Als der Angriffskrieg geächtet wurde

Vor 80 Jahren unterzeichneten internationale Politiker und Diplomaten den Briand-Kellogg-Pakt. Deren hehres Ziel, den Krieg zu ächten, ging jedoch im Bombenhagel des zweiten Weltkrieges unter

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Die politische Geschichte der Menschheit ist bis auf den heutigen Tag bei weitem stärker von Kriegshandlugen als von Friedensverträgen geprägt. Die Jahrhunderte hindurch galten Kriege als legitimes Mittel zur Lösung persönlicher und territorialer Ansprüche sowie machtpolitischer, nationaler und internationaler Streitfälle. Fast in Vergessenheit geraten ist indes, dass es in der Geschichte der Menschheit einmal einen ernsthaften Versuch gegeben hat, das ungeschriebene Gesetz der instrumentalisierten Gewalt auf der Basis einer multilateralen Abmachung zu durchbrechen und zu beseitigen. Doch der Ende August 1928 vertraglich fixierte erste Kriegsächtungspakt der Geschichte, dem bis 1939 insgesamt 63 Staaten beitraten, wurde elf Jahre später von der rauen Wirklichkeit eingeholt. Nach dem zweiten Weltkrieg in die Charta der Vereinten Nationen aufgenommen, ist der Vertrag völkerrechtlich gesehen interessanterweise aber immer noch in Kraft, obgleich von dessen Existenz kaum jemand Notiz nimmt

Non ius ad bellum

„Von der hohen Warte der Menschlichkeit und Zivilisation gesehen, ist jeder Krieg ein Angriff auf den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft. Im allgemeinen Interesse sollte er daher abgeschafft werden.“

Wohl selten in der Geschichte haben derart pathetisch klingende Worte auch vertraglichen Niederschlag gefunden. Was der damalige amerikanische Außenminister Frank Billings Kellogg Anfang des Jahres 1928 expressis verbis beschwor, wurde dank seines Engagements mehr als ein halbes Jahr später mit dem Briand-Kellogg-Pakt, dem ersten Kriegsächtungsabkommen der Geschichte, nach verwickelten Verhandlungen und diplomatischen Manövern in Paris am 27. August 1928 schwarz auf weiß besiegelt.

US-Außenminister Frank B. Kellogg

Keine internationale Abmachung des 20. Jahrhunderts, bei der retrospektiv gesehen gleich drei Friedensnobelpreisträger (Stresemann und Briand 1926; Kellogg 1929) zu den Hauptfiguren avancierten, setzte einerseits ein solches Signal und markierte eine dermaßen einschneidende Zäsur, scheiterte aber andererseits auch binnen kurzer Zeit derart kläglich. Die Abmachung zeichnete sich durch hohen moralischen Anspruch und großen symbolischen Gehalt aus, weil sie die historisch gewachsene respektive ideologisch gefärbte Maxime, den Krieg bei Bedarf als Mittel nationaler Politik zu instrumentalisieren, erstmals direkt in Frage stellte.

So gesehen stellte der Pariser Vertrag von 1928 ein völkerrechtliches Novum dar: Das erste Mal in der politischen Geschichte verurteilten die führenden Staaten ihrer Epoche den Krieg als legitimes Mittel „zur Lösung internationaler Streitfälle“ apodiktisch und erteilten damit der bis dahin gültigen Ideologie vom ius ad bellum, dem Recht zum Krieg (Kriegsführungsrecht), kategorisch eine Absage. Anfangs waren es fünfzehn vertragsschließende Nationen, die künftig alle Konflikte und potentiellen Streitigkeiten nur unter Anwendung friedlicher Mittel zu lösen gedachten. Am 24. Juli 1929, dem Tag des Inkrafttretens des Übereinkommens, hatten bereits 45 Staaten unterzeichnet – bis 1939 sollten insgesamt 63 Staaten dem Pakt beigetreten sein.

