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Interview mit dem Leiter einer medizinischen Therapieeinrichtung für ehemalige Suchtmittelabhängige Marcus Breuer über die Auswirkungen der Hartz-IV-Reform für seine Patienten

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Ende Dezember 2007 wurde in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die im Zuge der Hartz IV-Reformen betriebene Zusammenlegung der Bundesagenturen für Arbeit und der kommunalen Träger in sogenannte “Arbeitsgemeinschaften“ (ARGEN) als verfassungswidrige “Mischverwaltung“ beanstandet und deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt. Für eine gesetzliche Neuregelung wurde wegen „der Größe der Umstrukturierungsaufgabe“ eine Frist bis zum 31. Dezember 2010 gewährt. Daraufhin beschloss bereits Mitte Juli 2008 eine Sonderkonferenz der Arbeits- und Sozialminister in Berlin einstimmig, nicht die Hartz IV-Regelung der Verfassung anzupassen, sondern im Gegenteil eine Änderung des Grundgesetzes vorzunehmen, welche nun bis Ende diesen Jahres geschehen soll.

Diese Umgestaltung des Grundgesetzes wurde u.a. von SPD und Grünen als „wirklicher Fortschritt“ (Olaf Scholz) oder „Sieg der Vernunft“ (Brigitte Pothmer) gepriesen und in der Öffentlichkeit überwiegend als reine Formsache dargestellt. Hingegen wurde die Zusammenarbeit von Arbeitsagenturen und Kommunen vom Chef der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise als "Katastrophe" bezeichnet und das Gesetzesvorhaben vom DGB als „fauler Kompromiss“ kritisiert, welcher „mit all dem bürokratischen Chaos in Beton gegossen" werden soll.

Über die praktische Konsequenzen für die davon Betroffenen sprach Telepolis mit dem Psychologen Marcus Breuer, Leiter des Adaptionshauses Kieferngarten, einer Resozialisierungseinrichtung für therapierte Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige im Münchner Norden, dessen Patienten im Regelfall Anspruch auf Grundsicherung nach Hartz IV haben.

Herr Breuer, 2004 wurde das Bundessozialhilfegesetz in verschiedene Sozialgesetzbücher aufgeteilt. Was sind für ihre Patienten die praktischen Folgen daraus?

Marcus Breuer: Ja, es hat in den letzten Jahren eine völlige Novellierung der Sozialgesetzbücher gegeben. Es gab früher das sogenannte BSHG, das ehemalige Bundessozialhilfegesetz, das heißt jetzt SGB XII, es gab Arbeitslosenhilfe, das regelt jetzt das SGB II, also Hartz IV im engeren Sinne, dann gibt es noch SGB III, welches berufsbezogene Maßnahmen umfasst, SGB VI, das behandelt die Reha-Leistungen und das SGB V, welches die Krankenkassenleistung klärt. Das alles ist neu gemacht worden. Das Problem dabei ist erst einmal ganz klar die explodierende Bürokratie. Haben Sie einmal einen Hartz IV-Antrag gesehen? Auf 16 Seiten sind teilweise Angaben gefordert, die sehr schwer zu beschaffen sind.

Inwiefern?

Marcus Breuer: Es gibt z.B. für 20jährige die Frage, ob ein Kindergeldanspruch besteht, dann muss man sich an die Kindergeldsstelle wenden. Hier einen Bescheid zu erlangen, egal ob positiv oder negativ, dauert Wochen und Monate. Das ist generell ein Problem: Wir haben einen Trend zur marktwirtschaftlicher Führung solcher Behörden, das heißt, alle achten auf ihre Kosten und prüfen die Fälle sehr genau, weil sie die Kosten nicht in ihrem Haushalt haben wollen und so kommt es teilweise zu kafkaesken Strukturen.

