Schäubles Scheinargumente

Teil 1: Wie der Bundesinnenminister das Thema Bürgerrechte umgeht und was ihn wirklich interessiert

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Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gilt als eloquenter Redner, manche halten ihn gar für einen Intellektuellen. Selbst Gegner Schäubles zollen ihm als politischem Schwergewicht Respekt. In der Tat gelingt es dem Bundesinnenminister durchaus, mit geschliffenen Worten den Eindruck zu erwecken, seine Politik sei das Ergebnis langer und reiflicher Überlegung. Doch wer genau hinschaut, erkennt, dass Schäuble vor allem so tut, als würde er argumentieren.

Schäubles Argumente halten einer gründlichen Prüfung kaum Stand. Aber die Aufdeckung dieser Tatsache enttarnt den Innenminister nicht als Möchtegern-Intellektuellen. Es geht mir nicht darum, Schäuble als „Schauspieler“ bloßzustellen. Vielmehr wird erkennbar, dass die Fassade des gepflegten akademischen Diskurses politischen Zielen dient. So verschleiert der Anschein des Argumentierens, dass das Thema der Bürgerrechte Schäuble gar nicht interessiert. Seine Argumentation blendet jedenfalls die wichtige Frage, wie viel Schutz dem Bürger vor der Staatsgewalt zusteht, komplett aus. Das bedeutet aber auch, dass der Minister in seinem Vortrag nur so tut, als würde er sich mit der Kritik an seiner Sicherheitspolitik auseinandersetzen. Ihm liegt also daran, dass seine Vermeidung des Themas Bürgerrechte nicht offenkundig wird.

In seinem in der ZEIT veröffentlichten Vortrag vor der Justizpressekonferenz in Karlsruhe betont Schäuble mehrfach sein Interesse daran, das Handeln der Polizei gesetzlich eindeutig regeln zu wollen, um rechtliche Grauzonen zu vermeiden. Das klingt wie eine Konzession an die Kritiker einer Aufweichung des Rechtsstaates. Er gibt sich damit als einer, der seine Entscheidungen nicht leichtfertig trifft und der die Sorgen der Kritiker ernst nimmt. Die Antworten des Innenministers darauf sind aber eine Mogelpackung, denn sie kaschieren Schäubles tatsächliches Interesse an der Erweiterung der Handlungsspielräume der Sicherheitsorgane. Auch in diesem Fall ist Schäuble erkennbar bemüht, die Karten nicht auf den Tisch zu legen.

Im Folgenden möchte ich diese These belegen. Dazu werde ich einige bemerkenswerte Aussagen des Bundesinnenministers genauer prüfen. Meine Analyse stützt sich in der Hauptsache auf den genannten Vortrag. Es ist ein Text, der am ehesten zu Schäubles Image als Intellektueller passt. Als Vortrag ist er ein langfristig vorbereiteter und damit durchdachter Text. Das Publikum ist ein akademisch geschultes Fachpublikum (Juristen) und deshalb anspruchsvoller als Festszeltbesucher, die vor allem durch politische Kampfrhetorik unterhalten werden wollen. Daher kann man annehmen, dass Schäuble und sein Redenschreiber sich alle erdenkliche Mühe gegeben haben, um vor diesem Publikum überzeugend aufzutreten. Weil die Zuhörerschaft keine einschlägige Parteizugehörigkeit aufweist, muss Schäuble möglichst parteipolitisch neutral versuchen, seinen Standpunkt plausibel zu machen. Folgerichtig gibt sich Schäuble in seinem Vortrag den Anschein der Wissenschaftlichkeit. Hinter dieser Fassade lässt sich dennoch der Politiker Schäuble entdecken. Das versuche ich im Folgenden zu zeigen.

1. Die Vermeidung des Themas Bürgerrechte

Wolfgang Schäubles Vortrag ist ein Beitrag zur Diskussion um Sicherheitspolitik und Bürgerrechte. Allerdings zeigt sich, dass Schäuble das Thema Bürgerrechte eigentlich nicht behandelt. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass er dieses Thema in Wahrheit vermeidet, während er an der Oberfläche so tut, als würde es ihn gedanklich sehr beschäftigen. Um diese These zu belegen, möchte ich Schäubles Positionen zum Datenschutz untersuchen, die beispielhaft die Haltung des Innenministers enthüllen.

1.1 Schäubles falsches Verständnis vom Datenschutz

Auf dem ersten Blick betont Schäuble die Notwendigkeit des Datenschutzes:

Niemand bestreitet die Aktualität des Datenschutzes. Wir dürfen die datenschutzrechtlichen Belange nicht beiseite schieben – was der Staat des Grundgesetzes auch nie getan hat.

