Arbeit macht krank

Interview mit dem Psychologen Klaus Weber - Teil 1

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Professor Klaus Weber forscht an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule München. Telepolis befragte den Psychologen zur aktuellen Entwicklung psychosomatischer Krankheiten in der neoliberalen Gesellschaft.

Herr Weber, was sind heutzutage die häufigsten psychosomatischer Krankheiten und was hat sich generell an psychosomatischen Erkrankungen in den letzten Jahren geändert?

Klaus Weber: Ich bleibe im nationalen Bereich: Es gibt eine Studie der AOK aus dem Jahre 2005 über die körperliche und psychische Belastung am Arbeitsplatz. Die Untersuchung betraf 30.000 Mitarbeiter in Firmen, Verwaltungen und Industriebetrieben. Da hat sich herausgestellt, dass der Anteil der psychischen Erkrankungen an den Gesamtkrankheitstagen enorm im Ansteigen begriffen ist.

Phänomene wie burning out, Erschöpfungsgefühle, Depression wurden von fast einem Drittel der Arbeitnehmer in den anonymen Umfragen angekreuzt. Dann kommt noch ein Faktor hinzu, der psychosomatisch nicht so leicht aufzuschlüsseln ist, obwohl sie in der Regel immer mit psychosomatischen Belastungen zu tun haben, nämlich Nacken-, Schulter- und Rückenbeschwerden, worunter fast die Hälfte leidet.

Inwieweit hängt diese Tendenz mit der fortschreitenden Neoliberalisierung der Gesellschaft, der Prekarisierung von Existenzen und Ausweitung der Konkurrenzverhältnisse zusammen? Und wie wichtig ist der Faktor Angst in dieser Entwicklung?

Klaus Weber: Bei dieser Umfrage geht es in der Regel um Facharbeiter im öffentlichen Dienst oder Angestellte in den Verwaltungen die schwer oder kaum kündbar sind. Und dort sagt der normale, durchschnittliche Arbeiter: "Da wo früher vier Leute beschäftigt waren, sind es heute zwei - und die haben aber sechs mal so viel Arbeit." Das heißt auch in den “guten“ Arbeitsplätzen (wie sogar der DGB dazu sagt) werden mit Zustimmung der Betriebsräte Überstunden ohne Ende geschoben. Um die prekarisierten Arbeitsplätze ging es in diesen Studien der AOK und der IG Metall nicht, da hat man bestimmt noch viel grausamere Probleme.

“Überalterung der Belegschaften“

Es geht darum, in jeder Hinsicht körperlich und psychisch mehr aus den Arbeitnehmern herauszuholen - und das bedeutet Verdichtungsprozesse. Das kann man in jeder Branche feststellen und natürlich hängt das mit technologischen Veränderungen zusammen: Dadurch, dass Computer die Grundlagen der Arbeitsprozesse - von der Lagerhaltung bis hin zum normalen Tippen im Sekretariat – geworden sind, gibt es auch die Möglichkeit, Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass ein Mitarbeiter an drei, vier Objekten und Projekten gleichzeitig arbeiten kann oder sogar muss. Das ist das eine.

Ein anderer Punkt, der sehr gründlich erforscht wurde ist das, was man als “Überalterung der Belegschaften“ bezeichnet. Das heißt, dass die Arbeitsplätze und Abläufe, also Prozessorganisation und Betriebsorganisation, für Leute zwischen 25 und 35 gemacht sind. Das Durchschnittsalter in den größeren Metallbetrieben (und das sind ja die meisten Auto- und Autozuliefererfirmen) beträgt aber 50 Jahre - und in den nächsten 10 Jahren wird sich daran nicht viel ändern, weil nicht so viele Jüngere nachkommen. Das heißt hier müssen Menschen, die schon einen gewissen körperlichen und geistigen Verschleiß haben, mit hohem körperlichen und psychischen Aufwand Arbeit leisten, die normalerweise 20 Jahre jüngere machen sollten und das führt dazu, dass man einfach nicht mehr kann und depressiv wird. Dass zusätzlich auch noch Konkurrenz, Ängste und Mobbing hinzukommen, die es in jedem Betrieb gibt, wäre der dritte Faktor bei psychischen Erkrankungen.

"Die Gegenwehr ist relativ kläglich"

Welche Rolle hierbei spielt die wachsende Individualisierung, also die Tendenz, dass die Leute die Bürde der verdichteten Arbeitsanforderungen auf ihre eigne Schippe nehmen, keine Gegenwehr organisieren, sondern arbeiten bis zum Umfallen?

Klaus Weber: Ich würde sagen, das ist die Grundlage dafür. Erst einmal könnte man sagen, hat es der Neoliberalismus geschafft, mit Begriffen wie der “Selbstverantwortung“ und des “Arbeitskraftunternehmers“ die Solidarität oder die Gemeinschaft, die vielleicht vorher über den Betriebsrat oder über die Gewerkschaften vorhanden war, ideologisch, aber auch praktisch zu zerstören, indem die Leute in Projekte eingeteilt wurden und auch konkurrierten. Zum Beispiel wird in Arbeitsgruppen eine Prämie für die gesündeste Gruppe ausgeschrieben. Das heißt, es wird um eine Prämie von 1.000 Euro pro Mitarbeiter und Jahr konkurriert. Und diejenige Abteilung, welche die wenigsten Fehlzeiten hat, bekommt diese 1.000 Euro. Das führt natürlich dazu, dass die Leute krank in die Arbeit gehen und die Batterie solange benutzen, bis gar nichts mehr da ist.

Ich denke, die Individualisierung ist die Folge dieser Prozesse - dass Leute dies nach Innen nehmen, versuchen, für sich Wege zu gehen. Erst jetzt setzt langsam wieder die Gegenwehr ein, zum Beispiel von Seiten der Betriebsräte. Das geschieht aber zum Teil zu einem Zeitpunkt, an dem die Leute nicht mehr können. Zudem ist die Gegenwehr relativ kläglich.

Das Arbeitsschutzgesetz existiert seit 1996 und bietet ja sogar in den Paragrafen 3, 4 und 5 die Möglichkeit, Einfluss auf die Arbeitsorganisation zu nehmen, um damit Betriebsabläufe zu verändern, wenn sie zu psychischen Erkrankungen führen. So steht es im Gesetzestext. Die Arbeitgeber haben sich seinerzeit massiv empört, dass so große Eingriffsmöglichkeiten für Gewerkschaften vorhanden sind. Aber 30 Prozent aller Firmen haben dieses Arbeitsschutzgesetz noch nicht einmal umgesetzt, obwohl es eine Muss-Bestimmung ist.

Und auch viele Betriebsräte kümmern sich überhaupt nicht darum, dass es umgesetzt wird, weil dies eine Gefährdungsanalyse jedes Arbeitsplatzes in einer Firma beinhalten würde. Das heißt, wenn ein Mitarbeiter psychisch oder physisch gefährdet ist, dann müsste ein Maßnahmenkatalog erstellt werden, damit er weniger gefährdet ist und gesünder arbeiten kann. Der muss dokumentiert und mindestens einmal jährlich überprüft werden. Große Firmen wie Siemens und BMW haben eine Arbeitsgruppe “Gesundheitsschutz“ - und die macht das ganze Jahr nichts anderes als von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz zu gehen, um diesen zu überprüfen. Das Problem sind hier eher die mittelständischen und kleinen Unternehmen.