Aufrüstungsgebot, EuGH und Korruptionsanreize

Ein Interview mit Professor Karl Albrecht Schachtschneider zum Lissabon-Vertrag, Teil 2

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zum Aufrüstungsgebot, das der Lissabon-Vertrag vorgibt: Wie sieht das genau aus, und wer steckt Ihrer Ansicht nach dahinter?

Professor Schachtschneider: Es ist ganz eindeutig, dass das Aufrüstungsgebot im Artikel 42 Absatz 3 besagt, dass die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, ihre militärischen Fähigkeiten zu stärken. Das ist eine ganz allgemeine Aufrüstungsverpflichtung, die sicherlich ein ganz wesentlicher Teil des Vertrages ist. Ich denke, dass man auch aus diesem Grund den Vertrag unbedingt durchsetzen will.

Es ist ja auch ein Vertrag mit einer völlig neuen Sicherheitspolitik, mit einer 'Kriegsverfassung'. Die Union gibt sich in dem Vertrag das Recht zum Kriege, das ius ad bellum, um überall in der Welt „Frieden“ zu schaffen, durch Missionen, durch Bekämpfung von Terror, auch in Drittländern. Es wird ganz deutlich, dass die Europäische Union eine militärische Weltmacht werden will, neben den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen Staaten. Sie möchte außen- und sicherheitspolitisch nicht schwächer sein als andere Militärmächte. Im Augenblick ist die Union so gut wie nicht kriegsfähig, wie jedermann weiß. Aber genau diese Kriegsfähigkeit will sie erreichen, um als Großstaat, als große militärische Macht, eine führende Rolle in der Welt zu spielen.

Ich denke, das ist ein Projekt der Rüstungsindustrie; denn das wird ganz erhebliche Ressourcen in Anspruch nehmen und diese Inanspruchnahme rechtfertigen. Weil die Verteidigungspolitik durch Beschluss des Europäischen Rates vereinheitlicht werden kann, ist die Option im Vertrag niedergelegt, dass eine einheitliche Streitmacht errichtet wird, so dass die Besonderheiten der verschiedenen Mitgliedstaaten nicht mehr zum Tragen kommen. Es bleibt aber ein gewisser Vorbehalt für die jetzt neutralen Mitgliedsstaaten wie etwa Österreich und Irland. Der aber ist auch nicht mehr realistisch, weil diese Länder allein überhaupt nicht mehr verteidigungsfähig, sondern auf den Beistand der anderen Staaten angewiesen sind.

Sie haben schon oft den EuGH und dessen Zusammensetzung als eines der Kernprobleme der EU bezeichnet, unter Anderem mit dem markanten Satz: 'Regierungen sind die natürlichen Gegner der Grundrechte.' Warum macht das den EuGH im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht so problematisch?

Professor Schachtschneider: Die Grundrechte richten sich nun mal in erster Linie gegen den Staat und sollen den Bürger vor dem Staat schützen. Der Staat hat durchaus auch Organe, die die Grundrechte schützen sollten –auch die Legislativorgane. In den Parteienstaaten gibt es eine Konfliktlinie zwischen allen staatlichen Organen auf der einen und den Bürgern des Staates auf der anderen Seite. Im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts standen die Landtage auf der Seite der Bürger oder wenigstens bestimmter Bürger. Die Grundrechtsgefährdung geht deshalb vor allem von der Regierung, aber auch vom Gesetzgeber aus.

Die Richter des Europäischen Gerichtshofs werden im Einvernehmen der Regierungen ernannt. Die von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Richter sollen als hervorragende Juristen anerkannt sein, was nunmehr durch einen siebenköpfigen Ausschuss überprüft werden soll. Aber dieser Ausschuss hat keinen wirklichen Einfluss, sondern ist nur der Versuch, der Richterernennung mehr Rechtfertigung zu geben. Maßgeblich ist der Vorschlag der jeweiligen Mitgliedstaaten, dem nur nicht entsprochen wird, wenn ein anderer Mitgliedsstaat widerspricht. Alle Kriterien, nach denen Richter auszuwählen sind, um deren Neutralität zu gewährleisten, sind verletzt.

