Zwischen Boom und Abschwung

Die globale Kreditkrise reißt die ersten Volkswirtschaften der osteuropäischen Peripherie in den Abgrund - und sie könnten einige westeuropäische Bankkonzerne mitnehmen

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Die Analysten der Deutschen Bank wollten sich in einem jüngst publizierten Kommentar zu den wirtschaftlichen Aussichten Osteuropas noch nicht festlegen, ob der Region nun eine „weiche“ oder „harte“ konjunkturelle Landung drohe. Doch im schlimmsten Fall könnte sogar das Engagement der westeuropäischen „Mutterbanken“ in ihrer osteuropäischen Peripherie in Frage gestellt werden, warnte das von Deutsche Bank Research veröffentlichte Papier. Es seien vor allem die unerwartet heftigen „makroökonomischen Anpassungen“ in den einstigen Wirtschaftswunderländern Lettland und Estland, die das Szenario einer sanften konjunkturellen Abschwächung zusehends in Frage stellten.

Tatsächlich scheinen die beiden, über Jahre von einem atemlosen Wirtschaftsboom erfassten baltischen Republiken nun nicht mehr weit von einer konjunkturellen Vollbremsung – inklusive eines Rückzugs westeuropäischer Geldhäuser - entfernt zu sein. Zugleich finden sich in beiden Ländern all die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen bis zum Exzess getrieben, die auch in den meisten anderen Volkswirtschaften der Region auftreten. An Lettland und Estland kann man schon jetzt wie unter einem Vergrößerungsglas ablesen, welche Entwicklung solch scheinbar kerngesunden Ökonomien wie denen Rumäniens und Bulgariens droht.

Der Wirtschaftsaufschwung in beiden Staaten, die eine für Osteuropa charakteristische, gnadenlos neoliberale Wirtschaftspolitik betrieben, war bis 2008 in der Tat beeindruckend. Beide Länder konnten seit dem Ende der russischen Kreditkrise in 1998 oftmals zweistellige Wachstumsraten verzeichnen. 2006 legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Lettlands beispielsweise um 13 Prozent zu. Selbst 2007 stieg die lettische Wirtschaftsleistung noch um zehn Prozent. Estland erreichte ein Wachstum von 11,3 Prozent in 2006 und 9,5 Prozent in 2007. Doch seit Anfang 2008 erfolge eine abrupte Vollbremsung in beiden Volkswirtschaften, die dieses Jahr bereits in einer Rezession abschließen könnten. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Studie der Danske Bank, des führenden dänischen Geldinstituts. Demnach soll das BIP Lettlands in 2008 um 0,5 Prozent schrumpfen, das estnische gar um 0,8 Prozent. Für Litauen prognostiziert die Studie eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums: 2009 soll es noch 2,3 Prozent betragen – nach stolzen 7,7 Prozent im ersten Quartal 2008. Lettland werde hingegen in einer ernsten Rezession versinken, die bis 2012/2013 andauern könne.

Westeuropäische Handelskonzerne wie Lidl oder die Metrogruppe schöpfen einen Großteil der kreditgenerierten Nachfrage in Osteuropa ab. Bild: T. Konicz

Der Finanzsektor im Baltikum ist in westeuropäischer Hand

Es gibt einen Grund, weshalb sich ausgerechnet die Danske Bank so sehr um das Wohlergehen der baltischen Volkswirtschaften sorgt. Der Finanzsektor im Baltikum ist – wie auch in der gesamten osteuropäischen Peripherie – längst in westeuropäischer, hier konkret in skandinavischer Hand. Und die westeuropäischen Bankkonzerne zeigten sich in Osteuropa durchaus spendabel, da sie großzügig Kredite und Hypotheken gewährten, ohne es allzu genau mit der Bonität ihrer Kunden zu nehmen. Diese Kredite sorgen zu einem guten Teil für den Konjunkturaufschwung in vielen Ländern Osteuropas, der seine stärksten Impulse durch die (kreditfinanzierte) Binnennachfrage erhielt.

Jetzt zittern die Bankkonzerne. Die Danske Bank ist beispielsweise der 2006 erfolgten Übernahme der finnischen Sampo Bank im Baltikum präsent und fürchtet nun offenbar um sein ausgeliehenes Geld. Die größten Risiken, auf faulen Krediten sitzenzubleiben, haben indes die schwedischen Geldhäuser Swedbank und SEB, deren Marktanteil im Baltikum sich inzwischen auf 70 Prozent beläuft.