Sitzung im Genfer Völkerbund

Gemessen an seiner Zeit war dieses multilaterale Abkommen, dessen Vertragsparagraphen außerhalb des Völkerbundes Konturen gewannen, eines der spektakulärsten Ereignisse der zwanziger Jahre. Zu einem Zeitpunkt, da der psychologische Schock des Ersten Weltkrieges und die daraus resultierenden wirtschaftlich-sozialen Nachwirkungen und politischen Umwälzungen das Denken und Handeln der Menschen bestimmten – und abstrakt gesehen auch den oft zitierten „Zeitgeist“ prägten, schien infolge der Totalität der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts die Sehnsucht nach einer länger währenden Friedensperiode allgegenwärtig.

Ius ad bellum

Dabei nahm schon zirka 390 n. Chr. der römische Schriftsteller Publius Flavius Vegetius Renatus in seinem militärhistorischen Werk Epitoma rei militaris just jenen Gedanken vorweg, der bis zum Ersten Weltkrieg ungeschriebenes Gesetz bleiben sollte: „Si pacem, para bellum!“ („Wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!“). Ganz selbstverständlich leiteten die Verantwortlichen der Exekutive ihrer Zeit aus dem altrömischen Rechtsgrundsatz bellum iustum das Recht ab, eigene Machtinteressen mit Gewalt durchzusetzen. Erst der Westfälische Frieden von 1648 erhob die Souveränität der neu gebildeten Nationalstaaten zur tragenden Säule des klas­sischen Völkerrechts. Der bis dahin traditionelle, moraltheologisch abgeleitete Grundsatz vom ius ad bellum, dem Recht zum Krieg, wurde völkerrechtlich verankert. Lag für eine kriegerische Auseinandersetzung ein guter Grund vor (iusta causa) und wurden gewisse Formen (z.B. Kriegserklärung) sowie Regeln des humanitären Völkerrechts (ius in bello) eingehalten, die einen „fairen“ Ablauf der Kampfhandlungen garantierten, war der Krieg ein legitimes Mittel zum Zweck, ein legales politisches Werkzeug.

Dieser Vertrag besiegelte den Westfälischen Frieden, der den 30-jährigen Krieg beendete.

Letzten Endes lag es im Ermessen des jeweiligen Souveräns, ob er bei Konflikten zu kriegerischen oder friedlichen Mitteln griff. Denn das klassische Völkerrecht wertete die Rechtszustände Krieg und Frieden nicht politisch oder moralisch: Es stellte sie gleichberechtigt nebeneinander und sanktionierte so den Krieg. Der völkerrechts­philosophische Geist, der diesem Grundsatz entsprang, spiegelt sich in dem berühmten Kerngedanken von Carl von Clausewitz wider, der oft gerne aus dem Kontext gerissen und ergo falsch zitiert wird. Dieser schrieb 1832 in seinem Werk „Vom Kriege“:

"So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln"

Bildnis von Carl von Clausewitz (1780-1831)

Solcherlei Gedankengut lieferte den Großmächten im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus bis hin zum Ersten Weltkrieg die Rechtfertigung für ihre Expansionspolitik. Zugleich definierte dieses die Spielregeln, nach dem das Konzert der militärisch hochgerüsteten Mächte zu funktionieren hatte. Daran änderte auch das Rotkreuzabkommen von 1864 nichts, ganz zu schweigen von den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, die den Krieg mit keiner Silbe brandmarkten, sondern nur für bereits bestehende Konfliktfälle punktuelle Verhaltensregeln und Normen festlegten (ius in bello). Das Fundament des klassischen Völkerrechts fiel erst mit der Gründung des Völkerbun­des im Jahre 1919. Denn das Kriegsverhütungsrecht der Völkerbundssatzung erklärte jede Kriegsentscheidung eines souveränen Staates zur Angelegenheit der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft. Es besiegelte das Ende des traditionellen ius-ad-bellum-Prinzips und ebnete den Weg für die Ächtung des Angriffkrieges, der in den Pariser Verträgen urkundliche Gestalt annahm.

