Totgeburt der WTO

Nach dem Scheitern der Welthandelsgespräche in Genf sollen die Beratungen nun doch wieder aufgenommen werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nur wenige Tage nach dem überraschenden Scheitern der Welthandelsgespräche Ende Juli in Genf soll ein weiterer Anlauf gewagt werden. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon äußerte seine Hoffnung auf eine baldige Wiederauflage der Gespräche, die auf eine weitere Liberalisierung des Welthandels abzielen. "Der Erfolg wäre gerade jetzt besonders wichtig, weil die Welt vor großen Entwicklungsproblemen steht", hieß es in einer Erklärung Bans. Experten aber sind skeptisch, ob ein Wiederbeginn der Gespräche zum Erfolg führen kann. Zu tief sind die Gräben zwischen industrialisierten Staaten und Entwicklungsländern.

Gescheitert waren die Verhandlungen am 29. Juli nach neun Tagen vordergründig an einem Zerwürfnis zwischen den USA und Indien. Die Vertreter Neu-Delhis bestanden auf Mechanismen, die Entwicklungs- und Schwellenländer vor billigen Nahrungsmittelimporten aus dem Norden schützen sollten. Die Emissäre Washingtons aber wollten auf eine totale Öffnung der Märkte. Nach dem Scheitern der Gespräche schoben sich beide Seiten die Schuld zu.

Begonnen hatten die Welthandelsgespräche 2001 in Doha, der Hauptstadt des Emirats Katar. Seit damals stritten sich die Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsstaaten um die Balance zwischen einer totalen Öffnung der Märkte und dem notwendigen Schutz der besonders im Süden schwachen Agrarsektoren. Die Geschichte der Doha-Verhandlungen ist vor diesem Hintergrund eine Geschichte des Scheiterns. Schon im September 2003 waren - begleitet von lautstarken Protesten globalisierungskritischer Gruppen - entsprechende Ministergespräche in der mexikanischen Küstenstadt Cancún ergebnislos verlaufen. Damals schon sollten die finalen Verhandlungen stattfinden. Dass die Welthandelsgespräche nun mit Verzögerung nach sieben Jahren gescheitert sind, ist deswegen nur konsequent. Umso fragwürdiger ist der Plan einer Neuauflage.

Kritische Stimmen aus dem Süden

Nach sieben Jahren hatten sich die Verhandlungen in einem Satz des Vorsitzenden der Welthandelsorganisation (WTO), Pascal Lamy, aufgelöst. "Das Treffen ist gescheitert", sagte der Franzose. Mit dem Eingeständnis trat er eine Welle der Schuldzuweisungen los. Der Chef der US-amerikanischen Handelskammer, Tom Donohue, sprach nach Angaben der französischen Nachrichtenagentur AFP von einer "schlechten Nachricht für die Armen". Es sei "ironisch", dass der Schlag gegen die Doha-Runde von den zwei Hauptbegünstigten des Welthandels gekommen sei: Indien und China. Indonesiens Handelsministerin Mari Elka Pangestu erklärte hingegen, die Entwicklungsstaaten hätten sich kompromissbereit gezeigt. "Wir sind daher tief enttäuscht", so Pangestu, die zugleich der Entwicklungsländergruppe G-33 vorsteht. Das Scheitern läge darin begründet, dass die Staaten, die einen Schritt weiter gehen konnten, nicht einen Schritt weiter gegangen sind, fügte sie mit Blick auf die Industrienationen an.

Die Verhandlungsrunde in Genf, an der von vornherein nur 35 der insgesamt 153 WTO-Mitglieder teilnehmen durften, war von harschen Protesten begleitet. So hatte sich wenige Tage vor Beginn des Treffens der bolivianische Präsident Evo Morales mit einem offenen Brief zu Wort gemeldet. Die Verhandlungen in der WTO hätten sich zu einer "Schlacht der entwickelten Länder für deren große Unternehmen um die Marktöffnung der Entwicklungsländer" verwandelt, schrieb Morales:

In den Verhandlungen wird darauf gedrängt, daß immer weitere Dienstleistungssektoren liberalisiert werden. Dabei sollten solche grundsätzlichen Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Wasser- und Energieversorgung sowie Telekommunikation aus dem Allgemeinen Abkommen der WTO über Dienstleistungen definitiv ausgeschlossen werden. Der Zugang zu diesen Bereichen ist ein Menschenrecht, das nicht Gegenstand von Handels- und Liberalisierungsregeln, die auf eine Privatisierung abzielen, sein kann.

