Der magersüchtige Exportweltmeister

Die globale Wirtschaftskrise wird die exportfixierte deutsche Wirtschaft besonders hart treffen

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Dominosteinen gleich gleich fallen immer mehr Volkswirtschaften der globalen Wirtschaftskrise zum Opfer, die durch das Platzen der Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt der USA ausgelöst wurde. Neben den Vereinigten Staaten selbst ist auch Großbritannien betroffen, das einen ähnlichen kreditfinanzierten Immobilienboom erlebte und nun auf eine Rezession zusteuert. Selbst das von einem dekadenlangen, atemlosen Wachstum ergriffene China meldet eine Verlangsamung seines Wachstumstempos. Die exportorientierte japanische Volkswirtschaft kommt inzwischen nahezu zum Erliegen. Das „neueste Opfer“ der Krise ist aber Spanien, das sich mit der größten Pleite der Wirtschaftsgeschichte des Landes konfrontiert sieht.

Das sind keine guten Aussichten für den „Exportweltmeister“ Deutschland. Konnte das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik in 2006 und 2007 preisbereinigt noch um 2,9 und 2,5 Prozent zulegen, sowie im ersten Quartal dieses Jahres sogar mit 1,5 Prozent den stärksten Wachstumsschub seit 1996 verzeichnen, so verdüstern sich nun die Aussichten rapide.

Einer jüngst publizierten Umfrage des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zufolge brachen die Konjunkturerwartungen von Managern und Analysten auf den niedrigsten je gemessenen Wert seit Beginn der Erhebung in 1991 ein. Der von dem ZEW allmonatlich erstellte Index der Konjunkturerwartungen fiel von minus 52,4 Punkten im Juni auf minus 63,9 Zähler im Juli. Die Auftragseingänge des Maschinenbaus, dessen weltweite Exporte das Rückgrat der deutschen Konjunktur bildeten, brachen Anfang Juli um 12 Prozent ein. Schon im zweiten Monat in Folge muss die gesamte verarbeitende Industrie einen Rückgang der Auftragseingänge verbuchen, die um 1,7 und 0,9 Prozent schrumpften.

Nicht nur die Auftragslage verdüstert sich, auch die Produktion bricht in der EU und insbesondere in Deutschland inzwischen regelrecht ein. Für die gesamte Europäische Union ermittelte Eurostat einen Rückgang der Industrieproduktion von 1,9 Prozent gegenüber dem Vormonat. In Deutschland ging der Ausstoß der Industrie sogar um 2,6 Prozent zurück. Dies ist der stärkste Einbruch der Industrieproduktion seit 16 Jahren. Im zweiten Quartal dieses Jahres dürfte – zum ersten Mal seit vier Jahren - die Konjunktur in der BRD sogar leicht rückläufig gewesen sein.

Laut Volker Treier, dem Chefökonomen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), ist das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands in diesem Zeitraum um 0,5 Prozent gesunken. „Dies ist sicherlich ein Zeichen, dass die Industrie im Euroland ihre besten Zeiten deutlich hinter sich gelassen hat“, erklärte Heinrich Bayer, Volkswirt der Postbank, gegenüber der Welt.

Deutschlands Exportorientierug könnte zur Achillesferse werden

Besonders verheerend wird sich auf Deutschlands Wirtschaft der starke Einbruch der Industrieproduktion in Frankreich und Spanien von jeweils 2,6 Prozent auswirken, da beide Länder zu den wichtigsten europäischen Handelspartnern der BRD gehören. Die extreme Ausrichtung der deutschen Ökonomie auf den Export, oftmals propagandistisch als „Exportweltmeisterschaft“ bejubelt, wird somit in der anstehenden, globalen Krise zu ihrer Achillesferse. Die einbrechenden Auslandsmärkte werden auch die hiesige Konjunktur dämpfen, da auf eine Belebung der Binnennachfrage nicht gehofft werden kann.

Auch Anfang dieses Jahres feierte die Bundesregierung noch die fünfte Exportweltmeisterschaft in Folge. Deutschland exportierte in 2007 Waren im Wert von 969,1 Milliarden Euro, bei einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2.423 Milliarden. Der Außenhandelsüberschuss stieg hierbei von 159 Milliarden Euro in 2006 auf 198 Milliarden in 2007.

Diese aggressive Außenhandelsstruktur der bundesdeutschen Wirtschaft, deren Exportoffensive zu Lasten der Handelsbilanz anderer EU-Länder geht, ist weder Schicksal noch Naturgesetz, sondern Ergebnis einer langfristigen Wirtschafts- und Steuerpolitik. Im Zentrum dieser expansiven Wirtschaftsstrategie stehen umfangreiche Steuersenkungen für Konzerne und Unternehmen sowie eine massive Absenkung der Kosten für die auf dem Arbeitsmarkt gehandelte „Ware Arbeitskraft“.