Briand versus Kellogg

Benannt nach den amerikani­schen und französischen Außenmini­stern Frank Billings Kellogg und Aristide Briand, trägt der Friedenspakt seinen Namen strenggenommen zu Unrecht. Denn als sich Briand erstmals im April 1927 über die Presse in einer offenen Botschaft an das Volk der Vereinigten Staaten wandte, um zur Bekräftigung des Friedenswillens einen gegenseitigen Kriegsächtungspakt vorzuschlagen und daraufhin der US-Regie­rung am 20. Juni 1927 einen Entwurf für einen zweiseitigen Vertrag zur Friedenssicherung unterbreitete, folgte er letzten Endes nur einer Anregung des US-Friedensforschers und Professors der Columbia Universität in New York, James Thomson Shotwell.

Aristide Briand

Briands adaptierter und spontan umgesetzter improvisierter Vorschlag hatte keine supranationale Zielrichtung, sondern war ausschließlich bilateraler Natur. Diesem zufolge sollten Frankreich und die USA anlässlich der zehnjährigen Wiederkehr des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg einen beidseitigen Kriegsverzichtspakt unterzeichnen. Hierin sollten sie dem Krieg als politisches Mittel entsagen und sich stattdessen verpflichten, künftige Konflikte ausschließlich friedlich zu lösen. Doch Briands Initiative stieß im State Departement, dem amerikanischen Außenministerium, auf geringe Resonanz und blieb lange Zeit unbeantwortet. Trotz seiner Friedensrhetorik war für Washington allzu offensichtlich, dass Frankreich nicht allein aus purem Idealismus um die Gunst der USA als Bündnispartner buhlte. Angesichts des wiedererstarkenden Deutschlands suchte Paris Schutz vor der fast mythisch gefürchteten furor teutonicus. Um die eigene Machtstellung innerhalb Europas zu stabilisieren, unternahmen die Protagonisten am Quai d’Orsay (frz. Außenministerium in Paris) den Versuch, die USA für ihre Reparations- und Sicherheitspolitik zu gewinnen. Derlei Zielsetzungen allerdings widersprachen den isolationistischen Grundsätzen der US-Außenpolitik. An ihnen hatte sich seit dem amerikanischen Rückzug aus Europa – 1919 lehnte Washington bekanntlich den Versailler Vertrag ab und blieb dem Völkerbund demonstrativ fern – nichts geändert.

Quai d’Orsay bzw. das frz. Außenministerium in Paris

Für das State Department hatte das von George Washington seinerzeit postulierte "Non-Entanglement-principle“, das amerikanische "Nicht-Einmischungsprin­zip" in europäische Angelegenheiten, nach wie vor richtungweisenden Charakter. Briand, dem dieser außenpolitische Kodex nicht gänzlich bewusst und die Mentalität der Neuen Welt ohnehin völlig fremd war, verkannte genau diese beiden Aspekte. Zu seiner Überraschung wies US-Außenmi­nister Kellogg seinen Vertragsent­wurf als "völlig un­annehmbar" zurück und konterte am 28. Dezember 1927 mit einem eigenen Gegenent­wurf, in dem er Briands bilaterales Konzept zu einem globalen Kriegsächtungspakt ausweitete. Dies war genauso we­nig im Sinne Frankreichs wie die Tatsache, dass sich mit einem Male die deutsche Regierung in das diplomatische Tauzie­hen ein­schaltete und auf die amerikani­sche Position einschwenkte. Allen voran der deutsche Staats­sekretär des Aus­wärtigen Am­tes Carl von Schu­bert, der den erkrankten Stresemann im Jahr 1928 mehrfach vertrat. Er nutzte den entfachten Zwei­kampf um die Ausformulierung des Vertragstextes zwischen Berlin und Pa­ris gezielt, um die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu konsolidieren.