Die Richter werden auch nur für sechs Jahre ernannt, aber mit der Möglichkeit der erneuten Ernennung. Aufgrund der sehr guten Bezahlung von etwa 20.000 Euro monatlich und sehr günstigen Steuerregelungen ist das ein Amt, das jeder Jurist mit Freuden auch länger als sechs Jahre lang ausübt. Die Kürze der Amtszeit und die Möglichkeit der Wiederernennung schadet der Unabhängigkeit.

Wenn ein Richter von einem Land vorgeschlagen wird, kennt er vielleicht die Rechtsordnung seines Landes, aber nicht die anderen Rechtsordnungen, oder wenigstens nicht hinreichen genau. Die EuGH-Richter sprechen aber trotzdem Recht für andere Völker mit allergrößten Konsequenzen. Sie sind nicht Richter eines Volkes und auch nicht Richter der Völker. Der deutsche Richter kann vielleicht für die deutsche, nicht aber für andere Rechtsordnungen stehen. Ich sehe deshalb keine demokratische Legitimation für dieses Gericht. Auch ein Gericht ist nicht von Gott eingesetzt, sondern handelt im Namen des Volkes, wie in Deutschland ja auch jeder Richterspruch eingeleitet wird. Es muss also demokratisch legitimiert sein. Das verlangt auch die Rechtsprechung in Deutschland, obwohl sie äußerst großzügig ist. Zudem ist der EuGH nicht wirklich kommunikationsfähig. Die hochschwierigen Rechtsfragen setzen eine bestmögliche sprachliche Kommunikationsfähigkeit voraus, die ein solches Gericht mit Menschen aus verschiedenen Sprachbereichen nicht haben kann.

Der EuGH erfährt viel Respekt, weil er sich Gericht nennt. Er arbeitet durchaus nach rechtlichen Grundsätzen, aber die EU-Texte sind so hochallgemein, so wenig bestimmt, dass der Gerichtshof immer Politik machen kann. Und er macht regelmäßig Politik, nämlich die der Kommission. Er ist eigentlich eine apologetische Instanz der Kommission. Er hat in 50 Jahren nicht einmal Grundrechtsschutz gegen einen europäischen Rechtsetzungsakt gegeben, obwohl es ja schon über 100.000 solcher Rechtsakte gibt, und hat auch dadurch bewiesen, dass er für den Grundrechtsschutz in der Praxis ungeeignet ist.

Man kann schlechterdings die letzte Verantwortung für das Recht nicht an einen solchen internationalen Gerichtshof abgeben. Der wäre als internationale Streitschlichtungsstelle richtig, aber er ist nicht richtig für die Grundsatz- und Grundrechte-Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich denn auch das letzte Wort in der Widerstandslage vorbehalten. Der polnische Verfassungsgerichtshof ist noch weiter gegangen. Andere sind dagegen ganz ergeben und schützen ihre Rechtskultur nicht mehr. Es ist überhaupt eine große Streitfrage, wer eigentlich in Sachen des Rechts das letzte Wort hat. Deutschland hat drei Höchstgerichte, das Bundesverfassungsgericht, den Europäischen Gerichtshof und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Lissabon-Vertrag verlagert die Entscheidung über das Vorliegen von Subsidiarität an den EuGH. Was wird das für Konsequenzen haben?