Schäuble behauptet also, dass der Datenschutz ein wichtiges Anliegen des von ihm vertretenen Staates ist. Er erkennt an, dass man sich mit diesem Thema befassen muss. Der Eindruck entsteht, dass der Innenminister die Sorge um den Datenschutz ernst nimmt. Der von Kritikern geäußerte Verdacht, Schäubles Sicherheitspolitik sei von einem antidemokratischen Affekt motiviert, findet hier zunächst keine Bestätigung und wirkt eher wie eine böswillige Unterstellung.

Doch dieser schöne Schein hält nicht lange vor. Einige Zeilen später findet sich eine Äußerung Schäubles, die sein tatsächliches Verständnis vom Datenschutz offenbart. Dieses weicht erheblich von dem der Datenschützer ab:

Datenschutz bedeutet nicht, dass der Staat wegschauen muss, wenn es um die Vorbereitung schwerster Straftaten geht. Datenschutz bedeutet, dass der Gesetzgeber transparente Grundlagen dafür schafft, wer welche Daten wofür erhebt, welche Daten vernetzt werden können, wie lange sie gespeichert werden – das heißt: klare rechtliche Regelungen und richterliche Kontrolle, aber kein bewusster Verzicht auf Informationen, die notwendig sind, um den staatlichen Sicherheitsauftrag wahrnehmen zu können. (Hervorhebungen von mir, M.L.)

Schäuble bestimmt den Datenschutz zunächst vorrangig als ein juristisches Problem. Datenschutz ist etwas, was gesetzlich genau geregelt werden muss. Diese gesetzliche Regelung bezieht sich auf Kompetenzen sowie auf die Art und Umfang der in Frage kommenden Daten. Schäuble strebt an, genau festzulegen, welche Personen zur Datenerhebung befugt sind. Genauso unstrittig geklärt sein muss die Art der Daten und deren Verwendungszweck. Auf diese Weise wird zugleich bestimmt, welche Daten nicht erhoben werden dürfen, welche Zwecke illegitim sind und welche Personen keinen Zugang zu ihnen haben.

Gerade dieser strikte Ausschluss von unzulässigen Daten, Zwecken und unbefugten Personen wirkt auf den ersten Blick vielleicht beruhigend. Nicht jeder darf alles, es gibt immer noch Grenzen für das Treiben der Staatsorgane. Grenzverletzungen werden sanktioniert, man kann dagegen klagen und sie skandalisieren. Die von Schäuble angemahnte „Transparenz“ sorgt dafür, dass alle wissen, wer was darf und wer nicht. „Klare rechtliche Regelungen“ lassen weniger Missverständnisse bei der Auslegung der Gesetze zu und vermindern so das Risiko eigenmächtigen Handelns der Staatsorgane. Mit der „richterlichen Kontrolle“ scheint sich Schäuble zudem der populären Forderung nach einem Richtervorbehalt anzuschließen. Der Richter als neutrale dritte Partei sorgt für eine Überprüfung der Gesetzestreue staatlicher Eingriffe und schafft damit Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Sicherheitspolitik. Die für Diktaturen typische Willkür scheint auf diese Weise ausgeschlossen.

Bei genauerem Hinsehen fällt aber auf, dass diese Betonung klarer gesetzlicher Regelungen eine Scheinlösung ist. Die Tatsache allein, dass das Handeln des Staates Gesetzen folgt, genügt noch nicht, um den Bürger vor der staatlichen Gewalt zu schützen. Es kommt nämlich auf den Inhalt der Gesetze an. So könnte es ja gesetzlich auch erlaubt sein, Verdächtige in Notlagen zu foltern (dass dies nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, hat die deutsche Debatte um die Zulässigkeit von Folter gezeigt). In so einem Fall kann der Bürger sich nie sicher sein, dass er vor Folter geschützt ist. Justizirrtümer oder ungerechtfertigte Verdächte, die aus tragischen Verkettungen von Umständen heraus entstehen, sind nie auszuschließen. Gegen die erlittene Folter kann das Opfer hinterher auch nicht vorgehen, weil sie ja ein legales Mittel der Polizeiarbeit wäre. Wenn die Folter gesetzlich legalisiert ist, ist der Bürger also potenziell durch die staatliche Übermacht bedroht.