Steuergeschenke an die Wirtschaft wurden durch Mehrwertsteuer, sinkende Löhne und Ausbau des Niedriglohnsektors ermöglicht

Seit der von der rot-grünen Koalition in 2000/2001 verabschiedeten „Steuerreform“ werden Deutschlands Konzerne jährlich um ca. 20 Milliarden Euro entlastet, wobei die diesjährige „Steuerreform“ den Unternehmen noch zusätzliche fünf Milliarden Euro jährlich schenkte. Inzwischen kann Deutschland als Steuerparadies gelten, da schon 2005 die Unternehmenssteuern nur noch 0,6 Prozent des BIP ausmachen, während es im EU-Durchschnitt 2,4 Prozent sind. Selbst in solch neoliberalen Musterländern wie der Slowakei, die einen einheitlichen Steuersatz, eine Flat-Tax, einführte, machen die Unternehmenssteuern 2,7 Prozent des BIP aus.

Die nach den Steuergeschenken an Deutschlands Unternehmen fehlenden Milliarden holte sich die Große Koalition mittels der Mehrwertsteuererhöhung von 2007 wieder bei uns allen zurück. De facto bezahlen jetzt alle Bundesbürger – vom Manager bis zum Arbeitslosen – bei jedem Einkauf mit drei Prozent der Kaufsumme auch die großzügigen Steuergeschenke an Deutschlands Kapital. Dies war eine eindeutige Weichenstellung zugunsten einer Exportorientierung seitens der Bundesregierung, die hierfür einen Rückgang der Binnennachfrage in Kauf nimmt – die Senkung der Unternehmenssteuer wird mit erhöhten Konsumsteuern erkauft.

Die zweite Säule dieser Politik bildete die breit angelegte Senkung der Löhne der abhängig Beschäftigten Deutschlands, die hauptsächlich vermittels Hartz IV durchgesetzt wurde. Dies wurde durch Abschreckung und Disziplinierung erreicht. Zum einen wirkt die bewusst kalkulierte Verelendung der ALGII-Bezieher abschreckend auf all diejenigen Lohnabhängigen, die sich Unternehmensforderungen nach Lohnkürzungen oder unentgeltlichen Arbeitszeitverlängerungen ausgesetzt sehen. Widerstandspotential in den Betrieben wird so minimiert. Um diesen sozialen Abstieg zu vermeiden, sind vor allen ältere Arbeiter und Angestellte bereit, so ziemlich alle Zumutungen auf sich zu nehmen. Die "aktivierende Maßnahmen" der Arbeitsagenturen hingegen zielten auf den Aufbau eines „Niedriglohnsektors“, auf die Herausbildung einer Klasse von „Working Poor“ nach amerikanischem Vorbild.

Beide Maßnahmen zur Senkung des Preises der „Ware Arbeitskraft“ haben einen durchschlagenden Erfolg. Inzwischen schuftet nahezu ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland im Niedriglohnsektor, womit Deutschland sogar über den neoliberal zugerichteten Großbritannien (21,7 Prozent), den Niederlanden (17,6) oder Frankreich (11) liegt. Eine Mitarbeiterin des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Essen, das die entsprechende Studie durchführte, warnte gegenüber der Süddeutschen Zeitung:

Wenn die Politik nicht gegensteuert, kann der Niedriglohnsektor in Deutschland größer werden als in den USA. Besonders durch die Hartz-Gesetze ist der Arbeitsmarkt stark dereguliert worden: Leiharbeit wird seitdem gefördert, auch Minijobs, bei denen die Arbeitgeber keine Sozialabgaben leisten müssen, boomen... In den vergangenen zehn Jahren hat es in Deutschland eine beispiellose Ausdifferenzierung nach unten gegeben.

Schere zwischen Arbeitseinkommen und Einkünften aus Unternehmertätigkeit und Vermögen geht immer weiter auf

Natürlich befindet sich auch die Lohnquote im beständigen Sinkflug. Die Netto-Lohnquote, der Anteil der Arbeitseinkommen an den verfügbaren Einkünften aller privaten Haushalte, ist drastisch von 48,1 Prozent des im Jahr 1991 auf 41,2 Prozent in 2005 gesunken. Wie stark die Arbeitseinkommen seit langem zurückfallen, zeigt eine längerfristige Perspektive: 1960 betrug die Netto-Lohnquote noch 55,8 Prozent. Zudem müssen die Arbeitnehmer eine immer größere Abgabenlast tragen. Laut der Hans Böckler Stiftung stieg die durchschnittliche Belastung der Arbeitseinkommen mit Beiträgen von 9,4 Prozent im Jahr 1960 auf 14,3 Prozent in 1991 bis auf 16,7 Prozent in 2005.

