Politiker, Journalisten und Wähler in der Authentizitätsfalle

Was für eine erfolgreiche Karriere in Politik und Wirtschaft unentbehrlich ist

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Barack Obama ist noch nicht in Deutschland gelandet, doch schon jetzt dürfte feststehen: Nach den Amerikanern werden sich auch die Deutschen in ihn verlieben. Nur zum Teil dürfte dies daran liegen, dass sich die Europäer nach acht Jahren George W. Bush wohl noch mehr nach einem „Change“ sehnen als die Amerikaner selbst. Vor allem bringt Barack Obama eine Gabe mit, mit der er bereits viele Amerikaner für sich gewonnen hat: Die Gabe, dass die Menschen ihm vertrauen, weil sie seine Auftritte in den Medien als ungekünstelt, wahrhaftig, glaubwürdig – oder kurz: als authentisch bewerten. Wie wichtig Authentizität ist, musste seine Widersacherin Hillary Clinton feststellen, die nicht zuletzt an ihren Skandalen, den falschen Tränen und der gespielten Entrüstung gescheitert ist. Angesichts der „1000 Gesichter“ von Hillary Clinton wusste schließlich niemand mehr, wer sie nun „wirklich“ ist. Und wer möchte schon von einer „linkisch“ wirkenden Politikerin regiert werden?

Titel des Sternmagazins

Authentizität gilt als unentbehrlich für eine erfolgreiche Karriere. Ohne das Echte, das Wahre und das Ungekünstelte kann man nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft nicht mehr viel werden. Während sich das Spitzenpersonal in Politik und Wirtschaft fragt, wie authentisch sie „rüberkommen“, fragen sich Journalisten immer häufiger, wer sich hinter der Maske verbirgt. Nur den staunenden Zuschauer und Wähler hat offenbar niemand gefragt. Ist er klüger? Wohl kaum. So laufen Deutschlands Spitzenpersonal in Politik und Wirtschaft, die Medien und das Publikum zur Zeit direkt in eine Authentizitätsfalle.

Ein Politiker sollte schon im antiken Griechenland rhetorische Fähigkeiten besitzen, die nichts anderes beinhalten, als eine Rede glaubwürdig und überzeugend vorzutragen. Authentizität ist dabei keine angeborene Eigenschaft einer Person, sondern immer eine Zuschreibung. Das Publikum entscheidet, ob jemand authentisch ist. Dahinter steht eine der ältesten Fragen der Menschheit: Kann ich dem Gegenüber vertrauen? Vor diesem Problem steht jeder im Alltag: In der Ehe, bei Freundschaften und erst recht beim Gebrauchtwagenkauf. Die Suche nach Authentizität hat es also immer schon gegeben. Warum aber hat sie eine ganz neue Qualität erreicht?

Journalisten sind Tag für Tag Zuschauer bei vielen Aufführungen. Bei Pressekonferenzen, Parlamentsdebatten, Staatsempfängen genauso wie bei Hauptversammlungen spielen Politiker den Politiker und Manager den Manager. Je professioneller all dies durchgeplant und inszeniert ist, desto mehr fühlen sich viele Journalisten instrumentalisiert. Der Blick hinter die Kulissen wird damit zum Selbstschutz – gegen Lügen und Halbwahrheiten. Die Folge sind Portraits, die die „wahre“ Angela Merkel versprechen, die im Privaten ganz anders sei als in der Öffentlichkeit. Weil aber in vielen Medien mittlerweile ein Wettbewerb um die „wahrste“ Angela Merkel, den „echtesten“ Olaf Scholz und den „ungekünstelsten“ Oskar Lafontaine eingesetzt hat, gibt es zu jedem Politiker eine Vielzahl an „wahren“ Gesichtern.