Sicherheit und Vertrauen kann daher nicht allein durch die Tatsache der gesetzlichen Regelung geschaffen werden. Diese Formfrage muss dringend ergänzt werden durch eine konkrete inhaltliche Bestimmung, was der Staat darf und was nicht (Um im obigen Beispiel zu bleiben: Man müsste auch ein definitives Folterverbot festschreiben.). Datenschutz beschränkt sich nicht auf den Umstand, dass er gesetzlich geregelt ist. Zum Datenschutz gehören auch grundsätzliche Überlegungen, wie das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern gestaltet sein soll. Die Frage ist hier, welche Rechte Bürger eigentlich besitzen sollen und welche Rolle der Staat zu spielen hat. Hierzu muss jeder Diskutant eine prinzipielle Position entwickeln.

Üblicherweise wird in der Bundesrepublik die individuelle Freiheit des Einzelnen als Leitwert propagiert, auch von der CDU, der Schäuble angehört. Ausgehend von diesem Wert muss eine Datenschutzdebatte die Folgen staatlicher Eingriffe für diese Freiheit reflektieren und bewerten. Man muss dann auch genau für den konkreten Fall bestimmen, wann Freiheit unzulässig eingeschränkt wird und wo im Einzelfall Grenzen zu ziehen sind. Genauso am Einzelfall muss diskutiert werden, wo eventuelle Einschränkungen des Datenschutzes in Abwägung mit anderen Gütern (z.B. des Schutzes vor tödlichen Anschlägen) vielleicht hinnehmbar wären.

Schäuble bleibt in seiner Bestimmung des Datenschutzes jedoch auf der formalen juristischen Ebene stehen. Er verwendet im Grunde eine Worthülse, wenn er von Datenschutz redet. Sein Verständnis von Datenschutz taugt allenfalls zur Auflösung juristischer Grauzonen. Damit wird Ordnung geschaffen, aber Ordnung ist nicht per se ein Wert. Schließlich haben auch undemokratische Regime eine Ordnung. Ordnung ist lediglich ein Beschreibungsbegriff, sie ist einer von mehreren Zuständen, die ein System einnehmen kann. Ordnung wird nur dann zum Wert, wenn sie bestimmte Probleme löst und wenn dieses Problem durch Unordnung erzeugt wird. Dafür muss man aber auch genau sagen, welches Problem man mit der durch gesetzliche Klarheit geschaffenen Ordnung denn lösen möchte (dazu mehr im Kapitel 2).

1.2 Schäubles Priorität für die Handlungsfähigkeit des Staates

Dass Schäuble hier auf eine konkrete Benennung des Datenschutzproblems verzichtet, lässt sich durch zwei Vermutungen verschieden erklären: a) Schäuble ist im Grunde naiv bzw. zu sehr in der Juristensicht verhaftet und erkennt daher das eigentliche Problem nicht. b) Schäuble vermeidet es mit Absicht, auf das Datenschutzproblem als solches einzugehen.

Ich neige beim Lesen von Schäubles Vortrag zur Hypothese b). Dazu ein weiteres Zitat:

Deswegen ist mein Verständnis von Datenschutz nicht, dass sich der Staat selbst blind und dumm macht. (Hervorhebungen von mir, M.L.)

Hier beschreibt der Innenminister, wie er sich Datenschutz vorstellt. Damit räumt er ein, dass man verschiedene Vorstellungen von Datenschutz haben kann und dass es daher geboten ist, die eigene Position zu verdeutlichen. Zugleich muss man sich von anderen Vorstellungen abgrenzen. Wie bereits oben diskutiert, fehlt bei Schäuble ein Bezug von „Datenschutz“ auf das Verhältnis von Staat und Bürger. Sichtbar wird dagegen, dass für den Minister vor allem der Staat ein Thema ist.

Es gibt – so kann man Schäuble hier übersetzen – Vorstellungen von Datenschutz, die die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigen bzw. die diesen zwingen, sich selbst zu beschränken. Dabei ist Schäuble nicht so unklug, um jegliche staatliche Selbstbeschränkung bereits als Problem zu beschreiben. Er weiß, dass der demokratische Rechtsstaat immer Beschränkungen unterliegt. Es geht ihm stattdessen um sehr gravierende Einschnitte in die Handlungsfähigkeit. Das zeigen die Worte „blind“ und „dumm“. Eine nähere Betrachtung dieser Metaphern lohnt sich.

