Weltwirtschaftliches Wirken der EU, Parteienstaat und Ethnogenese

Ein Interview mit Professor Karl Albrecht Schachtschneider zum Lissabon-Vertrag, Teil 3

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Ein Argument, das oft für den Lissabon-Vertrag angeführt wird, ist, dass die EU als größere Einheit in internationalen Verträgen stärker für die Interessen 'kleiner Leute' wirken könnte. Sie dagegen haben kritisiert, dass zum Beispiel das MAI-Abkommen hintenrum über den EU-Gemeinschaftsvertrag durchgesetzt wurde. Wie beurteilen Sie das bisherige weltwirtschaftliche Wirken der EU?

Professor Schachtschneider: Die EU hat zur sozialen Verbesserung in der Welt nichts beigetragen. Das ist angesichts der Heterogenität der Volkswirtschaften, angesichts dieses Krieges aller gegen alle auch sehr schwer. Deswegen sollen auch große Einheiten geschaffen werden, die man irgendwie im Griff hat. Aber für die Weltwirtschaftsordnung gibt es erst recht kein wirksames Wettbewerbsrecht - ein bekanntes Defizit. Erst recht gibt es global keinerlei Ansätze für Sozialpolitik. Deswegen scheitert die Doha-Runde. Man kommt in der landwirtschaftlichen Frage nicht weiter und erst recht nicht in der sozialen Frage. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die für den globalen Markt äußerst wichtig ist, würde ein weltweites Verteilungssystem voraussetzen. Das gelingt schon in Deutschland nicht mehr. Dafür bestehen auch spezifisch wegen überzogenen Freihandels keine Chancen.

Die Überlagerung der Europäischen Union durch die Weltwirtschaftsordnung ist von allergrößter Bedeutung. Schon jetzt hat die EU die ausschließliche Zuständigkeit für die außenwirtschaftlichen Handelsabkommen in Anspruch genommen, wiederum durch den Gerichtshof – ohne dass das im Vertrag stand. Tatsächlich stand sogar das Gegenteil in den alten Verträgen. Im Vertrag von Lissabon wird diese ausschließliche Zuständigkeit für die Handelspolitik allerdings festgeschrieben.

Auch wegen ihrer rechtlichen Strukturen hat die EU wenig Chancen, Sozialpolitik zu betreiben. Marktpolitik wird gerichtlich durchgesetzt, Sozialpolitik aber ist schon allein deshalb schlecht möglich, weil Geld verteilt werden muss. Es ist völlig abwegig, zu erwarten, dass die Union weltweit soziale Grundsätze durchsetzen könne. Die großen Blöcke der Welt haben auf Weltebene soziale Prinzipien gerade nicht durchgesetzt, sondern schlicht die Marktinteressen. Wer meint, das reine Marktprinzip selbst sei sozial, ist marktideologisch verblendet. Der Markt als solcher schafft keine sozialen Verhältnisse. Man braucht für eine Sozialpolitik immer Gesetze, und diese Gesetze müssen demokratisch legitimiert sein, sonst werden sie nie sozial. Das Demokratieprinzip ist der Motor der sozialen Realisation. Und davon entfernen wir uns in jeder Weise, schon durch die Entdemokratisierung. Die bekämpfe ich ganz wesentlich, weil sie das Sozialstaatsprinzip ruiniert.

Gegner der EU-Verfassung haben in einem Land mit Verhältniswahlrecht ein Problem. Wer Peter Gauweiler, den Sie vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten, wählen will, der wählt gleichzeitig Joachim Wuermeling oder Elmar Brok. Bei der Linkspartei ist es nicht anders, da gibt es zum Beispiel die Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann, die eine sehr dezidierte Lissabon-Befürworterin ist. Ist die Macht der Parteien mittlerweile in einen Bereich vorgestoßen, wo es demokratietheoretisch problematisch wird?