George Washington (1732-1799)

Als das intensive „Notenduell“ zwischen den USA und Frankreich seinen Höhepunkt erreichte – es wurde durch stets sofort veröffentliche Noten geführt, was ein Novum in der Diplomatiegeschichte war – nutzte Berlin die Gunst der Stunde. Mitte 1928 akzeptierte Deutschland als erster Staat vorbehaltlos den Entwurf Kelloggs. Anstatt sich in Renitenz zu üben, hielt sogar Reichspräsident von Hindenburg seinem Außenminister beim Briand-Kellogg-Pakt den Rücken frei. Dies ist umso erstaunlicher, weil Hindenburg offensichtlich eine la­tente Abneigung gegenüber Briand hegte und ihm zutiefst misstraute. Dennoch spielte das deutsche Staatsoberhaupt in der Verhandlungs- und Formulierungsphase des multilateralen Vertrags die Rolle des passiven Beobachters hinter den Kulissen. Erklären lässt sich dieser Umstand damit, dass er die Unumgänglichkeit einer deut­schen Beteiligung an diesem Abkommen einsah und den weltpolitischen „moralischen“ Stellenwert des Kontraktes erkannte. So gibt seine reservierte Haltung und unterbliebene Intervention zugleich Aufschluss darüber, dass er mit Verlauf und Ergebnis der Konferenz zufrieden war, andernfalls wäre sein Protest kaum zu überhören gewesen.

Herbert Hoover

Untermau­ert wird Hindenburgs Zustimmung zum Pakt von Paris auch durch seine Dankesbotschaft an den amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover anlässlich der Ratifizierung des supranationalen Vertragssystems. Hoovers Anteil an dem Abkommen würdigend, äußerte sich der Reichspräsident dort auch zu der aus seiner Sicht künftigen Tragweite und Zielrichtung dieser Übereinkunft:

„Ich hege die Hoffnung, dass dieser Pakt bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Völkern seine Kraft bewähren und dazu beitragen wird, den Weltfrieden auf der Grundlage der Gerechtigkeit zu sichern. [ ... ]“.

Jedenfalls verursachte im Vorfeld der Konferenz die ungeklärte Frage nach dem Ort, Zeitpunkt und zeremoniellen Rahmen des Ministertreffens einigen Wirbel. War Paris wirklich eine gute Wahl? Sollte ein deutscher Außenminister tatsächlich in die französische Hauptstadt reisen? Hatte ein Arrangement von solchem Gewicht nicht auf neutralem Genfer Boden stattzufinden, so wie es Reichspräsident von Hindenburg forderte? Und wer sollte ne­ben Deutschland und den Alliierten in den Kreis der ursprünglichen Unterzeichnungsmächte aufgenommen werden? Hinzu kam, dass selbst die Hauptdarsteller des Abkommens nicht unbefangen die Konferenzbühne betreten konnten. Zeigte sich Briand zutiefst enttäuscht darüber, dass Washington seinen Vorschlag geradezu ins Gegenteil verkehrt hatte, so wollte Kellogg anfangs erst gar nicht nach Europa reisen, weil er befürchtete, dort zu tief in innereuropäische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Bei alledem war noch nicht einmal sicher, ob der Dritte im Bunde, Außenminister Gustav Stresemann, überhaupt nach Paris fahren konnte. Stresemann, dem der tag­tägliche politische Kampf wortwörtlich an die Nieren gegangen war, befand sich nämlich während der heißen Phase des Notenwechsels in Kur – zuerst inmitten des Schwarzwaldes in dem pittoresken Kurort Bühlerhöhe (Baden-Baden), im Anschluss daran in Karlsbad und danach in Oberhof (Luftkurort in Thüringen). Abseits seiner Behörde versuchte er, seine Kräfte zu bündeln, schaltete sich demzufolge nur sporadisch in die Außenpolitik ein.

