Anschwellender Blogsgesang

Zum Streit über die Lufthoheit der virtuellen Stammtische oder wie es um das Verhältnis von Journalismus und Blogs steht

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Der SPIEGEL off- und online nennt die meisten Blogs "unpolitisch und rechthaberisch, selbstbezogen". Die Blogger hämen lustvoll zurück: "Deutschlands führende Online-Nachrichten-Seite" kranke unter ihrer Bedeutungslosigkeit, habe nix verstanden und mit den falschen Leuten gesprochen.

Wäre das hier ein Holzmedium, begönne der Artikel mit dem, was immer noch in Journalistenschulen gelehrt wird - einem "szenischen Einstieg": Mathias Müller von Blumencron kramte sein bestes Schwiegersohn-Grinsen hervor, ließ seinen Blick über das feixende Journalistenvolk schweifen und sagte lässig: "Wir machen ein Blog, das heißt Spiegel Online". Das war vor langer Zeit, als die Kongresse des JoNet noch gut besucht waren und Blumencron den sozialen Wiederaufstieg von Beta-Online zu Alpha-Print noch nicht vollendet hatte.

Wäre das hier ein Blog, begönne das Posting mit einem viel zu subjektiven Gefühlsausbruch und einem Schachtelsatz, den jeder Chef vom Dienst eines Mainstream-Mediums als Anlass für einen Abmahnung nähme: Dieses typisch deutsche metatheoretische Geschwätz, wer wichtig ist oder nicht oder wer den Längsten in den Blogcharts hat, wer journalistischer Profi ist oder poesiealbenmäßiger Laie, ist genau so zum Kotzen und langweilig wie die Mischung aus Dummheit und Stolz (die bekanntlich auf einem Holz wachsen) bei SPIEGEL "online", in einem Text über Blogs keinen einzigen Link irgendwohin zu setzen, außer auf die fünf Blogs, über die man schreibt, geschweige denn sonstwohin ins berüchtigte weltweite Internet, vor dem man sich fürchtet wie die Briten vor langen Messern.

Sieht man sich die Argumente an, mit denen im Streit über die Lufthoheit der virtuellen Stammtische aufeinander eingedroschen wird, muss man mit Bedauern konstatieren, dass alle irgendwie Recht haben und viel heiße Luft absondern - ein schlagendes Indiz dafür, dass die Diskussion vermutlich ein Sommertheater ist und viel Lärm um wenig oder nichts. Der SPIEGEL hat eine Diskussion aufgegriffen, die zwischen einigen mehr oder minder bekannten Bloggern angestoßen worden war. Motto: Alles wird schlechter.

Don Alphonso (aka Rainer Meyer) räsonnierte am 14. Juli: "Warum Blogs in Deutschland (noch) nicht funktionieren." Die Gründe: Es gebe in Deutschland noch zu wenige und zu selten gemeinsam agierende Blogger. Blogs würden in den Mainstream-Medien unzureichend wahrgenommen und könnten auch nicht ausreichend vermarktet werden. Andererseits führe der Versuch, Blogs zu "monetarisieren", dazu, dass Blogs sich weniger und seltener aufeinander bezögen. Die Diskussionskultur sei schlecht; auch wegen des fehlenden politischen und sozialen Drucks. (Will vermutlich sagen: Hätte Deutschland so viel Pressefreiheit wie Kuba, funktionierten Blogs besser und wären wichtiger.)

Don Alphonso prognostiziert einen weiteren Anzeigen- und Auflagenschwund der traditionellen Medien und ein Abwandern von Teilen des Publikums von der "vereinheitlichten" Nachrichtenindustrie zu den Blogs. Über das SPIEGEL-Blog-Bashing wurde selbstredend fröhlich diskutiert - endlich wieder ein Thema, das alle angeht. Die Blogs Nerdcore (René Walter) und F!XMBR (Christian Sickendieck) kommentierten die Thesen mit längeren Traktaten. Es erstaunt, dass der Streit eher um Nebensächliches geht: Sagt die Werbung etwas über die Inhalte aus und darüber, ob der Blogger unabhängig ist? Können Journalisten gute Blogger sein - oder gibt es gar zu viele davon?

