Dezentrale Erbgutarchive

Private Sammler mildern Marktversagenseffekte bei Nutzpflanzen

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Im Geschmack von Obst und Gemüse wird zunehmend ein Marktversagen sichtbar. Es kam nicht plötzlich, sondern entwickelte sich – ebenso wie die Züchtung von Sorten – nach und nach im Laufe der Jahrzehnte. Um Abhilfe zu schaffen, greifen Wissenschaftler auf das Erbgut von Wildsorten und alten Nutzsorten zurück. Diese werden nicht nur in wissenschaftlichen Instituten erhalten, sondern auch bei privaten Sammlern.

Besonders bewahrt man alte Sorten in Österreich. Dort sammelt unter anderem die 1990 von Nancy Arrowsmith ins Leben gerufene Arche Noah. Das Archiv des Vereins enthält mittlerweile über 6.000 Sorten und wächst weiter: Aufgenommen werden neben gestrichenen Handelssorten auch gefährdete Landsorten. In den Schaugärten des Vereins können bei Veranstaltungen viele davon nicht nur besichtigt, sondern auch verzehrt werden.

Die Aufbewahrung von Saatgut ist ein Glücksspiel: Zwar gibt es in Einzelfällen auch Samen aus der Zeit Jesu, die noch austreiben, nachdem sie von Archäologen ausgegraben wurden - bei anderen dagegen ist es auch unter optimalen Lagerbedingungen nach wenigen Jahren mit der Keimfähigkeit vorbei. Als sichere Methode gilt deshalb, die Sorten regelmäßig auszusäen und so frisches Saatgut zu gewinnen.

In der Arche Noah arbeiten (in kleinerem Rahmen, aber ähnlich wie bei der Wikipedia oder GNU/Linux) tausende Freiwillige dezentral mit, für die Aussaat und Aufzucht der Pflanzen keine Arbeit, sondern ein Vergnügen ist. Der Verein verschickt Saatgut, das die "Paten" einer Sorte in ihren eigenen Gärten und auf ihren eigenen Feldern anpflanzen. Informationen, was dabei besonders zu beachten ist, werden unter anderem über Lehrgänge weitergegeben. Im Archiv selbst verbleibt nur eine Saatgut-Sicherheitsreserve. Die "Paten" verzehren die reifen Früchte und schicken die frischen Samen zusammen mit neu gewonnenen Informationen über die Pflanzen an das Archiv zurück. Diese fließen in das jährlich erscheinende Sortenhandbuch ein.

Der Verein kümmert sich nicht nur um Obst und Gemüse, Feldfrüchte, Gewürze, Tee, essbare Wildpflanzen und Pilze, sondern auch um Zierpflanzen. Denn nicht nur bei Obst und Gemüse, auch bei Blumenzüchtungen macht sich zunehmend ein Marktversagen bemerkbar: Weil etwa Rosen möglichst lange frisch aussehen sollten, wurden ihren Blüten eine Wachsschicht angezüchtet. Die sorgt allerdings dafür, dass der Duft in den Blättern gefangen bleibt.

Tomaten von Erich Stekovics

Paradeiser-Paradies

Relativ stark spezialisiert hat sich dagegen Erich Stekovics, der in seinem ebenfalls in Österreich beheimateten "Paradeiser-Paradies" über 3.200 verschiedene Tomatensorten in allen Farben, Formen und Geschmacksrichtungen pflanzt. Vor vier Jahren waren es noch 1.260. Trotzdem sieht der ehemalige Theologiestudent das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht: "Auf der ganzen Welt", so Stekovics, "gibt es 300.000 Tomatensorten, und es ist ein Jammer, dass in Österreichs Supermarktregalen, nicht zuletzt aufgrund völlig falscher Förderrichtlinien, ausgerechnet jene zehn davon erhältlich sind, die geschmacklich am tiefsten darnieder liegen."

Nicht zu finden ist in deutschen und österreichischen Supermarktregalen zum Beispiel die Cuore di bue. Die bis zu einem Halben Kilo schweren Früchte schmecken zwar ausgesprochen intensiv "tomatig", erinnern aber in ihrer Form, wie bereits der Name sagt, eher an das Herz eines Ochsen als an eine Kugel. Auch die Haltbarkeit ist nach einer gewissen Zeit der Nachreife begrenzt. Wenn die Frucht reif ist, dann ist zwar das Fleisch fest und aromatisch, aber die Schale bereits weich und druckempfindlich.

Im August verkauft der ehemalige Theologiestudent Stekovics Früchte von etwa 100 Tomatensorten auf seinem Hof im nördlichen Burgenland. Da sie "vollreif" geerntet werden, haben sie zwar einen sehr intensiven Geschmack, lassen sich aber relativ schlecht transportieren. Mittlerweile wurden sogar schon ein Dokumentarfilm über den "Kaiser der Paradeiser" gedreht. Nachdem der auf Arte lief, meldete sich der Scheich von Katar und lud den Frauenkirchener ein, um die Idee für ein ähnliches Projekt am Persischen Golf zu besprechen.