Schließlich fanden die Diplomaten eine für alle Seiten akzeptable Lösung. Zum einen kamen sie Stresemanns Wunsch nach und setzten den Kon­ferenzbeginn nach dem Ende seiner Kur an. Zum anderen gingen sie auch auf Kelloggs Anliegen ein, der den von ihm verehrten deutschen Kollegen unbedingt wieder sehen wollte. Freilich machte aber auch Stresemann sein Kommen von der Anwesenheit Kelloggs abhängig. Dagegen konnte sich Briand damit trösten, dass immerhin sein Beitrag zum Pakt durch die Wahl des Pariser Konferenzortes gewürdigt wurde.

Schlacht bei Königgrätz 1866. Der kriegerischen Vergangenheit der Menschheit wollte der Briand-Kellogg-Pakt Einhalt bieten. Doch die Schlachten, die nach Königgrätz und vor allem nach dem Pariser Vertrag von 1928 geschlagen wurden, waren noch grausamer und verlustreicher – vor allem für die zivile Bevölkerung. Gemälde von Christian Sell

Stresemann in Paris

Als die letzten Probleme rund um die Konferenz scheinbar gelöst waren, erlitt der Reichsaußenminister in Oberhof – acht Tage vor dem Treffen – einen leichten Schlaganfall, der vorübergehende Sprach- und Bewegungsstörungen nach sich zog. Sein Kurarzt Dr. Gerhard Stroomann war Augenzeuge dieser Tragödie: „Er schloss sich mehrere Stunden lang in seinem Zimmer ein [ ... ] Er war tief erschüt­tert. Mit seiner noch qual­voll su­chenden Sprache verlangte er nur das eine: zum Datum in Pa­ris zu sein!" Wie ernst es um seinem Vater stand, bestätigt auch sein Sohn Wolfgang: "Mein Vater reiste sofort nach Hause, wo er mit einer Sprachlähmung eintraf. Versuche zu schreiben, schlugen ebenfalls fehl." Aber dank eiserner Disziplin und Willenskraft erlangte der Außenminister innerhalb weniger Tage das Sprachvermögen zurück. Wenngleich noch nicht völlig genesen, trat er entgegen den Ratschlägen seiner Ärzte am 25. Au­gust mit allen Vollmachten des deutschen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg versehen, die Reise an. In Begleitung seines Internisten Prof. Hermann Zondek nahm Stresemann die Strapazen rund um das feierliche Zeremoniell auf sich, was ihm die französische und amerikanische Seite hoch anrechnete.

Von seiner begeisterten Aufnahme durch die Pariser Bevölkerung zeigte sich vor allem der deut­sche Botschafter in Paris Leopold von Hoesch überrascht: "Schon bei der Ankunft ertönte, untermischt nur von wenigen Pfiffen, aus einer auf etwa 2000 Köpfe geschätz­ten Menschenmenge lebhaftes Rufen ‚Vive la paix!’ und ‚Vive Stresemann!’. Diese Beifallsfreudigkeit des Publikums nahm dauernd zu." Wo Stresemann erschien, spendeten die Massen ihm spontanen und warmherzigen Applaus.

Die historische Dimension seines Besuches in Paris war aber auch kaum zu übersehen. Seit 1867 hatte kein deutscher Außenminister mehr die französische Hauptstadt in offizieller Funktion betreten. Jetzt, da Stresemann zwischen Eiffelturm und Seine weilte, bot sich der französischen Öffentlichkeit zum ersten Mal die Chance, just jenen Politiker in natura zu erleben, ohne den das Locarno-Abkommen von 1925, das als nachträglicher "Friedensvertrag" des Westens gefeiert wurde, nicht zustande gekommen wäre.

Die Verträge von Locarno traten am 10. September 1926 mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund in Kraft. Hier ein Bild von den Protagonisten bzw. vom Verhandlungsraum in Locarno

Die Wirkung Stresemanns als Pu­blikumsmagnet war mitunter so groß, dass der geistige Vater des Abkommens, Frank Kellogg, für eine Zeitlang nur noch die zweite Geige spielte, worüber dieser jedoch keineswegs pikiert war. Dabei war Kelloggs Anwesenheit in Pa­ris nicht minder spektakulär, nahm doch mit ihm erstmals ein amerikanischer Außenminister an einer bedeutsamen internationalen Kon­ferenz in Europa teil. Überdies deutete Kelloggs Anwesenheit in Frankreich auf ein Ende der amerikanischen Maxime des „Non-Entanglement“ hin.