Professor Schachtschneider: Das wird fallen. Es ist völlig untragbar. Unsere Staatsorgane wissen ganz genau, wie prekär das ist und haben zugleich mit dem Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon eine Änderung des Grundgesetzes beschlossen. Es wird ein neuer Absatz 1a in den Artikel 23, den Integrationsartikel, eingeführt. Da steht drin, dass der Bundestag mit einem Viertel seiner Mitglieder oder der Bundesrat mit einfacher Mehrheit eine Subsidiaritätsklage beim EuGH erheben kann, wenn er der Meinung ist, dass die Subsidiarität nicht gewahrt ist. So soll durch eine Grundgesetzänderung abgesichert werden, dass nicht die deutschen Gerichte über die Subsidiaritätsfrage entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat noch nie eine Grundgesetzänderung für verfassungswidrig erklärt. Ich rechne aber damit, dass sie sagen werden, dieser Weg zum Europäischen Gerichtshof schließt den Weg zum Bundesverfassungsgericht nicht aus.

Deutschland darf überhaupt nur an einer Europäischen Union im Interesse eines vereinten Europas mitwirken, welche auch dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist. Das steht so in Artikel 23. Wir müssen schon alleine verantworten, ob ein Rechtsakt der Union dem Prinzip entspricht. Auf deutscher Ebene ist ja das Subsidiaritätsprinzip vor einiger Zeit durch eine Grundgesetzänderung gestärkt worden. Es gibt schon Gesetze, die deswegen für nichtig erklärt wurden. Man beginnt langsam, das Subsidiaritätsprinzip ernst zu nehmen.

Wenn das aber nicht, wie ich erwarte, interpretiert wird, würde die Subsidiaritätsfrage gänzlich auf den EuGH verlagert. Der befindet sich in der Spannung zwischen dem Integrationsprinzip, das er eigentlich repräsentiert, und dem Subsidiaritätsprinzip. Das Ergebnis ist klar: Man wird so gut wie nie erleben, dass der Europäische Gerichtshof eine Regelung, auf die man sich mühsam geeinigt hat, als Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip für nichtig erklärt.

Die Behauptung, dass die Parlamente der verschiedenen Mitgliedsstaaten durch das Subsidiaritätsverfahren gestärkt würden, ist eine Beleidigung für all diejenigen, die den Vertrag gelesen haben. Denn danach können ein Drittel der Parlamente, also neun Parlamente, ohne wirkliche Relevanz die Subsidiaritätsfrage stellen. Wenn das geschieht, muss die Kommission das bearbeiten und gegebenenfalls einen neuen Vorschlag machen. Das bewirkt nichts. Wenn allerdings der Rat mit bestimmter Mehrheit der Meinung ist, dass die Subsidiarität nicht gewahrt ist, dann wird auf den Rechtsakt verzichtet. Wenn das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder dieser Meinung ist, dann ist der Rechtsakt auch gescheitert. Aber das sind ja gerade die Organe, die die Subsidiarität nicht sehen, sondern die Einheitlichkeit der Europäischen Union herbeiführen wollen.

Es gibt für den Bürger auch weniger Wege zum EuGH als zum Bundesverfassungsgericht.

Professor Schachtschneider: Es gibt keine Grundrechtebeschwerde. Wir haben die Verfassungsbeschwerde. Diese ist ein sehr wichtiges Instrument und in meinen Augen für einen Verfassungsstaat unverzichtbar. Der Bürger muss klagen können, wenn er sich in seinen Grundrechten verletzt sieht. Dieser Rechtsbehelf stand nicht von vornherein im Grundgesetz, ist aber bereits 1950 eingeführt worden. Viele Staaten haben das Deutschland nachgeahmt.

Gerade diese Verfassungsbeschwerde gibt es zum Europäischen Gerichtshof nicht. Nur der sehr mühsame und enge Weg des Vorabentscheidungsverfahrens führt, abgesehen von Ausnahmen, zu diesem Gericht. Wenn sich in einem Prozess eine europarechtliche Frage stellt, die noch nicht geklärt ist, kann der Richter diese Frage dem Gerichtshof vorlegen. Die letzte nationale Instanz ist zur Vorlage verpflichtet. Bis dahin hat der Kläger aber schon alle Instanzen im eigenen Land hinter sich. Das ist sehr langwierig und aufwendig. Die Richter sind zudem sehr zögerlich mit einer solchen Vorlage, was auch daran liegt, dass viele das Europarecht nicht recht kennen. Ein wirklicher Verfassungsrechtsschutz gegen die Rechtsetzung der Union ist das nicht.