So stufte die Ratingagentur Moody’s Anfang August die Swedbank von der ohnehin eher bescheidenen Bewertung "B" auf "B –" herab. Die Bank sei vermittels ihrer Tochtergesellschaft Hansabank zu stark dem baltischen Finanzmarkt "ausgesetzt", lautete Moody’s Begründung. Swedbank-Chef Jan Liden beeilte sich zu versichern, dass nur zwischen 0,5 und 0,7 Prozent der von der Hansabank vergebenen Kredite vermutlich nicht mehr eingetrieben werden könnten. Dies dürfte eine eher berufsoptimistische Einschätzung sein. Betrug doch der Anteil der überfälligen Darlehen allein in Estland im November 2006, also noch am Vorabend der Krise, bereits 3,1 Prozent des gesamten Kreditaufkommens.

Atemberaubende Verschuldung

Die österreichische Zeitung Die Presse berichtete unlängst über die schwindelerregenden Geschwindigkeit, mit der sich die Balten in den letzten Jahren verschuldet haben. „Jedesmal, wenn man für vier Lat produzierte, konsumierte man für fünf“, erklärte Morten Hansen, Professor an Rigas Wirtschaftsfakultät. Dieser Konsum auf Pump ließ naturgemäß das lettische Leistungsbilanzdefizit in exorbitante Höhen klettern. Anfang 2008 musste die Regierung in Riga eingestehen, dass dieses Minus unglaubliche 21,4 Prozent des BIP betrug.

Es verwundert somit kaum, dass die skandinavischen Banken nun Blut und Wasser schwitzen, denn solch enorme Ungleichgewichte können kaum im Rahmen einer „sanften“ konjunkturellen Landung abgebaut werden. Dabei sieht die Lage in den beiden anderen baltischen Ländern, deren Finanzmärkte ebenfalls durch Swedbank, SEB und Danske Bank dominiert werden, nicht viel besser aus: In Estland lag das Leistungsbilanzdefizit - also die Differenz zwischen eingeführten und exportierten Gütern, Dienstleistungen und Kapital - bei 16 Prozent, in Litauen bei 13 Prozent des jeweiligen BSP. Diese atemberaubende Geschwindigkeit der Verschuldung wird beispielsweise am Wachstum der estnischen Verbraucherkredite um stolze 65 Prozent allein im Jahr 2006 deutlich. Diese hatten schon damals ein Volumen von 38 Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung und von 70 Prozent der verfügbaren Einkommen der Baltenrepublik erreicht.

2007 wuchs die private Verschuldung im gesamten Baltikum noch einmal um 45 Prozent. Erst im April 2008 wurde ein langsames Erlahmen dieses kreditfinanzierten, konjunkturellen Perpetuum Mobile sichtbar . Die private Kreditverschuldung wuchs in Lettland nur noch um 4,6 Prozent, in Estland um elf und in Litauen um 24 Prozent.

Rumänien, Bulgarien und Polen in der Verschuldungsspirale

Scheinbar kontrastiert die Wirtschaftslage in Rumänien und Bulgarien, den jüngsten südosteuropäischen Mitgliedsländern der EU, mit den düsteren Aussichten im Baltikum. So ließ das bulgarische Wirtschaftsministerium die Wachstumsprognose für 2008 von 6,2 auf 6,5 Prozent anheben, das rumänische Wachstum im ersten Quartal 2008 von 8,2 Prozent hat sogar die Erwartungen der Ökonomen übertroffen. Ein Blick unter die Haube dieses scheinbar heilen Wirtschaftswunderlandes enthüllt schnell, dass dessen ökonomische Fundamente genauso marode sind, wie diejenige im Baltikum.

2007 wuchs das Volumen der privaten Kredite in Bulgarien um wahnsinnige 60,4 Prozent, in Rumänien um 55,2 Prozent. Das „alle Erwartungen übertreffende Wachstum Rumäniens“ im ersten Quartal 2008 ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Rate der privaten Kreditaufnahme bis April 2008 mit 51 Prozent weitgehend stabil blieb, während die Konsumenten in Bulgarien ihren Schuldenberg „nur“ noch um 35 Prozent vergrößerten (Zahlen jeweils im Vergleich zum Vorjahreszeitpunkt). Folglich sank das Wirtschaftswachstum in Rumänien von 7,3 Prozent Ende 2007 auf die besagten 6,5.

