Wahlkampf an der Bildungsfront

Vier Wochen vor dem wichtigen Urnengang verspricht Bayerns Ministerpräsident Günther Beckstein Tausende neuer Lehrerstellen. Doch sein Bundesland ist längst dabei, den medienwirksamen PISA-Vorsprung einzubüßen

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„Frage nicht, was ankommt, sondern worauf es ankommt“, heißt es auf der Homepage des bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein. Aber angesichts schlechter Umfragewerte für die Wahl am 28. September muss sich der ehemalige Innenminister nun doch mit der Frage beschäftigen, wie das Ruder auf der Zielgeraden herumgerissen und die allein seligmachende 50-Prozent-Marke im letzten Moment übersprungen werden kann.

Allerdings hat der 64-jährige Hersbrucker, der 1965 über das Thema „Der Gewissenstäter im Straf- und Strafprozessrecht“ promovierte, bereits einen Ausweg gefunden und sich ganz offenbar von der eigenwilligen "Bildungsreise" der Bundeskanzlerin inspirieren lassen. „Für die Bayerische Staatsregierung hat die Bildungspolitik als die Wirtschafts- und Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts Top-Priorität“, ließen Beckstein und sein Kultusminister Siegfried Schneider am Mittwoch verlauten.

Unser Ziel ist es, unseren Kindern bestmögliche und begabungsgerechte Bildungschancen zu eröffnen, und die Unterrichtsversorgung weiter zu verbessern und die Klassenstärken zu reduzieren. (…) Auch in der nächsten Legislaturperiode wird das Thema Bildung Vorfahrt haben: Wir werden hier eindeutig einen haushaltspolitischen Schwerpunkt setzen.

Günther Beckstein

Schon für das Schuljahr 2008/2009 will die bayerische Staatsregierung insgesamt 2.245 zusätzliche Lehrerstellen bereit stellen, darüber hinaus sollen Höchstgrenzen für Schülerinnen und Schüler pro Klasse auf 25 (Grundschule) beziehungsweise 30 (weiterführende Schulen) abgebaut werden. Außerdem im Programm: der schnellere Ausbau der Ganztagsschulen, bessere Bedingungen für Kinder mit Migrationshintergrund und die Eröffnung eines Staatsinstituts in Freising, an dem Förderlehrer ausgebildet werden.

Einiges bleibt freilich auch beim Alten: „Wir dürfen nicht auf Systeme schauen, in denen Kinder und Jugendliche schlechter ausgebildet werden“, meinte Kultusminister Schneider und erteilte dem vielfach umstrittenen dreigliedrigen Schulsystem damit einen Freifahrtschein durch die nächste Legislaturperiode. Überflüssig zu erwähnen, dass der Minister die Pädagogen des Freistaates ermunterte, auch in Zukunft „nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern auch Herz und Charakter zu bilden". Sie sollten „gemeinsam mit den Eltern die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen bilden, Werte vermitteln und ihnen einen intensiven Bezug zu ihrer Heimat geben“. Konfessionell ungebundene und multikulturell orientierte Zeitgenossen mögen sich mit diesem Sprachgebrauch schwertun, in der Diktion der Christlich-Sozialen Union bedeutet sie – vereinfacht gesagt:

Das Kreuz hat nach wie vor seinen festen Platz in Bayerns Schulen.

Siegfried Schneider

Widerspruch der Opposition

Die Oppositionsparteien reagierten umgehend auf die plötzliche Bildungsinitiative und zeigten sich übereinstimmend davon überzeugt, dass die Vorschläge aus der bayerischen Staatskanzlei nicht gegenfinanziert seien. So wies der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Hans-Ulrich Pfaffmann, darauf hin, dass die Landesregierung in den vergangenen Jahren sämtliche Anträge, mehr Lehrer an Bayerns Schulen einzustellen, ablehnte. Noch im März habe sich die CSU entschieden dagegen verwahrt, junge Pädagogen mit bestandenem Examen einzustellen und damit die Anstellung von etwa 1.000 Lehrern verhindert.

Auch die grüne Fraktionschefin Margarete Bause wertete die jüngsten Versprechungen in erster Linie als „spätes Eingeständnis des eigenen Versagens“. De facto habe die Staatsregierung seit 2004 mehr als 3.000 Hauptschullehrer gestrichen. Und selbst der potenzielle Koalitionspartner beunruhigt sich über das Ausmaß, in dem sich „die CSU von den Menschen entfernt hat“.