Sie sprachen in einem Vortrag davon, dass extrem unbestimmte Rechtsbegriffe wie 'wirksamer Wettbewerb' in Zusammenhang mit den Entscheidungsstrukturen in Brüssel geradezu als Korruptionsanreize wirken.

Professor Schachtschneider: Davon bin ich überzeugt. Ich arbeite gerade an einem Buch zur europäischen Wirtschaftsverfassung. Darin spielt der Begriff des Wettbewerbs eine zentrale Rolle. Maßgeblich ist dieser Begriff des 'wirksamen Wettbewerbs', der an die Theorie vom funktionierenden Wettbewerb, 'workable competition', aus der Chicago-School. angelehnt ist. Keiner ist in der Lage, zu definieren, was das ist.

Erstens ist der Wettbewerb nach den überzeugenden Lehren von Friedrich August von Hayek ein Entdeckungsverfahren. Man weiß nicht, was sich entwickelt, wenn man bestimmte unternehmerische Entscheidungen trifft und sich in einen Wettbewerb begibt. Der Staat will jetzt nach dem Kriterien des wirksamen Wettbewerbs steuern, ist aber nicht in der Lage, die Entwicklung des Wettbewerbs vorauszusehen, angesichts der ungeheuren Komplexität des wirtschaftlichen Geschehens in einer globalisierten Wirtschaft schon garnicht

Außerdem will der Staat einen wirksamen Wettbewerb, einen guten, förderlichen Wettbewerb, mit dem möglichst alle Ziele des guten Lebens ermöglicht werden sollen – insbesondere soziale Gerechtigkeit. Aber niemand kann diesen Begriff definieren, er birgt Willkürentscheidungen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gehört die Relevanz des Wettbewerbs für die gesamten Ziele der Europäischen Union zu dessen Wirksamkeit. Die Ziele der Union sind unendlich weit, sie umfassen alles Gute dieser Welt: Soziale Gerechtigkeit, Wohlstand für alle, gutes Leben für alle. Die Chance zur Verwirklichung aller Ziele wird berücksichtigt, um zu bestimmen, ob ein Wettbewerb wirksam ist. Das ist juridisch nicht machbar, sondern nur abwegig. Man kann vielleicht noch versuchen, zu klären, ob irgendeine Maßnahme den Wettbewerb stärkt oder schwächt. Es gibt Maßnahmen, die von ihrer Natur her gegen das Wettbewerbsprinzip gerichtet sind, wie etwa ein Kartell. Aber selbst das Kartell hängt für die europäische Legalität davon ab, ob es den wirksamen Wettbewerb fördert oder behindert.

Unbestimmte Rechtsbegriffe bergen die Gefahr der Korruption. Der Rechtsbegriff des wirksamen Wettbewerbs ist so unbestimmt, dass ich ihn als einen verfassungswidrigen Willkürbegriff ansehe. Man kann sagen, ein Kartell, von wem auch immer, ist für den Wettbewerb wirksam oder nicht wirksam. Das entzieht sich der juristischen Überprüfbarkeit. Die Kartellstrafen sind ungeheuer hoch. Sie können bis in Milliardenbeträge gehen. Wenn ein Unternehmen – wie Siemens vor einiger Zeit – 420 Millionen Euro Bußgeld zahlen muss oder nicht, könnte doch in dem Vorstand – gerade bei Siemens –der Gedanken aufkommen, ob sich nicht andere Wege finden lassen, um den Schaden zu mindern. Vielleicht können auch 42 Millionen Euro oder auch nur 4,2 Millionen, die an die richtige Adresse fließen, das Verfahren beenden. Siemens etwa ist geübt in Korruption – denken Sie nur an die Gründung dieser Nebengewerkschaft, wegen der gegenwärtig ein Strafverfahren läuft.