Professor Schachtschneider: Allemal. Ich bin ja schon seit langem ein scharfer Kritiker des Parteienstaates. Der Parteienstaat ist die Verfallserscheinung der Republik. Er ist wesentlich verantwortlich für die Entdemokratisierung der Politik, weil die Parteien ihre Macht durch deren Internationalisierung sichern. Die Europäisierung ist auch ein Ersatz für Innenpolitik, die meist streitig ist und Stimmen kosten kann. Die Politik machen Unionsorgane, für die die nationalen Parteien keine Verantwortung übernehmen. Den meisten Parteifunktionären kommt es nur auf ihr gesichertes Mandat an. Sie suchen nicht die politische Verantwortung. das Mandat behalten sie auch ohne die politische Verantwortung; denn die liegt bei den Staats- und Regierungschefs, beim Europäischen Gerichtshof, in gewisser Weise bei der Europäischen Kommission, aber längst nicht mehr bei den nationalen Parlamenten oder gar den Landesparlamenten. Die sind entmachtet und haben die Macht ohne Bedenken abgegeben. Aber die Abgeordneten bekommen weiterhin hohe Diäten. Mehr interessiert sie meist nicht. Es ist klar: Man kann nicht wirklich ausweichen. Man wählt, wenn man diese etablierten Parteien wählt, immer die gleiche Politik. Das Dilemma ist im gegenwärtigen System der Politik unentrinnbar.

Aber man muss auch bedenken, dass beispielsweise in Österreich eine sehr erfolgreiche Kampagne gegen den Vertrag von Lissabon läuft. Sie hat die SPÖ veranlasst, zumindest zu propagieren, dass sie beim nächsten Vertrag eine Volksabstimmung befürworten wird. Das ist sicherlich mit Blick auf die im Herbst anstehenden Wahlen gesagt, aber trotzdem sehr bemerkenswert.

Die Politiker wissen längst, dass die Völker die Integrationspolitik nicht mitmachen oder mittragen wollen. Immer ist die Rede von schlechter Vermittlung der an sich guten Politik und der Notwendigkeit von mehr Bürgernähe. Manche Integrationisten wähnen sich gar als Avantgarde und Elite. Es ist ganz anders. Sie machen eine Politik, die gegen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten gerichtet ist, die auch darunter leiden. Viele müssen ganz erhebliche Einbußen an Einkommen hinnehmen. Deswegen wird die Krise immer näher auf uns zukommen. Das wird nicht schnell gehen, das entwickelt sich langsam, über die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten. Die Globalisierungspolitik, zu der die Integrationspolitik der Europäischen Union gehört, hat uns in ein langes Siechtum geführt.

Auf der anderen Seite gibt es auch Kräfte, die erkennen, dass die Institutionen der Europäischen Union bestens für eine autoritäre obrigkeitliche Politik geeignet sind. Wer die Macht in der Union erobert, kann die Verhältnisse völlig umgestalten, etwa auch erneut ein sozialistisches System versuchen. Eine klare Linie, die auf dem Freiheits- und Rechts- und damit auf dem Demokratieprinzip gründet und menschheitlich unangreifbare Argumente bietet, habe ich noch nicht gelesen. Ich habe aber auch die Klage der Linken noch nicht in der Hand.

Die ÖDP hat auch geklagt, oder?

Professor Schachtschneider: Ja, die auch. Ich kenne beide Klagen noch nicht. Im übrigen: Die Repräsentation ist unvermeidlich ein Dilemma. Ich würde ein ganz anderes Wahlrecht als das Verhältniswahlsystems vorschlagen. Letzteres führt in die parteienstaatlichen Strukturen, die uns den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Niedergang gebracht haben. Erst recht Verhältniswahlen mit 5%-Sperrklausel. Sie sichern die Parteienoligarchie und sind durch und durch undemokratisch. Deswegen dürften Sie eingeführt worden seien. Schließlich steht das nicht im Grundgesetz.

