"Eine absurde Situation, aber das ist bei uns die Realität"

Teil 2 des Interviews mit dem Diplompsychologen Marcus Breuer, der mit einer Patientin vor das Sozialgericht ziehen wird, über die Erfahrungen mit Hartz IV in seiner Einrichtung

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Zu Teil 1 des Interviews: Willkommen in Kafkaland

Ihre Ausführungen hörten sich bislang so an, als bräuchten die Antragsteller einen eigenen Anwalt, um ihre Rechte wahrnehmen zu können...

Marcus Breuer: Ja. Das ist zunehmend ein Problem. Man muss sich mit den einzelnen SGBs extrem gut auskennen. Es gibt Fälle, wo wir im gesamten Team, also Fachleute aus Sozialpädagogen, Psychologen, Arbeitstherapeuten Tage brauchen, um die Zuständigkeit der Ämter zu klären. Und dann gibt es Fälle, wo gar keiner zuständig ist. Die rechte Hand weiß also nicht, was die linke tut. Es werden auf der einen Seite Reha-Kosten bezahlt, weil man eine Personengruppe wie eben Suchtmittelabhängige aus ihrem Teufelskreis bringen möchte, was auch passiert (das deutsche Rehabilitationswesen steht weltweit wirklich sehr gut da).

Glück oder einen guten Sachbearbeiter

Aber an anderer Stelle, und da geht es stellenweise nur um drei oder fünf Prozent der Gesamtkosten, wird die Zuständigkeit abgelehnt, was wiederum auf Kosten der Patienten geht. Und die brauchen dann Beratung durch einen Sozialanwalt.

Wer macht denn diese kostenfreie Beratung?

Marcus Breuer: Wir machen das für unsere Patienten im Nebenjob. Mittlerweile kennen wir die Spielregeln. Wir sind notgedrungen gezwungen gewesen, uns mit verschiedenen SGBs auseinander zu setzen.

Was macht denn jemand, der ihren Dienst nicht in Anspruch nehmen kann?

Marcus Breuer: Der hat entweder Glück, wenn er einen guten Sachbearbeiter hat und in der Tat gibt es in den ARGEN auch wirklich engagierte Leute, die sich auskennen, dann ist alles o.k.. Wenn man aber einen schlechten Sachbearbeiter hat oder sich in einer Lückensituation befindet, dann hat man ein echtes Problem. Entweder man ist dann gebildet und sozial kompetent und verfügt z.B. über einen Internet-Zugang, denn dort gibt es Foren, in denen Informationen darüber ausgetauscht werden. Oder man wendet sich an einen der Wohlfahrtsverbände, z.B. der paritätische Wohlfahrtsverband oder der VdK, an die Kirchen oder die Caritas, die auch kostenlose Beratung dazu geben. Aber das bedeutet, man muss auf dem Weg der Antragsgewährung noch eine Stelle mit erheblichem Arbeitsaufwand dazwischen schalten. Und gerade, wenn psychische Belastungen dazu kommen, tun sich weitere schwere Probleme auf. Wenn man z.B. in Scheidung lebt, muss man an Informationen des Ehepartners herankommen, die man evtl. nicht erhält. Oder junge Erwachsenen mit innerfamiliären sexuellen Missbrauchserfahrungen bräuchten Informationen ausgerechnet von ihren Eltern.

Wenn die Antragsteller diese Informationen nicht erbringen können, schießen also die Ämter keinen Betrag vor und entscheiden später, wobei man evtl. etwas zurückzahlen müsste, sondern man bekommt bei unklaren Situationen, die im Zweifel gegen den Antragsteller ausgelegt werden, gar kein Geld?

Marcus Breuer: Betroffene bekommen, wenn sie fürsorgliche Sachbearbeiter haben, allenfalls Beratung, aber wahrlich nicht immer. Wenn nicht, oder man zwischen die Raster fällt, hat man ein gravierendes Problem. Es gibt Ratgeber in Buchform hierzu, aber dazu bedarf es auch der Fähigkeiten, um diese Ratschläge dann auch umsetzen zu können, oder es braucht Geld. Irgendwelche Ressourcen braucht man also, über die man gewöhnlich nicht verfügt, wenn man am Rande der Gesellschaft steht

Wie viele Fälle in ihrer Einrichtung bekommen denn momentan Hartz IV?

Marcus Breuer: De facto ist momentan keiner meiner 20 Patienten im SGB II (Hartz IV), wobei nach meiner Ansicht alle dort sein müssten. Dabei ist der aktuelle Trend der, gar keine Ablehnung mehr zu erstellen, sich also schlechthin für nicht zuständig zu erklären. Und auch das mittlerweile nur mehr mündlich und die schriftliche Ablehnung des Antrages zu verweigern.