Blindheit wird gemeinhin als eine Behinderung angesehen. Selbst wenn man hier politisch korrekter von „Herausforderungen“ sprechen will, gesteht man doch zu, dass Blindheit das Leben erschwert. Dies gilt besonders für den Fall des Erblindens, in dem der vormals Sehende nun lernen muss, den Ausfall eines seiner Sinne zu kompensieren. Handlungen, die früher routinemäßig erledigt worden sind (z.B. der Gang in den Supermarkt), werden nun zu einem beschwerlichen Abenteuer. Man muss jetzt viel mehr Zeit und Mühe aufwenden, um die früher leicht gewonnenen Handlungserfolge zu erzielen.

Diese Überlegungen kann man auf Schäubles Datenschutzverständnis übertragen. Falsch verstandener Datenschutz sorgt nach Schäubles Sicht dafür, dass der Staat sich selber blind machen muss. Damit beraube sich der Staat einer wichtigen Fähigkeit, die ihm zuvor natürlicher Weise gegeben war, so wie der Sehsinn der Mehrheit der Menschen als natürliche Fähigkeit zur Verfügung steht. Also hat der Staat in Folge eines solchen Datenschutzverständnisses schon Mühe mit Routineaktionen. Deshalb ist der Staat in seiner Handlungsfähigkeit massiv eingeschränkt.

1.3 Infragestellung der Idee des Datenschutzes

Um das Sehvermögen und um die Handlungsfähigkeit des Staates ging es auch in dem eingangs besprochenen Zitat:

Datenschutz bedeutet nicht, dass der Staat wegschauen muss, wenn es um die Vorbereitung schwerster Straftaten geht. (Hervorhebungen von mir, M.L.)

In zwei Hinsichten wird nun deutlich, inwiefern Schäuble in diesem und dem oben besprochenen Zitat das eigentliche Thema Datenschutz vermeidet, wenn nicht gar ignoriert.

Erstens benutzt er mit den Worten „blind“ und „dumm“ Metaphern, die bei Lichte besehen subjektiv und nichtssagend sind. Der geneigte Leser des Schäublevortrages erfährt nichts darüber, welche Handlungsprobleme den Sicherheitsorganen durch konkrete Datenschutzregelungen entstehen. Er muss sich mit der Behauptung zufrieden geben, dass Datenschutz gravierende Handlungsprobleme erzeugt. Schäuble bietet seinem Publikum keine nachvollziehbaren Zusammenhänge zwischen Datenschutz und Handlungsfähigkeit des Staates an, weil er durch den Gebrauch der Metaphern konkrete Fallanalysen vermeidet. Der Leser kann die Behauptung Schäubles daher nicht nachvollziehen und für sich prüfen, ob sie plausibel ist. Er kann dem Innenminister lediglich glauben.

Schäuble selbst scheint sich auf die Suggestivkraft seiner Metaphorik zu verlassen und sieht offenbar keinerlei Notwendigkeit, seine Behauptungen auch durch Argumente zu begründen. Eine echte Diskussion des Datenschutzthemas kann auf dieser Grundlage aber nicht geführt werden. Oder besser: Schäuble bzw. sein Redenschreiber, der diesen Vortrag vorbereitet hat, geht dieser Diskussion schlicht aus dem Weg.

Zweitens ist das für Schäuble wesentliche Kriterium eines richtigen oder falschen Datenschutzverständnisses vor allem die Handlungsfähigkeit des Staates. Datenschutz wird von Schäuble offenbar sehr funktional verstanden. Datenschutz ist nur dann gut, wenn er die Handlungsfähigkeit des Staates nicht beeinträchtigt. Das Vermögen des Staates zur Verbrechensbekämpfung bzw. -prävention hat absolute Priorität. Diese Prioritätensetzung schließt es aus, Datenschutz vorrangig als Frage nach der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung des Bürgers zu stellen. Letzteres ist für Schäuble offenbar kein Wert per se und nur solange akzeptabel, wie der Staat dennoch nach seinem Dafürhalten agieren kann. Diese Prioritätensetzung Schäubles ist aber im Grunde eine radikale Infragestellung der Idee des Datenschutzes.

Für die öffentliche Debatte folgt daraus, dass der Innenminister bei diesem Thema gestellt werden muss, indem seine Scheinargumente offen dekonstruiert werden. Schäuble muss gezwungen werden, seine Lippenbekenntnisse bezüglich der Bürgerrechte aufzugeben und die Diskussion anhand konkreter Fälle und auf der Basis klarer Bestimmungen von Bürgerrechten zu führen (Dieser Gedanke stützt sich auch maßgeblich auf Peter Monnerjahn, der einerseits danach fragt, inwiefern sicherheitspolitische Vorschläge bestehenden Rechtsgrundsätzen entsprechen und andererseits danach, welche konkreten Probleme diese Vorschläge lösen sollen (Zu kurz gedacht: Schäuble und seine Kritiker).