Das Wahlsystem muss kein reines Mehrheitswahlsystem sein, nur ein kluges Wahlsystem, das es gewährleistet, dass die Abgeordneten sich einen Rest von Unabhängigkeit bewahren. Ausgeschlossen werden sollte insbesondere die Möglichkeit der Wiederwahl, so dass das Parlamentsmandat nicht zum Beruf werden kann. Wir haben genug Bürger, die befähigt sind, das Volk im Parlament für eine Legislaturperiode zu vertreten. Wichtig ist, dass die Abgeordneten nicht korrumpiert werden, durch die Lobbyisten, die Parteiführungen u.a.

Ich sehe auch nicht, dass die Parteienoligarchien es schaffen könnten, die Probleme unserer Zeit zu lösen, solange die Völker, auch das deutsche Volk, nicht wirklich die Stimme erheben können. Deshalb bin ich erklärter Anhänger der Volksabstimmung. Ich glaube nicht, dass die Menschen, die abstimmen würden, weniger wissen als die Abgeordneten. Die wissen nämlich von den Verträgen der Union so gut wie nichts. Die Menschen in der Masse sind schwer korrumpierbar. Sicherlich sind sie durch Wahlgeschenke verführbar, aber bei den Abgeordneten kann man jeden einzelnen beeinflussen. Wer Einfluss nimmt, ist völlig undurchsichtig. Das können auch ausländische Kräfte sein. Ich fühle mich in diesem politischen System des Parteienstaates nicht wohl und nicht sicher, weil es sich bewiesen hat, dass Politik betrieben wird, die mit dem Rechtsprinzip nicht vereinbar und damit auch unverantwortbar ist.

Ich möchte zum Schluss noch einmal auf einen Begriff zurückkommen, den Sie ganz zu Beginn eingeführt haben: den Begriff des Volkes. Es ist ja nachzulesen bei Ihnen, dass Sie Kantianer sind. Die folgende Idee ist eher hegelianisch: Sie sagen, es gibt das europäische Volk nicht. Könnten sich Anfänge einer europäischen Identität nicht genau über den Widerstand zu den EU-Institutionen und zur EU-Politik, wie er sich jetzt herausbildet, stattfinden? Also praktisch die Ethnogenese eines europäischen Volkes aus den Trümmern der EU?

Professor Schachtschneider: Das ist ein ganz bemerkenswerter Gedanke, der mir so noch nicht begegnet ist. Der gemeinsame Kampf gegen den Bürokratismus und die Gefahr der Diktatur schafft sichtbar grenzüberschreitende Gemeinsamkeit und Solidarität. Ich bin viel in Kontakt zu Menschen, die ähnlich denken wie ich– in Großbritannien, in Frankreich, in Österreich sowieso, in Skandinavien und verschiedenen Ländern. Dabei entstehen durchaus gute menschliche Beziehungen. Es entsteht Nähe und die Einstellung: 'Wir wollen ein gutes Europa bauen.' Ich nenne das ein europäisches Europa, ein Europa, das diesen Namen verdient, also die Errungenschaften der Aufklärung wahrt. Es entsteht in diesem begrenzten Bereich durchaus eine gewisse europäische Öffentlichkeit. Das kann den von Ihnen genannten Effekt haben.

Ich will auch nicht gegen die europäische Integration zu Felde ziehen – es geht nur um die Art und Weise, mit der diese betrieben wird. Wir müssen verhindern, dass unser Europa diktatorisch wird. Ich bin der Meinung, dass die europäische Integration Rechtspflicht ist, aus kantianischer Sicht. Man muss in Frieden mit den Nachbarn und der ganzen Welt leben und diesen durch Rechtsverhältnisse sichern. Nur darf man dabei nicht alles, was mit der Freiheit des Menschen verbunden ist, aufgeben – Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat. Dagegen gehe ich an.