Die Fragen sind müßig. Ob Werbung abhängig macht, stellt sich nicht nur bei Blogs, sondern bei allen Medien. Das ist auch eine Frage der Philosophie und der Haltung und nicht nur eine des ökonomischen Zwangs. Der SPIEGEL, die c't und die ADAC Motorwelt sind prall gefüllt mit Anzeigen, können sich aber trotzdem leisten, kritisch über potenzielle Kunden zu berichten. Das gilt mit Abstrichen auch über BILD, obwohl bei BILD online die Grenze zwischen dem, was man dort unter Journalismus versteht, und Schleichwerbung ungefähr so scharf definiert ist wie die Grenze zwischen Venezuela und Guyana.

Andere Medien und Formate wie zum Beispiel Voxtours, Living Home aka Schöner Wohnen oder die heutigen St.Pauli-Nachrichten gelten irgendwie als journalistische Produkte, obwohl sie sich kaum von einer Dauerwerbesendung unterscheiden, nicht jedoch als Inbegriff kritischer Recherche. Warum sollte es bei Blogs anders sein? Das BILDBlog nennt sich so, ist aber in Wahrheit ein extrem spezialisiertes Online-Magazin mit täglichen Beiträgen. Ähnlich wie auch Spiegelkritik würde es ohne sein Wirtstier sofort eingehen.

Der Spiegelfechter (Jens Berger) stellt richtig fest: "Das Merkmal 'Amateur' oder 'Profi' entscheidet indes keinesfalls über die Qualität eines Mediums. Unter den 'Amateuren' gibt es ebenso viele Dilettanten, wie unter den 'Profis' und umgekehrt gibt es sowohl bei den 'Profis' gut recherchierte Hintergrundartikel, als auch bei den 'Amateuren'. Der Richter ist einzig und alleine der Leser." Nicht die Masse der Leser, muss man hinzufügen, sondern die Leser, die medienkompetent sind und sich für Special-Interest-Medien interessieren, zu denen kritische Blogs wie der Spiegenfechter gehören.

Warum sind deutsche Blogs schlecht und irrelevant?

Das Kriterium "unpolitisch", das beim SPIEGEl abwertend gemeint ist, sagt gar nichts aus. "Politisch" ist es nicht, die immergleichen Textbausteine aus Politikermund auf die Startseite zu hebeln oder ausführlich zu referieren, welcher Minister gerade über einen anderen gelästert hat. Das ist garantiert uninteressanter als die Geschichte vom Rentner (96) im Rollstuhl auf dem Berliner Ring. Auch das Private kann politisch sein - etwa als "Biedermeier"-Version nach einer gescheiterten sozialen Bewegung. Don Alphonsos Blog, ehemals aus Ingolstadt und oft gefüllt mit kitschigen Bildern vom Tegernsee, von Oldtimern oder edlem Geschirr, erscheint allemal politischer als die direkte mediale "Konkurrenz" donaukurier.de, die ungefähr so spannend ist wie die Brigitte ohne Modeteil und ohne Fotos.

Nerdcore bejubelt die prägnante Schreibe amerikanischer Blogs: "Sie texten nicht bunt rum und erzählen erstmal eine lange Geschichte von der Fahrt ins Grüne, bevor sie dann schließlich dazu kommen, diesen Link zu posten, um den es eigentlich geht." Das aber ist eine Frage, ob jemand sein Handwerk beherrscht. In Deutschland muss man drei Jahre lernen, bis man ein Schwein fachgerecht zerlegen oder eine Wurst herstellen kann. Viele Blogger glauben aber, schon interessant zu schreiben, wenn sie gerade mal ein Komma von einem Semikolon zu unterscheiden wissen.#

Unbewegliche Tanker und flinke Schnellboote

Der US-amerikanische Sprachwissenschaftler G. A. Miller hat schon 1956 ein Standardwerk über das Verstehen von Texten verfasst: "The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on our Capacity for Processing Information". Fazit: maximal neun Wörter kann ein Zuhörer mühelos im Gedächnis speichern. mehr als die Hälfte aller Erwachsenen schaltet nach dem vierzehnten Wort eines Satzes ab und versteht gar nichts mehr. Das gilt für Gehörtes wie für Texte gleichermaßen. Wer nicht verständlich formulieren kann, wird nur von einer Minderheit wahrgenommen, ob Blog, Print oder TV, oder kokettiert mit dem Jargon.