2. Schäubles tatsächliches Ziel: Die Erweiterung des Handlungsspielraumes der Polizei

Nachdem ich gezeigt habe, dass es Schäuble nicht wirklich um die Bürgerrechte geht, will ich nun sein tatsächliches Interesse offenlegen: Es ist die Erweiterung des Handlungsspielraumes der Polizei. Diese These ist für „geübte“ Kritiker sicher wenig überraschend. Es geht mir jedoch nicht um Originalität. Wichtig ist mir die Aufdeckung der rhetorischen Tricks, mit denen Schäuble diese vermutlich als unpopulär befürchtete Haltung kaschiert. Zugleich hoffe ich, mit dieser Analyse die Argumente der Kritik zu schärfen.

2.1 Was ist das Problem des übergesetzlichen Notstandes?

Für die Beantwortung der Frage nach dem tatsächlichen Interesse des Innenministers greife ich auf eine andere Quelle zurück. In einem öffentlich vieldiskutierten Interview vom 19. Juli 2007 gibt es eine bemerkenswerte Passage:

SPIEGEL: Die Bundesregierung würde wahrscheinlich erst einen Staatsanwalt losschicken, um Bin Laden festzunehmen ...

Schäuble: ... und die Amerikaner würden ihn mit einer Rakete exekutieren, und die meisten Leute würden sagen: Gott sei Dank. Aber seien wir ehrlich: Die Rechtsfragen dabei wären völlig ungeklärt, vor allem, wenn daran Deutsche beteiligt wären. Wir sollten versuchen, solche Fragen möglichst präzise verfassungsrechtlich zu klären, und Rechtsgrundlagen schaffen, die uns die nötigen Freiheiten im Kampf gegen den Terrorismus bieten. Ich halte nichts davon, sich auf einen übergesetzlichen Notstand zu berufen, nach dem Motto: „Not kennt kein Gebot.“ (Hervorhebungen von mir, M.L.)

Diese Worte haben in der Öffentlichkeit für Aufregung gesorgt. Man warf Schäuble vor, das gezielte Töten legalisieren zu wollen. Doch darum soll es hier nicht gehen. Interessant ist für mich die Ablehnung des übergesetzlichen Notstandes. Dies ist ein geschickter rhetorischer Schachzug. Man mag dem Innenminister gewagte Gedankenspiele bezüglich der Tötung Bin Ladens vorhalten. Aber mit der Ablehnung eines übergesetzlichen, also ungeregelten Notstandes kann Schäuble darauf pochen, immer noch ein klarer Verfechter des Rechtsstaatsprinzips zu sein. Schließlich hält selbst er, der nach eigenem Bekunden gerne auch unkonventionelle Gedanken hegt, den übergesetzlichen Notstand für ein Problem.

Doch worin besteht dieses eigentlich? Als der Verteidigungsminister Jung das Abschießen von entführten Flugzeugen durch einen übergesetzlichen Notstand rechtfertigen wollte, war die Empörung groß. Die Armeeführung würde nach den Vorstellungen des Verteidigungsministers in einem solchen Notfall die Rechtslage außer Kraft setzen und allein nach eigenem Ermessen handeln. So wären die Flugpassagiere der Gewalt der Armee schutzlos ausgeliefert. Deshalb ist der übergesetzliche Notstand ein Problem: Er öffnet der willkürlichen Gewaltanwendung Tür und Tor. Nur der klare gesetzliche Ausschluss solcher Rechtfertigungsstrategien kann den Bürger halbwegs vor diesem Risiko schützen. Deshalb fordert Schäuble folgerichtig, dass das Handeln der Sicherheitsorgane auch in Notsituationen genau gesetzlich definiert werden muss.

Die öffentliche Empörung hat aber ein zweites Problem des übergesetzlichen Notstandes verdeckt. Dieser Notstand schafft erhebliche Unsicherheit für die Staatsorgane, die sich hinterher für ihre Aktion im Notfall rechtfertigen müssen. Was für die Kritiker der Pläne Jungs als Willkür erscheint, ist mitunter für einen Polizisten ein Zwang, nun selber eine Entscheidung treffen zu müssen. Denn wenn die Not so groß ist, dass die Gesetze außer Kraft gesetzt werden müssen, dann entfallen auch die bewährten durch das Gesetz vorgeschriebenen Mittel der Problemlösung, die man routinemäßig anwenden kann. Aber wo die Vorlagen für den „Dienst nach Vorschrift“ wegfallen, weiß man nie, ob man wirklich die richtige Entscheidung getroffen hat.