Der vertrackte Pakt

Alle vorangegangenen diplomatischen Manöver und Rencontres schienen vergessen, als am 27. Au­gust 1928 der feierliche Unterzeichnungsakt im Pariser Außenministerium am Quai d'Orsay begann. Vom feier­lichen Rahmen der Konferenz sichtlich beeindruckt zeigte sich insbesondere Stresemanns Dolmetscher Paul Schmidt:

"Die Staatsmänner versammelten sich kurze Zeit vorher im Arbeitszimmer Briands. Von dort aus begaben sie sich unter Führung des französischen Außenministers Punkt 3 Uhr in den berühmten Uhrensaal, einen mittelgroßen Raum, dessen Innenarchitektur in dem reichen Empirestil gehalten war [ ... ] Alles formte sich zu einem der schönsten Bilder internationaler Repräsentation, das ich bei den vielen feierlichen Versammlungen während meiner Dienstzeit erlebt habe."

Briand eröffnete die Kon­ferenz mit Worten, die den En­thusiasmus und Optimismus aller Beteiligten widerspie­gelten:

"Zum ersten Male stehen die Großmächte mit ihrer Ehre und durch einen feier­lichen Akt vor aller Welt dafür ein, den Krieg als Werkzeug nationaler Po­litik vorbehaltlos zu äch­ten [ ... ] Von seinem Joch befreit, wer­den die Völker [ ... ] bald an die Idee gewöhnt sein, dass na­tionales Ansehen und natio­nales Interesse nicht mehr länger mit der Gewalt verbun­den sind."

Und als Briand am Schluss seiner Rede vorschlug, "allen Toten des großen Krieges (1914-1918) das Ereignis zu weihen", war die Wirkung so gewaltig, dass sogar Kellogg vor Rührung feuchte Augen bekam.

Begleitet von dem Surren der Filmkameras und dem Blitzlichtgewitter der Fotographen, un­terschrieb als erster der deutsche Außenminister mit einem Füllfederhalter, in dem in Anspielung auf Vegetius symbolträchtig eingraviert war: "Si pacem, para bellum!" Das Kernstück des Vertrages war sein erster Artikel. Er markierte die historische Zäsur:

"Die Hohen Vertragsschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten."

Der beschwörende Appell im zweiten Passus, wonach künftig alle Streitigkeiten oder Konflikte, "welcher Art oder welchen Ursprungs sie auch sein mögen", niemals anders als "durch friedliche Mittel" gelöst werden sollten, deutete den Wendepunkt an. Jeder Staat der Völkergemeinschaft war eingeladen, sich den 15 Unterzeichnerstaaten in Paris anzuschließen.

Feierliche Unterzeichnung im Uhrensaal des Pariser Außenmini­steriums am Quai d'Orsay

Die Hoffnung war berechtigt, dass die Völker aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit endlich gelernt und hinreichend Konsequenzen gezogen hatten. Aber der Schein trog. In Wahrheit fußten die inhaltlich oft unklaren Vertragsparagraphen, in denen die allgemein formulierten Absichtserklärungen verklausuliert waren, auf sehr wackligem Rechtsboden. Jenseits vom Katalog anwendbarer völkerrechtlich restriktiver Sanktionen wurde nämlich jeder Verstoß gegen die bestehenden Vertragsklauseln zur Farce, da keine übergeordnete Instanz existierte, die ermächtigt war, maßregelnd einzugreifen. Was überdies merklich fehlte, war eine Gerichtsbarkeit, die etwaige Verstöße ahnden und gegebenenfalls adäquate Sanktionen verhängen durfte. Letzten Endes hing also alles von der Vertragstreue und Integrität der Unterzeichnerstaaten ab. Schließlich war die einzige Kontrollinstanz die öffentliche Meinung und die Reaktion der anderen Vertragsparteien.