„Wegen ein paar Süchtigen fällt es der Regierung nicht ein, das Gesetz zu ändern“

Ich bin gerade mit einer Patientin, die ein bisschen couragierter ist, dabei, die ARGE Nord dahin zu bekommen, dass diese zumindest einmal einen Ablehnungsbescheid erstellt. Dazu müsste man eigentlich einen Sozialanwalt konsultieren, wozu uns aber die Mittel fehlen, also sind wir mal gespannt auf das Ergebnis. Die Betroffene hat mehrfach telefonisch darauf gedrungen, einen schriftlichen Bescheid zu bekommen und ist immer vertröstet worden. Jetzt hat sie es schriftlich gemacht und eine Frist von zwei Wochen gesetzt. Wenn wir in diesen zwei Wochen nichts hören, werde ich sie ermuntern, vor das Sozialgericht München zu gehen und darüber zu versuchen, einen Bescheid zu erzwingen. – Auf dass sie dann, wenn sie zumindest einen Ablehnungsbescheid hat, wenigstens einen Widerspruch einlegen kann und wenn dieser abgelehnt wird, dagegen klagen kann. Meiner Meinung nach handelt es hier um eine Zeitverzögerungsstrategie, die wiederum monetär belohnt wird.

Haben sie sich in einer solchen Situation schon einmal an andere Institutionen gewandet?

Marcus Breuer: Ich hatte Kontakt mit der Drogenbeauftragten der Stadt München, mit dem Justiziar des Bezirks Oberbayern, mit Justiziarin der ARGE München Nord, mit der Gruppenleiterin der ARGE München Nord, mit dem Gruppenleiter des Bezirks Oberbayern und mit einem Referenten aus dem Büro der Bundesdrogenbeauftragten Sabine Bätzing. Letzterer hat mir dann hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt, wegen ein paar Süchtiger, werde die Bundesregierung nicht das SGB II ändern. So lauten die Informationen hinter den Kulissen. Man wisse um das Problem, könne es jedoch nicht lösen Es gibt ein Positionspapier des Drogen- und Suchtrates der Bundesregierung vom 05.11.2007. Dieses ist jedoch ganz abstrakt gehalten und hat keinerlei rechtlich verbindlichen Auswirkungen, d.h. es geht jetzt alles über Einzelfallentscheidungen und Klagewege. Wobei man anmerken muss, dass hier immer nur Einzelfälle verhandelt werden, womit sich die Frage ergibt, wie allgemeingültig die jeweilige Entscheidung ist, d.h. gilt, was im Fall X verhandelt wurde, auch für den Fall Y?

“Flut von Klagen“

Es gibt mittlerweile beim Bundessozialgericht in Kassel einen eigenen Senat nur für Hartz IV. Daraus lässt sich meiner Meinung auch ersehen, wie viele Komplikationen und strittige Fälle es in diesem Zusammenhang gibt. Es gibt mittlerweile eine Flut von Klagen an den verschiedenen Sozialgerichten, deren Ressourcen zum Großteil mit Hartz IV-Regelungen befasst sind. Zusätzlich kommen in regelmäßigen Abständen neue Durchführungsbestimmungen hinzu. Für unsere Schnittstellensituation gibt es z.B. kein exakt entsprechendes Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG). Es gab nur weitestgehend ähnliche Fälle, auf die ich in Gesprächen mit den Behörden verwiesen habe, was aber ignoriert wurde. Hinzu kommt: Wir haben hier relativ kurzfristige Behandlungsprozesse von 3 bis 4 Monaten Behandlung. Wenn sich ein Patient, der genauso krank und arbeitslos ist, nicht in unserer Einrichtung befindet, sondern von hier aus ein Haus weiter ziehen würde, dann hätte er vollkommen normal Anspruch auf Hartz IV. Das bedeutet im Grunde, dass sich Patienten sozial schlechter stellen, wenn sie in eine unterstützende Einrichtung wie diese gehen. Eine absurde Situation, aber das ist bei uns die Realität.

Denken sie, das kommt durch die Einführung von marktwirtschaftlichen Kriterien bei den ARGEN, die ja belohnt werden, wenn sie so wenig Kosten wie möglich verursachen, also mehr oder weniger gezwungen sind, wenig Unterstützung so möglich gewähren?