Dieses Problem kann sich verschärfen, sobald die Gesetze wieder in Kraft treten. Schließlich ist der übergesetzliche Notstand kein Dauerzustand, sondern ein absoluter Ausnahmefall. Wenn nun die Opfer seines Handelns den Polizisten verklagen, besteht für diesen die Gefahr, sich vor Gericht verantworten zu müssen. Der Polizist wird sich in seiner Verteidigung auf seine Einschätzung berufen, dass ein Notfall vorgelegen habe. Aber es bleibt unsicher, ob das Gericht diese Situationseinschätzung sowie die daraus gezogenen Konsequenzen für richtig hält. Der Polizist kommt dadurch in eine unangenehme Situation. Er muss sich einem Prozess mit ungewissem Ausgang beugen und befürchten, bestraft zu werden, obwohl er nur seinen Dienst versehen hat.

Auch dieses Problem kann gelöst werden durch eine klare gesetzliche Regelung, die den übergesetzlichen Notstand ausschließt und die bestimmte Handlungsweisen der Polizei in Notlagen vorsieht. Klare gesetzliche Regelungen schützen den Polizisten davor, für sein Handeln später verurteilt zu werden. Sie geben dem Polizisten Orientierung, was er machen darf und was nicht. Er hat dank dieser Gesetze auch die Gewissheit, dass sein Handeln durch den Staat gedeckt und vertreten wird. Der Polizist agiert damit als der Vertreter des Staates, welcher ihn bei seiner Amtsausübung unterstützt und ihn im Falle von Klagen auch zur Seite steht.

Damit wird deutlich, dass Schäubles Plädoyer für rechtliche Klärung keineswegs eindeutig ist. Sowohl der Bürger kann von rechtlichen Bestimmungen profitieren als auch die Polizei. Der Nutzen des Bürgers und der Nutzen des Polizisten sind dabei keineswegs die zwei Seiten der selben Medaille, denn das Gesetz kann auch Handlungen rechtfertigen, die für den davon betroffenen Bürger höchst bedrohlich sind. Das Beispiel der Debatte um die Erlaubnis von Folter hatte ich ja schon erwähnt. Deshalb müsste Schäuble seine Position erheblich präzisieren, um klarzustellen, wessen Interessen genau er im Auge hat, wenn er von einer rechtlichen Klärung spricht.

2.2 Worum sich Schäuble wirklich sorgt: Rechtssicherheit und Spielräume für die Polizei

Ich behaupte, dass Schäuble es vor allem um die Rechtssicherheit der Polizei geht, während ihn der Schutz der Bürger weniger bis gar nicht interessiert. Diese These lässt sich durch genauere Betrachtung des SPIEGEL-Zitates plausibel machen. Dazu noch einmal ein Ausschnitt aus der besprochenen Passage:

Wir sollten versuchen, solche Fragen möglichst präzise verfassungsrechtlich zu klären, und Rechtsgrundlagen schaffen, die uns die nötigen Freiheiten im Kampf gegen den Terrorismus bieten. (Hervorhebungen von mir, M.L.)

Ein erstes Indiz für meine Behauptung ergibt sich aus der Begründung, warum man Rechtsklarheit schaffen müsse. Schäuble begründet den Ausschluss des übergesetzlichen Notstandes nicht mit der Schutzbedürftigkeit des Bürgers. Für ihn ist die Rechtsklarheit geboten, um die besagten „nötigen Freiheiten“ zu schaffen. Diese Freiheiten stellen aber nicht nur eine zusätzliche Möglichkeit dar. Sie sind nach Schäubles Worten nötig, um den Kampf gegen den Terrorismus führen zu können. Behauptet wird also, dass der Antiterrorkampf nur erfolgreich sein kann, wenn diese Freiheiten, als notwendige Bedingung geschaffen werden. Das bedeutet, dass Schäubles Ablehnung des übergesetzlichen Notstandes vor allem den Handlungserfordernissen geschuldet sind, die die Abwehr des Terrors mit sich bringt. Hier zeigt sich wieder, dass das Thema der Bürgerrechte eigentlich wenig Gewicht für den Innenminister hat. Zumindest erscheinen ihm die Bürgerrechte nicht als eigenständiger und hinreichender Grund, um einen übergesetzlichen Notstand abzulehnen.

