Wir sind eine "Lost Generation"

Der chinesische Regisseur Lou Ye über seinen neuen Film, 1989 und Ärger mit der Zensur

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit Filmen wie "Souzhou River", "Purple Butterfly" und zuletzt "Summer Palace", dem ersten chinesischen Spielfilm über die Studentenproteste des Tiananmen-Platz von 1989 und ihre blutige Niederschlagung, wurde der 1965 geborene Lou Ye zu einem der bekanntesten chinesischen Regisseure. Als Angehöriger der "Sechsten Generation" des chinesischen Kinos steht Lou für ein politisch engagiertes, sozialkritisches Kino - entsprechend hat er nach wie vor große Probleme mit dem Pekinger Regime. Zur Zeit ist er offiziell mit einem fünfjährigen Arbeitsverbot belegt - da dies kaum zu kontrollieren ist, hindert ihn dies in der Praxis an wenig.

Jeder Ihrer Filme ist ganz anders, als der Vorgänger, sie weichen stark voneinander ab. Erzählt ihr letzter Film "Summer Palace" auch von Ihnen selbst, von Ihrer eigenen Generation?

Lou Ye: Ja, das ist eine Geschichte der Zeit Ende der 80er, als ich selbst studiert habe. Es ist das Leben meiner Generation, das den Hintergrund des Films bildet. Und die Geschichte ist natürlich nicht zuende. Denn diese Generation ist eine Generation des Übergangs, einer der für China wohl wichtigsten Generationen. Heute sind sie um die 40 Jahre. Man kann ihren Vertretern im zeitgenössischen China überall begegnen.

Souzhou River

Zugleich bekommt man in Ihrem Film den Eindruck, dass dies eine "Lost Generation" ist: zu jung für Den Xiao-ping, zu alt für den Aufbruch seit Mitte er 90er…

Lou Ye: Ja, unbedingt. Das stimmt: Wir sind eine "Lost Generation". Aber der Verlust, unter dem ich leide, wie auch viele andere, hat neben Nachteilen auch seine Vorteile: Wir denken mehr nach, wir sind skeptischer, realistischer. Wir neigen weniger zum Träumen. Das ist ein Glück, nach all dem Chaos und Unglück, das wir 1989 erlebten. Das war das Ende der Träume, jedenfalls für die, die an der Universität waren. Aber heute erleben wir soviel Freiheit, wie keine Generation vor uns. Das ist ein glücklicher Umstand.

Viele gingen nach 1989 ins Exil nach Europa oder Amerika…

Lou Ye: Davon handelt der zweite Teil meines Films, der mir persönlich wichtiger ist: Was passierte nach dem Zerbrechen der Träume. Wir müssen uns mit den Folgen des Scheiterns auseinandersetzen

Die Heldin Ihres Films ist ein junges Mädchen vom Land. Sie kämpft darum, zu studieren, und landet in der großen Stadt..

Lou Ye: Wenn sie damals studieren konnten, war das eine Ausnahme, ein großes Privileg. Und alle kamen vom Land. Das war für diese Generation normal. In dieser Zeit öffnete sich China sehr plötzlich. Alles Westliche war verführerisch und interessant.

Die Revolution in Ihrem Film ist sinnlich. Sie zeigen: Es ging nicht allein um Politik und mehr Rechte, es ging um Musik, um Sex, um Literatur und Ideen aus dem Westen, um Freiheit…

Lou Ye: Ja, Mitte der 80er gab es eine schnelle Öffnung. Ich habe diese Passagen sehr schnell geschnitten, um das Tempo dieser Öffnung auszudrücken. Aber vielleicht kam die Freiheit damals zu früh. Es war sehr aufregend, aber vielleicht war alles auf einmal zu viel. Manchmal denkt man, die Freiheit kam zu früh. Man muss vieles gleichzeitig tun: beobachten, zuhören, lesen, vielleicht noch ganz anderes, wie Liebe machen. In einem gewissen Sinn sind Sex, Liebe und Politik dasselbe. Eine Frage des Standpunkts: Was zwischen dem Liebespaar geschieht, geschieht auch zwischen Regierung und dem Volk - es war nicht ganz klar, was sie für ein Verhältnis haben, es ist Sache der Verhandlung. Das war zu jener Zeit alles nicht sehr klar, keineswegs Schwarz-Weiß.

"1989 war für China trotz allem wie für den Rest der Welt ein Aufbruch. Danach wurde vieles besser"

Sind die Figuren für Sie eher Linke oder eher Rechte?

Lou Ye: Ich denke, sie sind Linke, eindeutig. Man erinnert sich an die Ereignisse in Europa: 1989, aber auch schon 1968.

Beim Ansehen Ihres Films kam mir der Film "Dreamers" von Bertolucci in den Sinn…

Lou Ye: "Dreamers" hatte ich vorher gesehen. Aber ehrlich gesagt, mag ich den Film nicht so sehr. Ich weiß selber nicht, warum. Vielleicht ist er zu eindeutig. Die Parallelen zwischen 1989 und 1968 sind begrenzt. Nach 1968 zerbrach alles. Die Revolte war gescheitert, der Kalte Krieg kehrte zurück. 1989 war für China trotz allem wie für den Rest der Welt ein Aufbruch. Danach wurde vieles besser.