Eine ähnlich dramatische Expansion privater Verschuldung fand auch in Polen statt, wo die private Kreditaufnahme in 2007 um nahezu 40 Prozent zunahm - und bis April 2008 um weitere 25 Zähler anstieg. Im Juni beschleunigte sich diese Verschuldungsrate sogar noch einmal auf 34,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die Verbindlichkeiten der polnischen Privathaushalte betrugen im Juni 2008 schwindelerregende 299 Milliarden Zoty (nahezu 100 Milliarden Euro), wobei 1,2 Millionen dieser privaten Kreditnehmer bereits jetzt länger als 60 Tage mit ihren Ratenzahlungen im Verzug sind.

Dieses geliehene Geld geht zum Teil in den Konsum und heizt die Konjunktur an. So meldete die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza im vergangenen April, dass der Einzelhandelsabsatz im Jahresvergleich um 15,7 Prozent zugenommen habe – dabei gelten diese Zahlen, von denen der durch Hartz IV gebeutelte, deutsche Einzelhandel nur träumen kann, bereits als Enttäuschung, da 20 Prozent Umsatzsteigerung erwartet wurden. Doch auch diese kreditfinanzierte, polnische Konsummaschinerie scheint zu erlahmen wie die Wyborcza Mitte Juli meldete. Die Wachstumsprognose für das zweite Quartal 2008 wurde demnach von von 5,7 auf 4,5 Prozent gesenkt.

In der osteuropäischen Peripherie der EU etablierte sich somit eine Art „privatisierten Keynesianismus“, ein System der Konjunkturbelebung vermittels kreditfinanzierter privater Nachfrage, wie es in den USA zur Anwendung gelangte – mit den hinlänglich bekannten Folgen. Erwähnenswert ist noch, dass der osteuropäische Groß- und Einzelhandel längst von westeuropäischen Konzernen, von Lidl, der Metrogruppe oder Plus, beherrscht wird. Somit fließt das von westlichen Großbanken geliehene Geld wieder in den Westen, die Abschöpfung der durch Kreditvergabe westlichen Finanzkapitals generierten Kaufkraft erfolgt wiederum überwiegend durch westliches Handelskapital. Übrig bleiben in Osteuropa nur der erstandene Elektroschrott, auf Raten erworbene, viel zu große SUVs und natürlich die (variablen) Zinsen, die dekadenlang abgestottert werden müssen.

Im Rohbaustadium verbleibende Bauprojekte dürften künftig zu einer häufig anzutreffenden Erscheinung in Osteuropa werden. Bild: T. Konicz

Spekulationsblase auf osteuropäischem Immobilienmarkt

Selbstverständlich erlebte auch Osteuropa seine Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt. Auch zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer stiegen die Priese für Wohneigentum rasant, führte eine rege Bautätigkeit von Privatleuten und Investoren zur Belebung der Baubranche und der Konjunktur. Die Preise für Immobilien fallen im Baltikum und Polen bereits, Rumänien und Bulgarien dürften bald folgen. In 2008 ließen die Immobilienpreise in Tallinn um ca. 10 Prozent nach, in Riga sanken sie um sechs Prozent und im litauischen Vilnius stagniert der Immobilienmarkt derzeit.

In Polen findet ein spürbarer Preisverfall statt, der bis zum Jahresende 10 bis 20 Prozent erreichen soll. Die polnische Baubranche spürt bereits die Folgen. Nur 5600 neu errichtete Wohneinheiten haben die Baugesellschaften und Immobilien-Investoren des 39 Millionen Einwohner zählenden Landes im zweiten Quartal 2008 absetzen können. Inzwischen rollt die Pleitewelle im Bausektor an. Bis Mitte 2008 mussten bereits 27 Firmen Konkurs anmelden, wobei die Zahl der Konkursanträge inzwischen fünf Mal so hoch sein soll. Wie die „einstürzenden Neubauten“ dieser geplatzten Spekulationsblase in Lettland auf den Betrachter wirken, beschrieb die österreichische die Presse in einer Reportage:

Auf der Fahrt vom Flughafen nach Riga fährt der Bus an einem protzigen Gebäudekomplex vorbei, der sich Panorama Plaza nennt. Neben zwei Wohntürmen von je dreißig Stockwerken steht ein dritter, der auf halber Höhe ein Notdach bekam. Vielleicht wird er eines Tages fertig gebaut, sicher ist das nicht. Der vierte, der die Siedlung vollenden sollte, bleibt zunächst in der Mottenkiste.