Hinter all diesen Portraits steht der Irrglaube, dass man nur nah genug dran sein müsse, um das „wahre“ Gesicht des Politikers zu kennen, das man dann mit dem öffentlichen vergleichen kann. Aber warum sollte ein Politiker im quasi-vertrauten Gespräch mit einem Journalisten nicht eine weitere Maske tragen? Ein Politiker kann in der Öffentlichkeit gar nicht aus der Rolle des Politikers schlüpfen. Zudem wird trotz aller patriarchalischen und matriarchalischen Metaphern niemand ernsthaft wollen, dass eine Kanzlerin das Land wie eine Mutter regiert.

Schließlich wird man den Verdacht nicht los, dass man bei solchen „Demaskierungsversuchen“ mehr über den schreibenden Journalisten als über den beschriebenen Politiker lernt. So liest man über die negativen Seiten eines Politikers gerade dann oft und viel, wenn er ohnehin krisengeschüttelt ist – und umgekehrt. Journalisten machen hier offenkundig genau das, was jeder von uns im Alltag macht: Man schenkt oder entzieht Vertrauen – und sucht anschließend nach Anhaltspunkten, um seine Entscheidung ex post rational zu begründen.

Das Tragische an diesen Demaskierungsversuchen ist, dass sie zu immer neuen und besseren Inszenierungen führen. Die Folge ist also nicht mehr Offenheit, sondern eine Professionalisierung der Inszenierung. Die vordergründige Entwicklung ist, dass Zugänge von Journalisten, zumal von Fotografen und TV-Teams noch mehr reglementiert werden. Weniger sichtbar ist, dass sich immer mehr Politiker, vor allem aber Manager mit Hilfe professioneller Berater auf die Suche nach ihrem „authentischen Kern“ machen – was immer das letztlich sein soll. Wie wollen sie sich öffentlich darstellen? Mit welchen Themen unterstützen sie diese Darstellung? Während das Geschäft mit der Öffentlichkeit und Journalisten für Politiker eine Selbstverständlichkeit ist, empfinden gerade viele Spitzenmanager das Interesse von Journalisten an ihrer Person als Bedrohung. Die desaströsen Medienauftritte von Klaus Kleinfeld oder von Josef Ackermann sind jedem noch in Erinnerung. Diese Ausfälle zeigen aber nur, wann das Schauspiel nicht funktioniert hat. Sie dokumentieren auf tragische Art und Weise, dass auch das Spitzenpersonal mitunter mit diesen Inszenierungen überfordert ist.

Journalisten und Deutschlands Spitzenpersonal stecken also beide in der Authentizitätsfalle. Journalisten versuchen, immer weitere Masken von den Politiker- und Managergesichtern zu reißen, ohne zu wissen, was sie dann zu sehen bekommen. Politiker und Spitzenmanager hingegen stehen unter einem permanenten Generalverdacht: Während ein unsicheres Auftreten meist als Beweis fehlender Authentizität angesehen wird, wird zu viel Selbstsicherheit wie bei Dieter Zetsche schon als zu professionelle Schauspielleistung kritisiert. Man beneidet sie nicht.

Und was hat das Publikum davon? Als Fernsehzuschauer und Zeitungsleser wird es bestens unterhalten, als Wähler ist es aber so klug wie zuvor – oder vielleicht sogar dümmer. Denn der Intuition des ersten Eindrucks steht die Vielzahl der Portraits gegenüber, die den „wahren“ Politiker zu zeichnen versprechen. Die Offenlegungs- und Inszenierungsspirale von Journalisten und Politikern steigern also die Unsicherheit des Wählers.

Diesen Gang in die Authentizitätsfalle gibt es in Deutschland genauso wie in den USA. Allerdings unterscheidet beide Länder, was in der Öffentlichkeit als authentisch bewertet wird. Was viele Amerikaner als wahr und echt empfinden, würden viele Deutsche als „Schmierenkomödie“ verurteilen. Deshalb hätte ein deutscher Barack Obama bei einer Bundestagswahl keine Chance. Als Gast wird ihm Deutschland jedoch zu Füßen liegen.

Der Autor ist Professor für Kommunikationsmanagement an der Mediadesign Hochschule in Berlin