im Vergleich schlechter abschneidet, wenn er im Gegensatz zu seinem Konkurrenten auf die Mittel verzichtet. Wenn es um die Zulassung fürs Gymnasium, kontingentierte Studienplätzeoder die Einladung zum Vorstellungsgespräch geht, sind die anderen ganz deutlich betroffen. Die Folge könnte ein kognitives Wettrüsten sein, bei dem wechselseitig immer mehr Grenzen überschritten werden. Als stärkstes Argument für das Enhancement berufen sich viele auf die Freiheit der Person. Aus ihrer Freiheit könnte aber schnell eine Situation entstehen, in der plötzlich niemand mehr frei ist, an dem Wettbewerb erfolgreich teilzunehmen, ohne zu bestimmten Mitteln greifen zu müssen. Diese Art der Freiheitsausübung würde sich also selbst ins Absurde verkehren und zu einer Zwangssituation führen.

Dabei ist das Gehirn sicherlich nicht weniger anfällig für Nebenwirkungen als der Rest des Körpers, über dessen Versuche der künstlichen Leistungssteigerung genügend Schauerbeispiele bekannt sind. Unter diesem Gesichtspunkt könnte eine Regulierung des Psycho-Enhancements schon deshalb nötig sein, um die Betroffenen vor sich selbst zu schützen und nicht nur, um den fairen Wettbewerb zu wahren. Die Vorstellung, an Schulen oder Universitäten Dopingkontrollen einzuführen, mag auf den ersten Blick übertrieben erscheinen. Sie setzt aber in jedem Fall ein explizites Verbot bestimmter Mittel voraus. Dabei könnte zwischen Substanzen unterschieden werden, die weitgehend harmlos, jedermann zugänglich und kulturell eingebettet sind, wie Koffein und Traubenzucker, und denjenigen, für die das nicht gilt, wie Modafinil oder Methylphenidat. Diese Regelungen müssten nicht in Stein gemeißelt sein, sondern sollten im Lichte neuer wissenschaftlicher Daten und gesellschaftlicher Bedürfnisse revidiert werden können. Sie würden aber für Klarheit sorgen und den Druck auf diejenigen verringern, die am Wettbewerb teilnehmen und sich dabei auf die Einhaltung der Regeln verlassen. Natürlich würde es auch hier wie im Sport Versuche geben, sich bestimmte Krankheiten diagnostizieren zu lassen, um legal Zugang zu den gewünschten Mitteln zu erhalten. Es läge dann in der Verantwortung der Ärzte, diesen Versuchen Einhalt zu gebieten.

Eine vorläufige Bilanz

Der Blick auf die unbekannten Risiken, die sich beim heutigen Wissensstand noch nicht genauer abschätzen lassen, sowie auf den komplexen Punkt der Fairness, attestiert dem Psycho-Enhancement unter ethischen Gesichtspunkten keine Unbedenklichkeit. Im zweiten Teil dieses Artikels wird es um weitere soziale Aspekte gehen, wie die Frage nach der soziale Verteilungsgerechtigkeit, aber auch darum, woher der Wunsch nach größerer geistiger Leistungsfähigkeit überhaupt kommt und ob Pillen dafür eine angemessenen Mittel sind.