Sie zeigen viel Sex… Ungewöhnlich für China…

Lou Ye: Wenn man im Kino Sex zeigt, muss man ihn zeigen, wie er ist, sonst ist es langweilig. Dann geht es nur darum, die Leute zu schockieren. Mir geht es darum, eine Erfahrung zu vermitteln. Ich will die echten Gefühle der Figuren und der Zuschauer berühren. Ich will echte Menschen zeigen, und nicht den Sex nur benutzen.

Purple Butterfly

"Summer Palace" ist für mich eine Liebesgeschichte. Natürlich kann man noch anderes darin finden - Politisches zum Beispiel -, wenn man will. [Lacht] Sie können wählen. Ich bin offen für alles.

Alle Ihre Filme sind für chinesische Filme sehr ungewöhnlich und ärgern die chinesischen Zensurbehörden: Als erster Filmemacher zeigen Sie die Ereignisse des Tiananmen-Platzes - zwar nicht direkt, aber sie zeigen, was drumherum passiert, sie zeigen Nachrichtenausschnitte… Und den Sex zeigen sie schon in anderen Filmen in einer Deutlichkeit, die in China Zensureingriffe provoziert. Lieben Sie es, Tabus zu brechen?

Lou Ye: Was 1989 angeht: Das liegt 16 Jahre zurück. Ich zeige nur die Fakten, wie sie für mich waren. Ich will als Regisseur nicht den Tabubrecher spielen. Ich will keinen Ärger. Aber ich will mich als Regisseur auch nicht verstellen. Als Regisseur brauche ich Ausdrucks- und Redefreiheit. Das ist mir sehr wichtig. Wenn ich die als Künstler nicht habe, bleibt mir nur die Wahl zwischen zwei Mitteln: Ich kann ich mich entweder anpassen und meine Sprache ändern, also lügen. Oder ich behalte meine Freiheit, dann berühre ich eben die Tabus. Das ist mein Weg.

Es ist mir durch meine Themenwahl natürlich klar, dass ich vorsichtig sein muss. Schon 1989 als Hintergrundthema war pikant und brachte mir viel Aufmerksamkeit. Und viele haben mich gewarnt, gesagt: "Sei vorsichtig". Und ich konnte nur sagen: "Ich weiß, ich weiß". Genau genommen bin ich in dem Film sehr vorsichtig. Das ist meine Art. Ich will gar nicht große Probleme machen. Ich bin nur ein Regisseur, ich gehe nicht zu weit.

Sie behandeln 1989 indirekt. Zugleich gehören Sie - wie Jia Zhang-ke und Wenig Xiaowai der "6. Generation" chinesischer Filmemacher an, der man nachsagt, dass sie die Dinge direkter anspricht. Können Sie sich einmal mit Ihren Kollegen vergleichen?

Lou Ye: Es stimmt, dass unsere Filme direkter sind. Dass liegt daran, dass wir zehn Jahre mehr Underground-Filme hinter uns haben, dass einfach in den knapp zehn Jahren, die auf die "5. Generation" folgten, viel passiert ist. Die Zensur hat sich dabei auch verändert. Es ist heute viel besser, als früher. Zur Zeit der "5. Generation" war die Zensur sehr übel. Aber es gibt immer noch viel zu viele Verhandlungen mit der Zensur. Schon wenn man zu oft und zuviel mit denen zu tun hat, verändert das die Sprache. Man muss seinen Standpunkt behalten, seiner Position als Künstler treu bleiben.

Wie muss ich mir diesen Umgang mit der Zensur praktisch vorstellen?

Lou Ye: Wie überall gibt es auch in den Zensurbehörden sehr verschiedene Leute mit verschiedenen Einstellungen. Die Behörde ist gespalten und spricht nicht mit einer Stimme. Es gibt sehr konservative Gruppen mit denen man nicht gut reden kann. Andere sind liberaler, mit ihnen muss man verhandeln, und dann ist es eine Frage des Geschicks, des persönlichen Verhältnisses und auch der Begründung, die man gibt, ob eine Szene im Film bleibt, ob sie geschnitten wird, oder ob sie ganz verschwindet.

Ihr Film "Suzhou River" wurde mithilfe einer deutschen Produktionsfirma an den Zensurbehörden vorbeigeschmuggelt. Er ist bis heute in China verboten. Ihr neuester Film, "Summer Palace" hatte auch kein Zensursiegel, als er im Mai Cannes aufgeführt wurde. Jetzt verhängte Peking ein fünfjähriges Arbeitsverbot. Können Sie erklären, was das in der Praxis bedeutet? Kümmert sie das alles nicht? Wie sieht Ihre Zukunft aus?