Ein zweites Indiz: Es geht um Freiheiten, die durch die rechtliche Klärung entstehen sollen. Die Vermeidung des übergesetzlichen Notstandes durch die Schaffung von Rechtsgrundlagen sorgt also nicht in erster Linie für Einschränkungen, sondern schafft Freiheiten. Jetzt stellt sich die Frage, wessen Freiheit hier gemeint ist: die des Bürgers oder die des Staates? Ist die Rede von der Freiheit des Bürgers, sind die negativen Freiheitsrechte gemeint. Diese beschreiben, vor welchen denkbaren staatlichen Aktivitäten der Bürger geschützt ist. Also meinen sie eigentlich eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Staates. Können diese beschränkten Handlungsmöglichkeiten des Staates aber gemeint sein, wenn es um die von Schäuble benannten unverzichtbaren Freiheiten im Antiterrorkampf geht?

Dieser Fall erforderte eine abstrakte Philosophie, die diese Selbstbeschränkung des Staates zu einem wirksamen Instrument im Antiterrorkampf umdeuten könnte. Schäuble ist jedoch nicht dafür bekannt, die bislang bestehenden westlichen Freiheiten als wirksamstes Anti-Terror-Instrument zu preisen. Deshalb liegt es näher, dass es Schäuble vor allem um eine reale Freiheit des Staates geht, damit dieser gegen den Terrorismus nach Gutdünken vorgehen kann.

2.3 Wer wirklich von den „nötigen Freiheiten“ im Antiterrorkampf profitiert

Ein drittes Indiz unterstützt diese Lesart. In dem Zitat wird ein Kollektiv als Akteur angedeutet. Sowohl die von Schäuble angemahnte Rechtsklärung als auch der Kampf gegen den Terror ist Aufgabe eines schlicht mit „wir“ bzw. mit „uns“ benannten Kollektivs. Ganz gleich, ob man unter diesem „wir“ die gesamte deutsche Gesellschaft oder eben nur die Staatsorgane versteht, in jedem Fall wird erkennbar, dass die Nutznießer der Freiheiten die Staatsorgane sind.

Um das zu belegen, wähle ich zunächst die großzügigste und unvoreingenommenste Deutung, die Übersetzung des „wir“ als Bezeichnung für die gesamte deutsche Gesellschaft. Die gesamte Gesellschaft umfasst jeden Menschen, der in Deutschland lebt. Die rechtliche Klärung und den Ausschluss übergesetzlicher Notstände wäre dann eine Verpflichtung für jeden Bürger. Die laut Schäuble dadurch gewonnenen Freiheiten kämen aber auch allen gleichermaßen zugute. Aus dieser Sicht erschiene Schäuble lediglich der Repräsentant und Diener eines übergeordneten Volkswillens, weshalb es falsch wäre, ihm egoistische oder bürgerfeindliche Interessen zu unterstellen.

Jedoch lässt sich diese Sichtweise nicht aufrechterhalten, denn ein so verstandenes „wir“ wäre vor allem Pathos und keine reale Beschreibung der Gesellschaft. Das wird deutlich, wenn man danach fragt, wer von den neu zu schaffenden Freiheiten wirklich konkret profitiert. Nach Schäuble sind dies ja vor allem Freiheiten, die im Kampf gegen den Terror gebraucht werden. Deshalb kommen diese Freiheiten nur jenen zugute, die diesen Kampf auch wirklich führen. Dieser Kampf obliegt aber allein der Polizei und den Geheimdiensten. Der zivile Bürger bleibt wegen des Gewaltmonopols des Staates gezwungenermaßen passiv. Es ist ihm nicht erlaubt, in Eigeninitiative etwas zu unternehmen.

Folglich profitieren von den genannten Freiheiten tatsächlich die Behörden. Nur für diese sind erweiterte Spielräume handlungsrelevant. Der Bürger selbst kann diese Freiheiten nicht aktiv nutzen, er profitiert maximal indirekt von den Effekten dieser erweiterten Behördenspielräume, nämlich dann, wenn die Polizei durch neue Befugnisse spürbare Erfolge bei der Terrorbekämpfung erzielen kann.

