Arvato setzt auf Privatisierung staatlicher Dienstleistungen

Bertelsmann trennt sich vom Musikgeschäft Sony/BMG und schichtet eine Milliarde um. Vermutlich fließt ein Großteil in den Bereich Arvato: Logistik, Internet, "Government Services": Ein 20-Milliarden-Euro-Markt

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Bei Bertelsmann, Europas größtem Medienkonzern mit Hauptsitz Gütersloh, hat Musik Tradition. Im 19.Jahrhundert druckte man pietistische Gesangbücher, stieg unter Goebbels als Hoflieferant der Nazi-Wehrmacht zum Millionenkonzern auf und wurde in den 50er-Jahren als Buchclub mit dem Plattenlabel Ariola zum Multimedia-Vorreiter. Doch nun schwächelt die Musikbranche und mit ihr BMG, die Bertelsmann-Music-Group, sie steigt nach knapp vier Jahren aus dem Gemeinschaftsunternehmen Sony BMG Music Entertainment aus und gibt ihren 50-Prozent-Anteil an Sony ab.

Bertelsmann-Arvato ist dagegen der aufsteigende Shooting-Star in Gütersloh; heute arbeiten bereits mehr als die Hälfte der ca. 80.000 Konzernmitarbeiter bei Arvato. Neben Logistik, Online-Marketing und Klingeltönen hat Arvato zwar auch Musik und Filme im Angebot, die großen Wachstumschancen sieht man dort jedoch seit einigen Jahren in einem anderen Sektor: in der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen. Ein Pilotprojekt mit der Kommunalverwaltung im Landkreis East Riding (Großbritannien) läuft seit 2006. Aufgaben wie das Eintreiben bestimmter Steuern oder das Auszahlen von Beihilfen erledigt hier Arvato.

2006 klagte der damalige Arvato-Chef Ostrowski noch, die Widerstände in Deutschland seien noch zu groß, um nach diesem Muster hoheitliche Aufgaben auch bei uns zu privatisieren. Doch heute sieht Ostrowskis Nachfolger, Rolf Buch, im Bereich der Kommunen einen gigantischen Markt für Bertelsmann:

Ich will Ihnen eine Zahl nennen. In Deutschland arbeiten 1,5 Millionen Menschen in der kommunalen Verwaltung. Jeder dieser Menschen verursacht Lohn- und Nebenkosten von etwa 70.000 Euro pro Jahr. Das macht einen Markt von 105 Milliarden Euro. Nicht alle Dienstleistungen können ausgelagert werden, nach Expertenmeinung sind es aber ca. 20 Prozent. Das ist ein Markt von mehr als 20 Milliarden Euro, also so viel wie der derzeitige Umsatz von Bertelsmann.

Warum ist Arvato heute so optimistisch, dass die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit sich geändert hat? Warum sollten die Widerstände gegen Privatisierungen nachgelassen haben? Bertelsmann ist ein Medienimperium und weiland Adorno sprach bei den modernen Massenmedien nicht ohne Grund von der “Bewusstseinsindustrie”.

Konzerneigene Kampagnen der Gütersloher trommeln unentwegt für Privatisierungen: Eine Besonderheit bei Bertelsmann ist, dass dieser Milliardenkonzern seiner eigenen Unternehmensstiftung gehört. Die Bertelsmann-Stiftung, fest in der Hand der Bertelsmann-Besitzerfamilie Mohn, hält ca. 75% des Konzernkapitals, tritt aber in der Öffentlichkeit als gemeinnützige, mäzenatenhafte Institution auf. Kritiker sehen sie eher als einen neoliberalen Think Tank mit engen Beziehungen zum Konzern und seinen Wirtschaftsinteressen. Mit eigenen Studien, Politikberatung und einer enorm effektiven PR wirbt Bertelsmann-Stiftung seit Jahren für neoliberale Ziele wie Steuersenkung, Studiengebühren, Hartz IV, Privatisierung von Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystemen und generell für Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.

Seit einigen Jahren ist dabei ein Dreh- und Angelpunkt immer wieder die Behauptung einer angeblichen “demografischen Katastrophe”. So argumentiert Arvato-Chef Rolf Buch auf die Frage, warum wir denn sensible hoheitliche Aufgaben in private Hände legen sollten:

Es gibt drei zentrale Argumente: Erstens, werden die Kommunen ihre Verwaltungen aufgrund sinkender Bevölkerungszahlen anpassen müssen. Die alte Struktur kann also nicht überleben. Durch den demographischen Wandel sind zweitens opulente Verwaltungsstrukturen langfristig nicht finanzierbar. Drittens kann es sich Deutschland auf Dauer nicht leisten, viele intelligente Köpfe mit administrativen Aufgaben zu betrauen.