Boliviens Präsident Evo Morales vor dem Scheitern der Doha-Runde

Kritisch äußerte sich der bolivianische Staatschef auch zu dem Streit um intellektuelles Eigentum in der WTO. Der Streit um Patente habe unter anderem zur Folge, dass "transnationale Unternehmen … die Preise von Medikamenten und anderen wichtigen Produkten in die Höhe treiben können". Die WTO, so Morales' Urteil, hänge "noch immer Dogmen der Vergangenheit an, anstatt dem Weltgeschehen gerecht zu werden, das sich vor unseren Augen abspielt: mit der Ernährungskrise, der Energiekrise, mit dem Klimawandel und der Vernichtung der kulturellen Vielfalt".

Das Urteil des bolivianischen Präsidenten traf auf positive Resonanz bei Nichtregierungsorganisationen. Angesichts der Verhandlungsangebote sei "kein Deal besser als ein schlechter Deal", meinte Deborah James vom US-amerikanischen Zentrum für Wirtschafts- und Politikforschung. Walden Bello vom Institut Focus on the Global South wandte sich grundsätzlich gegen den Welthandel. Dieser gehen mit einer enormen Emissionsbelastung einher. Wem Umweltschutz am Herzen liege, der müsse sich also auch gegen eine weitere Liberalisierung des globalen Warenverkehrs wenden, so Bello in seinem Essay mit dem Titel "Derail Doha, Save the Climate".

Am prägnantesten fasste das Problem Ben Lilliston vom Institut für Agrar- und Handelspolitik mit Sitz im US-amerikanischen Minnesota zusammen. Die Gespräche in Genf seien gescheitert, weil die meisten WTO-Mitgliedsstaaten, besonders die armen Länder, die am stärksten unter der Ernährungskrise zu leiden haben, dringend die Möglichkeit zurückerlangen wollten, die Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Die US-Regierung von George W. Bush und die exportierenden Agrarstaaten innerhalb der WTO wollten dem entgegen einen weiteren Zugang auf die Märkte des Südens. Dieses Problem sei am Ende nicht mehr zu lösen gewesen.

Alternativen zum WTO-Modell

Trotzdem herrscht bei Kritikern der neoliberalen Globalisierung mitunter auch vorsichtiger Optimismus. Aktivisten aus dem Attac-Netzwerk in Deutschland etwa begrüßten das Scheitern der Doha-Runde. Nach sieben Jahren zäher Verhandlungen sei klar, "dass eine Freihandelspolitik ausschließlich zu Gunsten der Konzerne aus dem Norden keine Chance mehr hat", sagte Alexis Passadakis von Attac-Deutschland.

Das aggressive Vorgehen der USA und der Europäischen Union in den Beratungen der vergangenen Jahre habe sich in Genf gerächt. So sei es dem deutschen Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) ausschließlich darum gegangen, neue Märkte für die deutsche Automobilindustrie zu erschließen. "Soziale Verwerfungen durch die Liberalisierung im Süden sind für ihn lediglich Kollateralschäden deutscher Exportweltmeisterschaft", so Passadakis weiter. Ein zweiter Attac-Experte, Roland Süß, bezeichnete die Schuldzuweisungen an die Länder des Südens indes als "höchst verlogen". Tatsächlich seien die Verhandlungen gescheitert, "weil die reichen Industrienationen nur Forderungen stellten und selbst elementarste Bedürfnisse der Entwicklungsländer wie minimale Nahrungssicherheit ignorierten". Zugleich äußerte Süß die Hoffnung auf nun entstehende "Freiräume für einen Politikwechsel".

Die Wahrheit hinter dem vorläufigen Scheitern der Doha-Runde ist auch, dass diese Freiräume im Süden schon längst entstanden sind. Anders als in den 80er und 90er Jahren sind dort Alternativen zu Handelsstrukturen geschaffen worden, die von den Industriestaaten dominiert werden. Besonders in Lateinamerika, dem "Hinterhof" der USA, haben sich die Länder in regionalen Zusammenschlüssen organisiert: Mercosur, Andenpakt, Caricom, Bolivarische Alternative. Die Kooperation im so genannten Trikont - Afrika, Asien und Lateinamerika - wird in Riesenschritten ausgebaut. Die bislang politisch führenden Industriestaaten - allen voran die USA und die EU - müssen diese neue Realität anerkennen, wenn sie bei etwaigen künftigen Handelsgesprächen erfolgreich sein wollen.