In dem Pathos des „wir“ gehen auch die realen Machtunterschiede in der Gesellschaft unter. Neue Spielräume der Polizei können nämlich auch dem Bürger schaden, in dem sie seine Freiheit einschränken. Denn jeder Bürger des Staates ist dessen Gesetzen unterworfen. Diese Gesetzestreue kann der Staat durch den Einsatz von Gewaltmitteln erzwingen. Diese Gewaltmittel sind ebenfalls gesetzlich festgeschrieben. Gegen ihren Einsatz kann niemand erfolgreich Klage erheben, solange sich das Polizeihandeln auf dem Boden des Gesetzes bewegt. Das heißt aber, dass man die als legal definierten Aktionen der Polizei schlicht hinnehmen muss. Wenn ein Polizist von einem Autofahrer die Papiere verlangt, so muss dieser gehorchen, ganz gleich, ob ihm in dem Moment danach ist oder ob diese Demonstration staatlicher Autorität seinen Stolz verletzt. Eine Weigerung des Autofahrers wäre bereits Widerstand gegen die Staatsgewalt und diese ist strafbar. Es gibt also ein klares Machtgefälle in der Gesellschaft: Der Staatsgewalt muss sich jeder beugen, aber nicht jeder verfügt über die Gewaltmittel, um seinen Willen durchzusetzen. Wo aber die einen etwas tun dürfen, gegen das sich die anderen nur eingeschränkt wehren können, löst sich die mit dem „wir“ beschworene Gemeinschaft aller auf.

Man kann dagegen einwenden, dass die Polizei letztlich das Instrument der gesamten Gesellschaft ist. Diese Sichtweise folgt ja dem demokratischen Pathos, dass jeder einzelne den Staat bildet und dieser eben nicht nur durch seine offiziellen Vertreter gebildet wird. Für diese Sichtweise spricht die Annahme, dass die Abwehr tödlicher Terrorgefahren ganz sicher ein breit geteiltes Anliegen der Deutschen ist. Folglich erscheint die Polizei lediglich als Vollstrecker des Mehrheitswillens. So verstanden ist die Polizei lediglich Dienstleister und Auftragnehmer des gesamtgesellschaftlichen Willens.

Doch diese Sichtweise ändert nichts an dem tatsächlich bestehenden Machtgefälle zwischen Staat und Bürger. In dem Moment, wo ein Bürger von Polizeimaßnahmen betroffen ist, nützt es ihm nichts, als Teil der idealisierten Gesellschaft eigentlich Auftraggeber der Polizei zu sein. Er muss deren Treiben dennoch erdulden. Der betroffene Bürger kann seinen Auftrag jetzt nicht mehr zurückziehen. Er kann über die Polizei in keiner Weise verfügen und kann ihr nicht sagen, was sie zu tun und zu lassen hat.

Der von einer Polizeimaßnahme Betroffene findet auch wenig Trost in der Behauptung, dass die Bürger als Wähler einer bestimmten Innenpolitik indirekt der Polizei ihren Auftrag erteilen. Diese Behauptung läuft darauf hinaus, dass die als unangenehm empfundene Maßnahme deshalb hinzunehmen ist, weil sie eigentlich dem eigenen Wunsch (z.B. nach Sicherheit und Schutz) entspricht. Doch das trägt nicht immer. Zwar stimmt es, dass die Bevölkerung durch Wahlen auf die Politik Einfluss nimmt. Aber die Bevölkerung ist kein höheres Wesen mit einem eigenen Willen, der sich dann in einer Wahl befriedigt, sobald sich dieser Wille durchgesetzt hat. Die Bevölkerung besteht stattdessen aus Einzelnen. Diese müssen oft erleben, dass ihr Einzelwille keine Befriedigung finden kann, weil sie nicht die nötigen Machtmittel und -positionen haben oder keine Mehrheit für ihre Interessen mobilisieren können. Das konkrete Polizeihandeln verwirklicht darum nicht in jedem Fall den Willen des Einzelnen und dieser hat im Grunde auch keine echten Möglichkeiten, die Polizei in seinem Sinne zu beeinflussen.

Fazit

Es zeigt sich also, dass auch die großzügige Lesart des „wir“ als demokratische Pathos zu dem Ergebnis kommt, dass die Profiteure neuer Freiheiten im Antiterrorkampf allein die damit befassten Behörden wären. Die Behauptung eines allgemeinen Nutzens, von dem alle profitieren, ist dagegen unrealistisch. Vor diesem Hintergrund bleibt Schäubles Ablehnung des übergesetzlichen Notstandes suspekt. Die rechtliche Klärung, die solche Notstände ausschließen soll, sorgt für Freiheiten, von denen ausschließlich die Behörden profitieren. Hingegen wird die potenzielle Bedrohung des Bürgers durch Behördenmaßnahmen, die sich auf solche Notstände berufen, nicht diskutiert. Damit signalisiert Schäuble ungewollt, dass seine Priorität auf der Erweiterung der Handlungsspielräume der Behörden liegt.

Demnächst Teil 2: Wie der Bundesinnenminister mit fingierten Zusammenhängen Propaganda macht.