Die Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, die inzwischen ein gutes Drittel des gesamten privat verfügbaren Volkseinkommen ausmachen, wurden 2005 mit ca. sechs Prozent besteuert - 1960 betrug deren Belastung sogar 20 Prozent, 1991 waren es noch 8,1 Prozent.

Der durchschnittliche Stundenlohn in der BRD stagniert seit 1991. Inflationsbereinigt verdienten Lohnabhängige 1991 11,17 pro Stunde, 2006 waren es 11,68. Somit ist Deutschland – neben den USA – eins der wenigen Industrieländer, in denen die realen Löhne in den vergangenen Jahrzehnten nicht anstiegen.

"Jeder, der Arbeit sucht, findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt"

Hier kommen wir zur Quelle des Deutschen „Exportwunders“, der sich wohl bald als Fluch erweisen dürfte. Die Lohnstückkosten, der Anteil der Löhne an den Kosten einer Ware, waren in der BRD 2005 niedriger als 1995, während sie in allen anderen wichtigen europäischen Industrienationen teilweise erheblich zulegten. Deutsche Waren sind auf den Weltmarkt deshalb so konkurrenzfähig, weil sie unter hoher Produktivität von – in Relation zu anderen, ähnlich produktiven Industriestaaten – gering bezahlten Arbeitskräften produziert werden. Mit anderen Worten: Die „Exportweltmeisterschaft“ Deutschlands wurde durch eine fallende Lohnquote, ein seit 16 Jahren stagnierendes Lohnniveau, durch den nahezu amerikanische Dimensionen erreichenden Niedriglohsektor und durch Mehrarbeit erkauft.

Hans Werner Sinn sagte: „Jeder muss von seiner Hände Arbeit leben können? Wer so denkt, der verwechselt Wunsch und Wirklichkeit.“ Was der Münchener Papst der Neoliberalen nicht mitteilt, ist die Tatsache, dass diese „Wirklichkeit“ mitnichten ein Naturgesetz ist, sondern Folge bewusst vorangetriebener Politik von Lobbygruppen der Unternehmerverbände. Die von verschiedenen Fraktionen des Kapitals bezahlten „Berater“ scheinen bei den bundesdeutschen Gesetzgebungsverfahren inzwischen geradezu unabkömmlich zu sein. Die Richtung der von diesen Kräften maßgeblich geformten Arbeitsmarktpolitik, wurde von Hans Werner Sinn kongenial auf dem Punkt gebracht:

Jeder, der Arbeit sucht, findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt, denn je weiter er fällt, desto attraktiver wird es für die Arbeitgeber, Arbeitsplätze zu schaffen, um die sich bietenden Gewinnchancen zu nutzen.

Dies alles fand aber in den „guten Zeiten der Konjunktur in Euroland“ statt, von deren Ende eingangs des Artikels der Volkswirt der Postbank, Heinrich Bayer, berichtete. Die Rezession kommt ja erst noch, und sie wird in eine Bevölkerung einschlagen, die bereits diesem umfassenden Pauperisierungsprozess unterworfen wurde. Wir haben es also mit einem verarmten, magersüchtigen Exportweltmeister zu tun, dessen Exportoffensiven auf der Verelendung breiter Bevölkerungssichten aufbauten. Vor allem wird aber dessen ärmer werdende Bevölkerung keinen belebenden Massenkonsum, keine steigende Binnennachfrage generieren können. Die auf dem globalen Export zugerichteten Produktionskapazitäten der deutschen Industrie werden keine adäquaten Absatzmarkt im Deutschland finden.

Auch in diesem Jahr sollen die deutschen Exporte übrigens weiter um neun Prozent wachsen. Somit beschleunigt die deutsche Ökonomie ihre radikale Ausrichtung auf den Weltmarkt zu einer Zeit, in der die globale Nachfrage einzubrechen droht. Einen Kurswechsel der Regierung darf man allerdings nicht erwarten. Stattdessen gab Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in einem Interview schon mal die weitere Marschrichtung der Republik vor:

Natürlich ist die Spanne zwischen denen, die bei uns nicht ruhig schlafen können, weil sie für ihr ererbtes Millionenvermögen Steuern zahlen müssen, und denen, die mit Hartz IV auskommen sollen, gewaltig. Aber wenn wir uns anschauen, wie die Lebenschancen für Chinesen, für Inder oder für Südamerikaner sind, relativiert sich das.