“ Was die eine ARGE tut, macht die andere noch längst nicht.“

Meine Patienten z.B. sind alle notleidend und beeinträchtigt, der offizielle Terminus dafür ist “seelisch behindert“, sie haben erhebliche Vermittlungshemmnisse am Arbeitsmarkt und in den allermeisten Fällen ist das bürokratische Problem nicht die Bedürftigkeit der Patienten, denn das sind sie alle, sondern der Streit dreht sich um die Zuständigkeit der Behörden. Was ich erlebe ist: Die ARGE X schiebt den Antrag an die ARGE Y, die ARGE Y erklärt sich für nicht zuständig, sondern verweist auf den Bezirk XY. Dort will die Behörde erst einen Ablehnungsbescheid von der ARGE X, den aber die ARGE X nicht erstellt, weil sie sich generell für nicht zuständig erklärt usw. Außerdem: Was die eine ARGE tut, das macht die andere ARGE noch längst nicht.

Wie sind denn die ARGEN überhaupt aufgeteilt?

Marcus Breuer: Lokal. In München gibt es zwar eine Zentrale, faktisch aber handeln die sogenannten Sozialbürgerhäuser und die sind regional organisiert. Alleine die Übermittlung von Akten wird hier zu einem Problem. Unsere Fachklinik z.B. ist in Gräfelfing, das gehört zum “Landkreis München“ und nicht zur Stadt München. Und z.B. eine Akte von “München-Land“ (wobei die Behörden alle in der Stadt München sitzen) in irgendein Sozialbürgerhaus zu transferieren, gerät zu einem nahezu unüberwindlichen Hindernis.

Ist dieses Chaos in den Behörden ihrer Einschätzung nach willentlich gemacht, oder sind dies Schwierigkeiten in der Organisation, die sich in Zukunft noch viel besser abstimmen lässt?

Marcus Breuer: Das Gesetz wurde meiner Meinung nach nicht bewusst falsch gemacht, sondern über bestimmte Bevölkerungsgruppen wurde einfach und schlicht nicht nachgedacht. Ich würde mir auch nicht anmaßen zu sagen, dass Hartz IV (also das SGB II) generell nicht funktioniert; aber die Menschen mit denen wir hier zu tun haben sind Sonderfälle, also z.B. Heimbewohner, Behinderte, psychisch Kranke, Suchtmittelabhängige, die Untersten auf der sozialen Stufenleiter und die bekommen das "volle Paket“ ab. Ganz klar: Es gibt eine Explosion an Schnittstellenproblematiken, wo sich die verschiedenen Ämtern für nicht zuständig erklären. Es geht um das Geld der jeweiligen Behörde, und in allen Behören sitzen mittlerweile Controller, welche die Kosten durchkämmen und im Zweifelsfall Entscheidungen monieren, wo die jeweilige Behörde aus betriebswirtschaftlichen Gründen anders hätte handeln sollen. Man kann so etwas ja auch aus marktwirtschaftlicher Sicht nachvollziehen; aber die Gesamtlogik des Systems bekommt dadurch erhebliche Schwächen.

„Unklare Regelungen zu Lasten der Betroffenen“

"Willentlich" wäre also das falsche Wort. Fachleute (z.B. die Referenten des deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbands) sagen, das SGB II wurde „mit der heißen Nadel gestrickt“: Die Koalition hat damals das Gesetz über das Knie gebrochen. Über vieles wurde einfach nicht nachgedacht, an vielen Stellen wurden auch die Fachreferenten in den Ministerien nicht gefragt, man wollte es aber durchboxen und so hat das Gesetz eine Fülle von Macken mitbekommen. So erleben wir nun an vielen Stellen die Folgen eines handwerklich schlecht gemachten Gesetzes: Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Sozialgesetzbüchern ist mehr als unglücklich: Es gibt z.B. zwischen den SGB II und dem SGB XII, also dem Hartz IV-Gesetz und dem ehemaligen Sozialhilfegesetz, aber auch zwischen SGB V und SGB VI (Krankenversicherung vs. Rehabilitation) eine Fülle problematischer Schnittstellen, die unklar geregelt sind – zumeist zu Lasten der Betroffenen, teilweise auch zu Lasten der Mitarbeiter in den einzelnen Behörden. Es geht schon sehr häufig auf Kosten von Menschen am unteren Ende der Gesellschaft, die sich mit der Bürokratie überhaupt nicht auskennen und überhaupt nicht wehren können. Es gibt zwar theoretisch ein SGB IX, in welchem letztendlich die Zusammenarbeit zwischen den Behörden bzw. den einzelnen Sozialgesetzen geregelt ist, aber dieses funktioniert de facto gar nicht. Das Ergebnis ist somit häufig ein bürokratischer Alptraum.