Der Vorwurf, Blogs seien "rechthaberisch", ist ohnehin subjektiv und kann weder belegt noch widerlegt werden. Die Holzmedien und ihre digitalen Ableger sind in der Regel belehrungsresistenter und unflexibler bei Irrtümern als Blogger, die von ihrem Publikum, sei es noch so klein, jeden Fehler gnadenlos um die Ohren gehauen bekommen.

"Unprofessionell" macht als Verdikt nur einen Sinn, wenn man das Metier benennt. Netzpolitik.org (Markus Beckedahl), vom SPIEGEL nicht erwähnt, ist sicher für politisch denkende und Internet-affine Menschen mindestens so wichtig wie und weitaus professioneller als die weitgehend linkfreien Websites von tagesschau.de, Spiegel online und Focus online zusammen. Auch sind die Grenzen zwischen Blog und Online-Magazin (wie bei heise.de/newsticker) fließend. Was an Geschichten wie der über Heather Locklear "professionell" oder gar journalistisch sein soll oder an den Softporno-Videos bei Focus online, wissen vermutlich noch nicht einmal die Autoren.

Die Tagesschau oder das "Heute Journal" unterscheiden sich, was den Wert der Nachrichten oder deren Internet-gerechte Aufbereitung angeht, wie ein unbeweglicher Tanker von flinken Schnellbooten, nur dass die Schnellboote in Deutschland mit Rasenmähermotoren ausgestattet sind. Ein Blogger hat gewöhnlich weder die Zeit noch die finanzielle oder logistische Ausstattung, um investigativ zu recherchieren. Dementsprechend mager sind die Enthüllungen, die das Publikum anziehen könnten. Hätte irgendein Blog relevante Zugriffszahlen, wäre es wahrscheinlicher, dass dem Betreiber auch relevantes Material über Skandale zugespielt würde.

Zur Medien- und Diskussionskultur in Deutschland

Die Medien- und Diskussionskultur in Deutschland unterscheiden sich signifikant von der in in den USA, deshalb ist ein Vergleich der jeweiligen Blogszene wenig aussagekräftig. In den USA ist das zivile Engagement weit aus größer; daher auch ein kontroverser gesellschaftlicher Diskurs die Normalität, ohne paternalistische Intervention irgendeiner "öffentlich-rechtlichen Anstalt". Die freie Rede, ausgenommen F...Worte, ist Konsens. In Deutschland wachen Moderatoren, Jugendschutzwarte und andere Quasi-Zensoren über jedes Wort, das in Foren verbreitet wird. Ein ordentlicher "flame war", wie im Usenet üblich, zwar sinnfrei, aber mit hohem Unterhaltungswert, ist in den Online-Sektionen deutscher Medien undenkbar.

Im Vergleich zum anglophonen Sprachraum ist Deutschland, den Journalismus betreffend, Entwicklungsland, bei Blogs auch gegenüber Japan. Im Vergleich zu Frankreich oder gar Italien ist Deutschland jedoch ein Presse-Paradies und die Heimat investigativer Recherche. Im Vergleich zur Subjektivität und Grobheit der Kommentatoren in türkischen Zeitungen erscheinen SPIEGEL-Redakteure als ausgesprochen zahm und Weicheier. Wer vergleicht, muss immer die ganze Gesellschaft vergleichen, nicht nur die medialen Erzeugnisse.

Eine Woche nach Erscheinen des SPIEGEL-online-"Blogs" über Blogs hat sich der Pulverdampf verzogen. Business as usual im Sommerloch. Vielleicht hilft ein Griff in die Kiste der humanistischen Bildung, um eine Lehre zu ziehen. Johann Wolfgang Goethe sagte zu den Bloggern: "Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben." Besser als Goethe ist aber allemal das, was Friedrich Nietzsche über die Verfasser guter Texten berichtet: "Sie hatten die Intellektualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrtum wahrnahmen, das Schweigen an."