Arme Kinder sind günstiger

IAB-Institut findet Anhebung der Hartz IV-Sätze zu teuer, sagt aber nicht warum

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„Die Wissenschaft hat festgestellt....“, dass zehn Milliarden Euro ein zu hoher Preis für die Absenkung der von Armut bedrohten Bevölkerung in Deutschland ist. Denn soviel würde es nach einer jüngsten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg kosten, wenn der Regelsatz von Hartz IV-Beziehern von derzeit 351 auf 420 Euro erhöht würde. Das fordern zum Beispiel die „Nationale Armutskonferenz“ oder der „Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband“, weil mit dem geltenden Regelsatz das soziokulturelle Existenzminimum in Deutschland nicht mehr gewährleistet sei. Politisch wird die Forderung nach einer Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze, von denen derzeit rund sieben Millionen Menschen leben müssen, von der Linkspartei und den Grünen, aber auch vom linken Flügel der SPD erhoben.

Eine derartige Erhöhung der Regelsätze würde den Anteil der Bevölkerung, die an oder unter der Schwelle zum Armutsrisiko leben, immerhin um zwei Prozentpunkte von derzeit 14,8 Prozent auf 12,8 Prozent senken. Diese Armut ist unter der Schröder-Regierung in den Jahren 2001 bis 2005 deutlich angewachsen. Von einer Erhöhung der Regelsätze würden überdurchschnittlich Hartz IV-Haushalte mit Kindern profitieren, so die Studie weiter. So sinke das Armutsrisiko von Alleinerziehenden mit einem Kind von 22,5 Prozent auf 15 Prozent, derzeit gelten in der reichen Bundesrepublik fast zwei Millionen Kinder als arm.

Diese Beseitigung von (Kinder)Armut durch eine Regelsatzerhöhung erscheint den Autoren der IAB-Studie aber zu teuer: „Der Preis für diese Veränderungen wäre jedoch hoch.“ Und so titeln manche Medien auch gleich: „Studie warnt vor Milliardenkosten“. Dass zugleich die „Bild-Zeitung“ gerade mal wieder eine ihrer beliebten „Hartz IV-Abzocker-Serien“ fährt, ist wohl Zufall.

Auf welchen wissenschaftlichen Grundlagen freilich der Preis für die Absenkung der Armut zu „hoch“ ist, bleibt dem Leser der IAB-Studie verborgen. Wären drei Milliarden noch recht gewesen, fünf Milliarden gerade noch tragbar? Nach welchen Kriterien, gar wissenschaftlichen Kriterien, wird der Preis taxiert? Nun, mit Wissenschaft hat diese „Warnung vor Milliardenkosten“ natürlich nichts zu tun. Wie teuer man sich den Kampf gegen Kinderarmut kommen lassen will, ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung und keine Frage der Wissenschaft.

So gibt ein Autor der Studie auch zu, dass hier wohl „normative Elemente“ in das Fazit der Studie eingeflossen sind. „Normative Elemente“, das heißt, dass Dinge nach einem bestimmten Bezugsrahmen beurteilt werden, zum Beispiel dem des Neoliberalismus. Kenntlich gemacht wird dieser Bezugsrahmen in der Studie freilich nicht und so erfährt der Leser auch nicht, dass es bei der „Warnung vor Milliardenkosten“ nicht um Wissenschaft, sondern um eine Meinung innerhalb einer wirtschaftstheoretischen Denkrichtung geht. Man könnte auch zu völlig anderen Schlussfolgerung auf der Basis der Daten kommen.

Dazu passt, dass im Kurzbericht des IAB auch davor gewarnt wird, dass durch höhere Regelsätze „deutlich negative Anreizeffekte“ erzielt würden, womit es sich, um die Technokratensprache kurz in das Deutsche zu übersetzen, die Langzeitarbeitslosen wieder etwas länger in der sozialen Hängematte bequem machen würden. In dieser Logik, die die zynische Logik des Marktradikalismus ist, müsste man die Hartz IV-Regelsätze ganz streichen, denn aus Angst vor dem Verhungern würden sich die Betroffenen dann ganz schnell einen Job auch mit der geringsten Bezahlung suchen.

In dem Fazit der IAB-Studie gehen also sehr wohl gesellschaftspolitische Vorstellung ein, die aber als solche nicht kenntlich gemacht werden, sondern mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit als feststehend daherkommen.

Dies gilt für mehr Studien des IAB. So kommt eine Studie unter dem Titel Impulse für den Arbeitsmarkt vom Oktober 2007 nach der Befragung von Unternehmen zu dem Schluss, dass Arbeitnehmer immer mehr bereit sind, schlechtere Arbeit für schlechteren Lohn hinzunehmen und auch Stellen zu besetzen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen. „Die Befunde aus der Betriebsbefragung entsprechen den Erwartungen an die Hartz IV-Reform“, heißt es dann in der Studie weiter.

Welche Erwartungen das waren, die Arbeitnehmer quasi aus Angst vor Hartz IV gefügig zu machen, wird nicht weiter differenziert. Immerhin wird konstatiert, dass die Ergebnisse die Sicht der Unternehmen widerspiegeln, die Arbeitnehmer selber „würden die gestellten Fragen möglicherweise anders beantworten“. Die Betroffenen könnten womöglich sogar noch auf ganz andere Fragen antworten, müssten allerdings erst gefragt werden. Was die Wissenschaft also feststellt, geschieht in keinem gesellschaftlich freien Raum, sondern ist eng mit wirtschaftspolitischen Ausrichtungen verwoben. Diesen Erkenntniszusammenhang und das Erkenntnisinteresse aufzudecken, wäre freilich redlich.