Können Sie diese Strukturen einmal konkretisieren?

Marcus Breuer: In unserer Einrichtung bestanden, als das SGB II in Kraft getreten ist, erhebliche Unklarheiten, weil die ARGEN erst neu gegründet wurden bzw. werden mussten. Man hat mit der Brechstange diese Behörden geschaffen und diese waren dann ziemlich lange mit sich selber beschäftigt, einfach weil sie diese ganzen Umstrukturierungen bewältigen mussten. Bis diese dann angefangen haben, einigermaßen zu funktionieren, hat es allein schon zwei Jahre gedauert.

Weiterhin sind die ARGEN zur Hälfte kommunal und zur anderen Hälfte aus der Bundesagentur für Arbeit besetzt worden. Das ist aus meiner Sicht bereits eine Fehlkonstruktion: Es wurden ad hoc neue Behörden geschaffen, die sich aus ganz unterschiedlichen Institutionen zusammensetzen, in denen die Mitarbeiter ganz unterschiedlich sozialisiert waren und auch unterschiedliche Arbeitsverträge gehabt haben. Es wurde nicht klar geregelt, wem die Infrastruktur gehört. So durften die Mitarbeiter z.B. teilweise nicht einmal ihre PCs wechselseitig benutzen. Die einzelnen Lücken im SGB II wurden dann im Laufe der Zeit durch eine Fülle sogenannter “Durchführungsbestimmungen“ geregelt. – Unterhalb eines jeden Gesetzes gibt es immer “Durchführungsbestimmungen“, die regeln, wie mit dem jeweiligen Gesetz umzugehen ist, wo die konkreten Handlungsanweisungen z.B. für Sachbearbeiter abgehandelt werden – Wir haben dann Situationen gehabt, wo einzelne Sachbearbeiter ihre eigenen Durchführungsbestimmungen nicht kannten, wo es keine Durchführungsbestimmungen gab oder wo sich Leiter von ARGEN nicht an die Durchführungsbestimmungen gehalten haben.

Können sie dazu Fälle nennen?

Marcus Breuer: Für die Mehrzahl meiner Patienten stellt sich z.B. die Situation momentan so dar: Bis 1. Oktober 2007 haben alle Betroffenen - vor dem Hintergrund, dass sie erwerbsfähig sind - Hartz IV bekommen. – Die Erwerbsfähigkeit ist ein wichtiger Abgrenzungspunkt zwischen SGB II (also Hartz IV) und SGB XII (Sozialhilfe) und meine Patienten sind alle erwerbsfähig. Als solche fallen sie unter normalen Umständen glasklar unter Hartz IV. Jetzt gibt es aber einen Passus (SGB II, Paragraf 7, Absatz 4): „Wer sich länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung befindet…“, fällt aus dem SGB II heraus. Der Patient müsste nun laut diesem Halbsatz, und zwar unabhängig davon, ob er erwerbsfähig ist oder nicht, unter das SGB XII fallen. Nun gut: Im Gesetz steht „in einer stationären Einrichtung“. Was passiert aber, wenn ein Patient von einer Einrichtung in eine andere wechselt? Das ist die erste Lücke, welche die entsprechenden ARGES genutzt haben. Sie argumentierten, der Antragsteller stehe für mehr als 6 Monate dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, also falle er nicht unter Hartz IV. Der Antragsteller war z.B. vorher schon im Krankenhaus oder im Gefängnis, deshalb ist der Antragsteller zwar kürzer als 6 Monate in unserer Einrichtung, aber insgesamt ist er länger als 6 Monate dem Arbeitsmarkt entzogen und deshalb seien sie nicht zuständig. Nun sagte der entsprechende Sozialhilfeträger (SGB XII) wiederum: Wir sind auch nicht zuständig, denn der Antragsteller ist kürzer als 6 Monate in ihrer Einrichtung! Die unterschiedlichen Behörden interpretieren also den entsprechenden Passus des Gesetzes jeweils anders. Nun fordert der Sozialhilfeträger, um überhaupt zuständig werden zu können, einen Ablehnungsbescheid von Behörde 1, Behörde 2 etc.