Lou Ye: Oh doch, es kümmert mich! Natürlich bin ich besorgt über die Zukunft. Aber ich kenne die Zukunft nicht. Ich kümmere mich nur um die Gegenwart.

Es ist die gleiche Situation, wie 2000, als "Suzhou River" Probleme hatte. Man kann die Zensur nicht durch einen Film verändern. Ich versuche etwas zu tun, ich tue was ich kann, verhandle. Ich bin bereit, bestimmte Szenen aus dem Film herauszunehmen. Aber sie sollen meinen Film in China zeigen. Denn sehen Sie: Wenn mein Film irgendwann überhaupt in China herauskommt, sei er auch zur Hälfte zensiert, ist das ein Erfolg. Er wird anderen Regisseuren den Weg frei machen.

Zensur und Schwarzmarkt

Ihre Filme sind aber auf DVD erhältlich, oder?

Lou Ye: Ja, auf DVD sind alle meine Filme sowieso erhältlich, und ein großer Erfolg. Aber natürlich auf dem Schwarzmarkt, der nicht verfolgt wird. Das ist ja das Lächerliche, Absurde an der Zensur. Aber Sie können mit denen nicht immer logisch argumentieren.

Summer Palace

Ich kann noch verstehen, dass man "Suzhou River" im Jahr 2000 verboten hatte. Der Film war zu düster, zu traurig für diese Epoche. Aber 2006? Alles hat sich geändert. Würde man den Film heute machen, gäbe es keinerlei Problem.

Aber wenn die Zensur mir keine Freiheit gibt, muss ich mir selbst die Freiheit nehmen. Das ist meine Art. Mein Film ist nur ein Anfang.

In ihren Filmen "Summer Palace", aber auch "Purple Butterfly" erzählen Sie Historisches.

Lou Ye: Ja, beide Filme gehen ähnlich vor. Mein Interesse bei "Purple Butterfly" war es, diese Geschichte und Ihre bekannten Lesarten in Frage zu stellen. Als ich zur Schule ging, war die Geschichtsschreibung ganz uniform. Die Japaner waren die Bösen, fast wie Tiere. Ich wollte die menschlichen Aspekte zeigen, das Grau in Grau.

Welche Regisseure und stilistische Einflüsse, welche Traditionen sind wichtig für sie?

Lou Ye: Viele. Das ist eine lange Liste. Am wichtigsten die französische Nouvelle Vague und der Film Noir. Beide Stile zeichnen sich durch emotionale Bilder aus. Und eine gute Art, zu erzählen. Das sind beides ganz originäre Denkweisen des Kinos. Die finden sie überall, auch im Neuen Deutschen Film, im japanischen Kino der 60er und im Kino Shanghais der 30er-Jahre.

Es ist ein Seelen- und Bewusstseinskino, das Gefühl mit Tiefe verbindet, und nicht sehr teuer ist

Wenn Sie Filme machen: Ist Ihnen die Geschichte wichtiger, oder die Atmosphäre?

Lou Ye: Weder noch: Mein erster Gedanke gilt den Charakteren. Ich folge ihnen und weiß selber nicht, was genau passieren wird.

Und sind im Kino die Bilder wichtiger, oder das Gefühl?

Lou Ye: Das Gefühl. Besonders die Gefühle der Charaktere. Man kommt sehr weit, wenn man den Charakteren folgt. Darum ist für mich die Anfangsphase eines neuen Films immer besonders aufregend. Ich fühle den Film bereits, aber ich kann ihn der Produktion gar nicht richtig erklären. Ich weiß noch nicht, wie es genau geht. In jedem Film will ich einen neuen Stil, neue Bilder, ein neues Feeling finden. Das ist aufregend. Aber wenn man alles wüsste, was in der Zukunft liegt, wäre es langweilig.

Ihre Hauptfiguren sind immer Frauen. Warum?

Lou Ye: Ich mag Frauen. [Lacht] Ich denke aber eigentlich nicht, dass ich nur von Frauen erzähle. Frauen sind sensibler, emotionaler. Aber es gibt auch Männer, die eigentlich Frauen sind. Und Frauen sind nicht immer "Frauen". Alles ist möglich. Gute Schauspieler haben eigentlich immer eine starke weibliche Seite.

Haben Sie schon Pläne für Ihren nächsten Film?

Lou Ye: Ja, ich arbeite an einem Drehbuch. Eigentlich darf ich das ja gar nicht. [Lacht] So ein Blödsinn! Keine Ahnung, ob ich darauf fünf Jahre warten muss. Ich versuche meinen Job zu machen.

Für ein westliches Publikum gilt Zhang Yimou, der jetzt die Eröffnungsveranstaltiung der Olympischen Spiele choreographiert als Aushängeschild des chinesischen Gegenwartskinos. Ist dieser Eindruck richtig, oder haben wir eine idealisierte Sicht?

Lou Ye: Mich hat für die Olympiade keiner gefragt [Lacht]. Heute gibt es viele chinesische Regisseure, die man im Westen kennt, Das finde ich sehr gut.