Marcus Breuer: Ja. Man kann im ganzen Sozial- wie auch im gesamten Gesundheitssystem verstärkt Bemühungen zur Kostenreduktion erkennen. Das ist bis zu einem gewissen Punkt auch verständlich und in Ordnung. Andererseits führt es aber generell zu einer marktwirtschaftlichen Orientierung der einzelnen Institutionen, wodurch deren Blickwinkel enger wird und somit das Raster, aus welchem die Personen fallen, weiter wird. Und die Leute, die - aus welchen Gründen auch immer - aus dem Raster fallen, haben einfach ein Problem. Frei nach dem Motto: Den letzten beißen die Hunde.

Der marktwirtschaftliche Mechanismus bringt also vielleicht den ARGEN etwas, weil sie Kosten reduzieren helfen, aber nicht den Leuten, die sie vermitteln und unterstützen sollen...

Marcus Breuer: Ja. Es geht auf Kosten der Betroffenen und es geht auf Kosten der Bürokratie, also bei uns z.B. auf Kosten unserer Arbeitszeit. Die bürokratische Belastung in Rehabilitationseinrichtungen ist in den letzten 5 Jahren um mindestens dreihundert Prozent gestiegen. Das geht natürlich auf Kosten des Patienten, weil potentielle Therapiezeit für Sozialklärung verwendet werden muss. Wenn jemand überhaupt kein Geld hat, kann man mit diesem Menschen dreimal über psychische Probleme reden, das macht überhaupt keinen Sinn, solange die Grundbedürfnisse nicht geklärt sind. D.h. im Extremfall, ich habe jemandem während seiner Therapiezeit im Umgang mit den Ämtern geholfen, aber mit ihm kaum Zeit für die Psychotherapie gehabt.

Was machen die Leute, die einfach kein Geld bekommen? Betteln gehen?

Marcus Breuer: Die haben einfach gar kein Geld. Einen Teil versuchen wir mit unseren Mitteln zu unterstützen, einen Teil fangen die Eltern ab, ich hatte vor zwei Wochen eine Frau, die buchstäblich ihren letzten Ring versetzt hat. Also versuchen die Betroffenen teilweise, aus irgendetwas Geld zu machen. Da es sich bei den Patienten z.T. um Personen handelt, die früher mit illegalen Substanzen gehandelt haben, kommt so etwas (ohne dass dies von uns geduldet würde) hin und wieder vor.

“Einfach wegggedrückt“

Auch z.B. Schwarzfahren wird dadurch gefördert. Wie soll ich denn jemandem, der kein Geld hat, therapeutisch erklären, dass es sinnvoll ist, eine Fahrkarte zu bezahlen, damit er/sie nicht wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerät? Also verhandeln wir selber auch den Notstand, also machen uns für etwas zuständig, für was wir nicht zuständig sind und werden dafür von den eigentlich Zuständigen auch noch relativ abschätzig behandelt. Es gibt Fälle, in denen, wenn wir anrufen, und diese unsere Rufnummer im Display sehen, niemand abnimmt oder wir werden weggedrückt.

Wie schätzen sie denn die zukünftige Entwicklung ein?

Marcus Breuer: Es gibt mehrere Richtungen. Es gibt eine Tendenz in Richtung “Fordern und Fördern“, was sich z.B. im Bereich der Vermittlung Jugendlicher im Vergleich zum Beginn von Hartz IV in den letzten zwei - drei Jahren deutlich verbessert hat, das muss man den Beteiligten einfach zugestehen. Ich befürchte aber, dass viele Dinge so bleiben werden, wie sie sind. Die Zeiten werden härter, das Klima kälter und auf einiges müssen wir uns sicher einrichten. Wir werden uns weiter bemühen, die Patienten, für die wir in der Fürsorge stehen, im Rahmen unserer Ressourcen, auf möglichst hohem Niveau zu betreuen - auch wenn wir uns dafür häufig Ärger einhandeln.

Welche Veränderung würden sie denn aus ihrer Praxis heraus der hiesigen Politik anempfehlen?

Marcus Breuer: Die utopischste aber beste Regelung wäre, eine Behörde zu schaffen. In den skandinavischen Ländern ist das z.T. so. Wenn es einen Ansprechpartner gäbe, der die Macht hätte zu entscheiden, aus welchem Topf die entsprechenden Leistungen kommen und aus welchem nicht. Das ist ja auch der Gedanke aus dem SGB IX, aber dieses funktioniert wie gesagt bisher kaum. Und wenn das nicht umsetzbar ist, müsste man viel klarere, im Idealfall auch unbürokratische Letztzuständigkeiten schaffen, eine Art Restbehörde, welche für die ganzen Schnittstellenfälle zuständig wäre. Das aktuelle Regionalitäts- und Zuständigkeitsprinzip ist hierbei hingegen wirklich sehr hinderlich.