Problematisch war ferner, dass der Kontrakt das Selbstverteidigungsrecht eines jeden Staates gegen einen äußeren Aggressor überhaupt nicht einschränkte. Nur der Angriffskrieg wurde geächtet. Wo die Grenzen zum Verteidigungskrieg anfingen und aufhörten, war unklar. Sie verwischten völlig. Hinzu kam, dass der Vertragswortlaut die illusorische Hoffnung nährte, eine weltweite Ächtung des Krieges würde automatisch das Ende aller Kriege nach sich ziehen.

Wenn es überhaupt jemanden gab, der aus der ganzen Debatte als Gewinner hervorging, dann war es die deutsche Regierung. Denn nur sie verbuchte mit den Pariser Verträgen einen „strategischen Sieg erster Ordnung“. Deutschland, das bei potentiellen kriegerischen Verwicklungen infolge der Bestimmungen des Versailler Vertrages militärisch wie kein anderer Staat in Europa verwundbar war, profitierte in puncto Sicherheit am stärksten von der Übereinkunft. Ruhigen Gewissens konnte Berlin daher mit aller Kraft für das Abkommen werben, was auch weltweit gewürdigt wurde. Großen Anteil daran hatten auf deutscher Seite in erster Linie Außenminister Stresemann und Staatssekretär von Schubert. Gleichwohl sollte Hindenburgs Rolle nicht unterschätzt werden, denn er wurde in der Präambel als Vertragspartner namentlich angeführt und war als zuständige völkerrechtliche Instanz unmittelbar am Vertragsabschluss beteiligt.

Mag der Kellogg-Pakt ein glanzvolles Ereignis von ungeheurer Wirkung in der Öffentlichkeit und ein persönlicher Triumph für die Friedensnobelpreisträger Briand, Stresemann (1926) und Kellogg (1929) ge­wesen sein. Mag mit ihm ein symbolischer und moralischer Gewinn erzielt worden sein. Mag er auch aus völkerrechtlicher Perspektive ein Novum gewesen sein. Letzten Endes trug er nichts zur weltweiten Sicherheit und Abrüstung bei, weil er die tiefgreifenden Wurzeln und anthropologisch-evolutionären Ursachen des Krieges naturgemäß nicht angehen konnte. Sie blieben natürlich unverändert bestehen.

Was als noble Idee in schönen, teils philanthrophisch gefärbten Worten das Papier der Pariser Urkunde zierte, war nicht mehr als schmückendes Beiwerk, das bereits elf Jahre später infolge der rauen Wirklichkeit vergilbte und schnell Makulatur wurde. Denn mit dem Ausbruch des größten und folgenschwersten Krieges der Menschheitsgeschichte, dem mehr als 55 Millionen Menschen zum Opfer fielen, ging fatalerweise die von Menschen erstmals urkundlich fixierte und pathetisch formulierte Kritik an der Idee und Ideologie des Krieges gleichsam im Bombenhagel unter. Auch wenn der Kellogg-Pakt 1939 den britischen Kriegseintritt begründete, so sollte der Vertrag von Paris nur ein einziges Mal juristische Anwendung finden. Während der Nürnberger Prozesse 1946 bildete er die Rechtsgrundlage für den Anklagepunkt des Angriffskrieges. Seitdem ist er nur noch gegenwärtige Geschichte. Und obwohl das engagierte Übereinkommen auf unbestimmte Zeit abgeschlossen und sein Votum gegen den Angriffskrieg sogar in die Charta der Vereinten Nationen aufgenommen wurde, es also in völkerrechtlicher Hinsicht bis auf den heutigen Tag immer noch in Kraft ist, ratifizierten das Kriegsächtungsabkommen von den mehr als hundert Staaten, die nach 1945 entstanden sind, gerade einmal vier.