Viele Eltern sind in Sorge um die Zukunftsfähigkeit des bayerischen Schulsystems und damit um die Chancen für ihre Kinder. Im Gegensatz zur CSU sehen die Eltern sehr genau, dass ein starres Festhalten an überholten Strukturen der falsche Weg ist.

Renate Will, bildungspolitische Sprecherin der bayerischen FDP

Der Preis für PISA

Valentin Merkelbach, von 1971 bis 1998 Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, hat die hitzige Diskussion mit einer Stellungnahme zur aktuellen schulpolitischen Auseinandersetzung in Bayern nun noch einmal angefacht.

Nach seiner Einschätzung hatte bereits das gut bayerische Abschneiden bei den PISA-Studien seinen Preis. Denn die Hürden, die im Freistaat vor dem Besuch des Gymnasiums überwunden werden müssen, hätten letztlich dazu geführt, dass in Bayern viele Schülerinnen und Schüler eine Realschule besuchen, die in anderen Bundländern zum Gymnasium gehen. Entsprechend würden Hauptschulen vielfach von jungen Menschen besucht, die außerhalb Bayerns auf Real- und Gesamtschulen unterrichtet werden.

Diese Situation hat sich nun ausgerechnet durch PISA auch für das deutsche PISA-Siegerland Bayern geändert. Zum einen findet auch in Bayern bei der Zuordnung zu den drei Regelschulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium die für ganz Deutschland so beschämende soziale Selektion statt. Was die bayerische Schulpolitik jedoch härter trifft, ist die im internationalen Vergleich viel zu geringe deutsche Quote an Schüler/innen mit Hochschulreife. Darin ist Bayern nun auch Spitze unter den Bundesländern mit gerade einmal 20 Prozent Abiturienten.

Valentin Merkelbach

Die Hauptschule, die von Regierungsseite als beliebteste Schulform Bayerns gepriesen wird, weil hier fast vier von zehn jungen Menschen unterrichtet werden, steckt nach Merkelsbachs Einschätzung in einer tiefen Strukturkrise, die bereits vor der Durchführung der PISA-Studien in die Wege geleitet wurde. Denn in früheren Jahren gab es auch in Bayern bis zum Ende der sechsten Klasse ein zweigliedriges Schulsystem. Seit Haupt- und Realschüler schon nach der Grundschule getrennt werden, hat das Image der Hauptschulen mit seinen viel zitierten „Risikoschülern“ auch im Süden der Republik gelitten.

Streit der Verbände

Der Bayerische Philologenverband, der bei einem Nachdenken über das mehrgliedrige Schulsystem, Ziffernnoten oder Versetzungen bereits das "Abitur für alle" heraufdämmern sieht, hat sich ebenso wie der Bayerische Realschullehrerverband, der „ständige Nörgelei“ für die negative Berichterstattung über das bayerische Bildungssystem verantwortlich macht, auf die Seite der Regierung gestellt. Hier betrachtet man die offenkundigen Probleme als Ergebnis einer falschen Informationspolitik und im übrigen als sportliche Herausforderung.

Bayern ist nicht nur Bundesligasieger in der Bildung, sondern kann locker auf internationaler Ebene mithalten. Dass trotzdem manche nicht müde werden, unsere Kinder und Jugendlichen, unsere Mannschaften und die Betreuer sowie Verantwortlichen zu beschädigen, sei nicht nur demotivierend, weil die Betroffenen die Freude an Leistung verlieren. Dies ist ein grober Verstoß gegen grundlegende pädagogische Prinzipien. Im Sport wäre es undenkbar, den Amtsinhaber ständig in die Beine zu treten, ohne vom Platz gestellt und wochenlang gesperrt zu werden.

Anton Huber, Vorsitzender des Bayerischen Realschullehrerverbandes

Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnen Verband sieht das ganz anders. Sein Vorsitzender Klaus Wenzel fordert mit Blick auf die wenig erfreulichen Ergebnisse einer Bildungsstudie der Bertelsmann-Stiftung zunächst eine vorurteilsfreie Diskussion über eine grundlegende Reform des bayerischen Schulsystems.

Unser Schulsystem zwingt Lehrer und Eltern viel zu früh, eine Entscheidung über die schulische Laufbahn ihrer Kinder zu treffen: Die Übertrittsentscheidung steht in engem Zusammenhang mit der sozialen Herkunft des Kindes. Dies wird durch Nachhilfeunterricht noch verstärkt. Eine Prognose auf der Grundlage von kognitiven Leistungen von Zehnjährigen hat keinerlei ernsthafte Aussagekraft für die Einschätzung der späteren Lernpotentiale.

Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnen Verband

Eine neue Lern- und Leistungskultur

Der Lehrer- und Lehrerinnen Verband kritisiert darüber hinaus das methodische und didaktische Vorgehen innerhalb der Schulen, das in der täglichen Praxis zu einer bloßen "Reproduktion von Wissen" führe, nachhaltige und anwendungsorientierte Lernprozesse konsequent unterbinde, aber trotzdem weitreichend über Schulkarrieren und Lebensperspektiven entscheide.

Es sei nun höchste Zeit, eine "neue Lern- und Leistungskultur sowie moderne Methoden der Leistungserhebung" zu entwickeln. Verbandspräsident Klaus Wenzel winkt deshalb mit dem roten Tuch und fordert zum Entsetzen aller auf schnelle Bilanzierung und Etikettierung erpichten Bayern die Abschaffung der Schulnoten.

Es ist nicht möglich, individuelle Leistungs- und Entwicklungsfortschritte in Ziffern zu pressen. Die meisten der praktizierten Formen der Leistungsmessung und -bewertung teilen Schülerinnen und Schüler in bessere und schlechtere ein. Die Folge ist eine rigide Auslese.

Klaus Wenzel

Inwiefern soziale Aspekte und der familiäre Hintergrund der Schülerinnen und Schüler hier eine Rolle spielen, lässt sich gerade in Bayern schwer abschätzen. Der letzte Sozialbericht, der Rückschlüsse auf die Situation im Freistaat zuließ, stammt aus dem Jahr 1999. Eine Aktualisierung wurde mehrfach angekündigt, aber immer wieder hinausgezögert. Die Vorsitzende des Landesverbandes VDK Bayern, Ulrike Mascher, wandte sich deshalb vor kurzem noch einmal direkt an den Ministerpräsidenten:

Herr Beckstein, jeder ‚anständige Bayer' hat einen Anspruch darauf, sich noch vor der Wahl ein Bild über die soziale Lage in Bayern zu machen.

Ulrike Mascher

Aussagekräftige Studien zum persönlichen Lebensumfeld der Schüler fanden zuletzt in den 80er Jahren statt. Dabei leben in Bayern nach aktuellen Schätzungen etwa 150.000 Kinder in Familien, die Arbeitslosengeld II beziehen.

Strukturfragen

In den ostdeutschen Bundesländern, im Saarland, in Bremen und Schleswig-Holstein ist die Hauptschule bereits Geschichte, und in den meisten westdeutschen Ländern zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. Neben Bayern setzen nur noch wenige Länder konsequent auf das dreigliedrige Schulsystem. Ernst Rösner, Erziehungswissenschaftler am Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmnd, erwartet deshalb auch im Freistaat einen immensen Modernisierungsdruck, der tiefgreifende Strukturveränderungen mit sich bringen könnte.

In Bayern und sogar in Baden-Württemberg halten es selbst viele CSU- bzw. CDU-Anhänger nicht mehr für zumutbar, Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren zu trennen. Heutzutage haben wir Übergangsquoten von der Grundschule zur Hauptschule von nur noch rund 15 Prozent. Aufgrund der demografischen Entwicklung steuert die Hauptschule geradewegs in einen Verelendungsprozess hinein. Denn bei den derzeit sinkenden Schülerzahlen stabilisiert sich das Gymnasium stets zu Lasten der Realschule, und die Realschule zu Lasten der Hauptschule. Es ist ersichtlich: Auf Dauer kann keine Schulform ohne gymnasiale Standards mehr überleben.

Ernst Rösner

Auch die der CDU/CSU nicht grundsätzlich fernstehende Bertelsmann-Stiftung fordert in der erwähnten Studie gleich fünf Reformschritte:

  1. Reform des gegliederten Schulsystems
  2. Reform der „Halbtagsschule“ – Ausbau der Ganztagsschule
  3. Reform der Lernkultur – bessere individuelle Förderung
  4. Reform der Lerninhalte – Umgang mit Vielfalt verbessern
  5. Reform der Ressourcensteuerung – Mittel bedarfsgerecht einsetzen.

Das Versprechen, Tausende neuer Lehrerinnen und Lehrer in das marode System einzustellen, geht so zielgerichtet am zentralen Thema (nicht nur) der bayerischen Schul- und Bildungspolitik vorbei. Das gilt umso mehr, als die CSU seit 1957 den Ministerpräsidenten stellt und keineswegs darauf angewiesen wäre, mit einer solchen Maßnahme bis zur nächsten Legislaturperiode zu warten.