Behörden erklären sich für nicht zuständig

Das bedeutet: Man muss erst mal bei der entsprechenden Behörde einen Antrag z.B. auf Hartz IV stellen. Dabei ist teilweise schon einmal ein gravierendes Problem überhaupt heraus zu finden, welche Behörde zuständig ist! Dann müsste man gegebenenfalls deren Ablehnungsbescheid bringen und dann wird der Fall vom Sozialhilfeträger erneut geprüft. Derzeit jedoch erklärt sich z.B. die ARGE München Nord von vornherein für nicht verantwortlich. In der Regel melden sich unsere Patienten hier in München unter unserer Einrichtungsadresse an, denn sie sind obdachlos, damit ist für sie eigentlich zunächst die ARGE München Nord zuständig. Wenn die Patienten nun aber mit einem vollständig ausgefüllten Hartz IV-Antrag bei der ARGE München Nord vorstellig werden, nimmt diese ihren Antrag erst gar nicht an. Die ARGE argumentiert derzeit, sie sei nicht zuständig, eben wegen des Paragrafen 7, Absatz 4, SGB II. Dieses „sich für nicht zuständig erklären“ ohne einen entsprechenden Bescheid zu erstellen, ist jedoch eine ganz klare Verletzung unseres Rechtsstaates. Denn es gibt eine Regelung, nach der man bei der Stellung eines Antrages einen Anspruch auf einen schriftlichen Bescheid hat (dieser ist die Voraussetzung für einen Widerspruch bzw. eine spätere Klage).

Weiter: Je komplizierter das gesamte Sozialsystem ist, desto komplizierter werden auch die Mühlen der Bürokratie. Und es kamen im Verlauf der letzten Jahre immer mehr Regelungen dazu, z.B. die Praxisgebühr sowie die Neuregelung der Übernahme von Krankenkassenkosten. Im Krankheitsfall eines Patienten sollte dieser krankenversichert sein. Also muss man vorab erst einmal klären, wer überhaupt die Krankenkassenkosten übernimmt. Dies kann sich durchaus schwierig gestalten. Die Praxisgebühr z.B. kostet zunächst einmal Geld. Wenn man nun mittellos ist, muss irgendjemand diese Kosten übernehmen. Also braucht der Patient zunächst konkret 10 Euro für die Praxisgebühr, die von irgendwoher kommen müssen. Fragt sich nur woher? Das Ergebnis davon ist, dass wir hier bei uns teilweise Patienten haben, die nicht krankenversichert sind, obwohl sie sich aktuell in einer medizinischen Rehabilitationsbehandlung befinden. Da kann man sofort mit gesundem Menschenverstand sagen, dass so etwas nicht sinnvoll sein kann. Ein Tag in unserer Einrichtung kostet derzeit 81,34 Euro, das ist in Relation zu einem Tag im Krankenhaus nicht viel. Wir bieten dafür auf hohem Niveau eine Reintegrationsleistung, welche die Deutsche Rentenversicherung wirklich solide finanziert und die nächste Behörde erklärt sich für Praxisgebühr und Krankenkassenkosten einfach nicht zuständig.

In unserer Einrichtung haben wir eine Trennung zwischen sogenannten Haupt- und Nebenkosten. Hauptkosten sind Kosten der Maßnahme, das trägt in fünfundneunzig oder achtundneunzig Prozent der Fälle die deutsche Rentenversicherung. Dies deckt auch Personalkosten, Unterhalt des Hauses, Strom, Wasser, Gas, medizinisches Behandlungskonzept. Jetzt brauchen aber die Leute auch noch so etwas wie ein Taschengeld, irgendetwas zum Leben. Und hier gestaltet sich die Nebenkostensituation sehr unterschiedlich: Da gibt es Leute, die bekommen ein sogenanntes Übergangsgeld (eine Krankengeldvariante, wenn sie vorher direkt gearbeitet haben), was völlig unproblematisch ist. Aber je weiter wir in der sozialen Leiter nach unten klettern, desto problematischer wird das Ganze und ein Hauptproblem mittlerweile ist eben die vermeintliche Nichtzuständigkeit von Leistungsträgern wie den ARGEN.