Die Kassen sind also leer, so das Argument, und Schuld ist die Demografie. Nun sinkt zwar vielleicht die Bevölkerungszahl, aber nicht das Bruttosozialprodukt, Finanzierbarkeit ist mithin auch eine Frage der Besteuerung. Und warum Verwaltungsstrukturen die teilweise Kaisertum, Faschismus, Weltkriege und Revolutionen überstanden haben, jetzt gerade an einer aufgebauschten demografischen Petitesse zugrunde gehen sollten, bleibt Rolf Buchs Geheimnis. Auch seine Argumentation, dass man nicht “viele intelligente Köpfe”, sondern stattdessen ihn und sein Unternehmen mit der Administration betrauen sollte, klingt weniger kompetent als vielmehr nach ungewollter Bescheidenheit. Arvato-Chef Buch argumentiert weiter:

Wir sind davon überzeugt, dass das Outsourcing von kommunalen Dienstleistungen nicht nur eine Verbesserung der Services für die Bürger zur Folge hat, sondern auch für die kommunalen Mitarbeiter eine interessante Alternative darstellt.

Besseren Service wollen wir alle, aber brauchen wir dafür wirklich Arvato? Und wie die “interessante Alternative” als Mitarbeiter von Arvato aussehen kann, erfahren derzeit ehemalige Beschäftigte der Telekom. Diese hatte ihre Call-Center in Rostock, Neubrandenburg, Stralsund und Schwerin mit insgesamt 1000 Beschäftigten vor rund einem Jahr an Arvato-Bertelsmann verkauft. Am 18.August protestierten zahlreiche Call-Center-Beschäftigte der Bertelsmann-Tochter Arvato gegen ihnen angebotene neue Arbeitsverträge.

Ein Jahr nach dem Verkauf an Arvato lief die Bestandssicherung aus und die Beschäftigten werden nun gedrängt, neue Arbeitsverträge zu unterschreiben. An den Standorten Rostock und Neubrandenburg sollen die festangestellten Mitarbeiter knapp ein Drittel weniger verdienen, dafür aber auch weniger Urlaub bekommen und zwei Stunden länger arbeiten, so sagte ein ver.di-Sprecher. Wer bisher 35.000 Euro brutto im Jahr bekam, müsse eine Absenkung auf 25.000 Euro befürchten, langfristig schwebe der Arvato-Geschäftsleitung ein Durchschnittsverdienst von rund 15.000 Euro vor – natürlich nicht für sich selbst, sondern für die Leute, die die Arbeit machen.

Arvato würde gut an der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen verdienen, das glauben wir nach diesem Beispiel sofort. Aber spart unser Staat wirklich Geld, wenn weitere tausende Beschäftigte in den Niedriglohnsektor abrutschen, nur damit sich ein paar Manager eine goldene Nase verdienen? Die sozialen Folgekosten von working poor, Bildungselend und Massenverwahrlosung werden in noblen Vororten nicht spürbar werden – für die meisten von uns aber schon.

Auf die geplanten Kommunal-Privatisierungen übertragen verschärft sich die Frage: Wollen wir unsere Steuerbescheide, Strafzettel, Personalausweise wirklich durch Arvatos Billig-Jobber verwalten lassen? Wohl kaum. An der Bürokratiekritik mag einmal ein wahrer Kern gewesen sein. Der heutige Privatisierungs-Wahn ist jedoch längst ins Gegenteil umgeschlagen. Bei hoheitlichen Aufgaben bekommt die Privatisierung noch einen weiteren Aspekt: Kontrolle und Überwachung. Arvato ist schon heute der größte private Verwalter von Kundendaten. Mit der Übernahme hoheitlicher Aufgaben droht der Konzern zu einem privaten Verwaltungs-Moloch zu werden, zu einer “Sozialkontrolle GmbH”. Als Teil des Bertelsmann-Medienimperiums verwirklicht sich dann eine düstere Warnung vergangener Dekaden: das Zusammenwachsen der medialen Macht mit ehemals staatlichen Strukturen der Überwachung zu einem neuen Mechanismus der sozialen Kontrolle. Arvatos gutes Geschäft mit der neuen Musik der Macht könnte uns teuer zu stehen kommen.