Die verborgenen Kosmen von nebenan

Kosmologin Lisa Randall erhofft sich vom "Large Hadron Collider" (LHC) des CERN den Nachweis von Extradimensionen. Zur Inbetriebnahme des weltweit leistungsstärksten Teilchenbeschleunigers - Teil I

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Prof. Lisa Randall, die derzeit an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts/USA) lehrt und forscht, ist die zurzeit führende theoretische Physikerin und Expertin für Teilchenphysik und Kosmologie. Für ihre Forschungsarbeiten hat sie zahlreiche wissenschaftliche Preise erhalten; ihre Arbeiten finden weltweit Beachtung und zählen mit zu den am meisten zitierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, was nicht zuletzt ihren ungewöhnlichen Thesen zu verdanken ist. Schließlich glaubt Randall, dass unsere beobachtbare Welt nur eine von vielen Inseln inmitten eines höherdimensionalen Raumes ist. Bereits ein paar Zentimeter weiter könnte ein anderes, für uns unsichtbares Universum existieren. Und trotzdem stehen Randalls Überzeugung nach die Chancen gut, dass der weltweit leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, der LHC, der am 10. September am Kernforschungszentrum CERN bei Genf (Schweiz) in Betrieb genommen wird, Hinweise auf Extradimensionen findet.

CERN. Bild: CERN

Die Universen über und unter uns

Mutet es nicht wie eine Ironie der Evolution an, dass wir als Vertreter der vermeintlich vernunftbegabtesten Spezies auf Mutter Erde mit unseren Sinnen nur einen Bruchteil dessen erfahren, was andere Lebewesen mit Leichtigkeit wahrzunehmen vermögen? Fledermäuse und Hunde, die für die Geräuschkulisse im Ultraschall empfänglich sind, Vögel und Wale, die sich mittels des Magnetfeldes der Erde orientieren, Katzen oder Klapperschlangen, die im für uns unsichtbaren Infrarotbereich sehen, führen uns immerfort vor Augen, dass alles, was wir von Natur aus hören, schmecken, riechen, ertasten bzw. fühlen und sehen, den uns umgebenden Makrokosmos definiert, der selbst nur ein Mikrokosmos unter vielen ist, nur ein Teil der großen unbegreiflichen Realität.

Eine Welteninsel aus dem sichtbaren Reich der Galaxien. Bild: NASA

Bereits eine Ebene darüber erstreckt sich das Reich der Galaxien, der für uns sichtbare Bereich des Universums. Eine Ebene unter dem Makrokosmos breitet sich ein biologischer Mikrokosmos aus, in dem sich Bakterien und Viren als älteste, bevölkerungsreichste und erfolgreichste irdische Spezies eingenistet haben. Jedes einzelne Individuum dieses Sub-Universums kann mit Fug und Recht behaupten, einen Teil der realen Welt zu erleben. So wenig wir diesen Kosmos auf Mikrobenniveau wahrnehmen und erleben können, so wenig haben just diese Kleinstlebewesen von den Kosmen über oder unten ihnen Kenntnis, und genauso wenig haben wir die leistete Ahnung von den Universen und Dimensionen neben uns. „Ich denke, dass wir diesen Aspekt oft vergessen. Wir denken, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen“, sagt Lisa Randall. „Vielmehr ist es aber so, dass es jenseits der Physik eine Menge Dinge gibt, die wir nicht direkt beobachten, dafür aber erforschen können.“

2D-Abbildung eines Schnappschusses einer vermeintlichen 3D-Struktur im All. Wie sähe dieses Astrobild wohl in 4D aus? Bild: NASA

So nah und doch so fern

Lisa Randall, die an mehreren amerikanischen Eliteuniversitäten (University of California, Berkeley, Princeton University und dem Massachusetts Institute of Technology) studierte, forschte und lehrte sowie in Harvard promovierte , weiß wovon sie spricht. Schließlich beschäftigt sie sich schon seit Jahren mit dem Jenseitigen in der Physik, ohne sich dabei in esoterischen oder religiösen Fragen zu verlieren.

Was Randall abseits vom Diesseits so brennend interessiert, sind Extradimensionen, sprich Dimensionen, die neben den uns drei bekannten räumlichen (Höhe, Länge, Breite) in einem höherdimensionalen Raum eingebettet sind. Denn nur ein paar Zentimeter weiter könnte ein anderes Universum existieren, das uns, die wir räumlich Gefangene unserer 3D-Welt sind, unsichtbar umgibt oder durchdringt. Unter, über oder neben uns könnte sich eine andere Welt entfaltet haben, vielleicht nur eine Nasenlänge entfernt, aber dennoch unerreichbar fern.

An Alternativmodellen, die das Aussehen bzw. die Form des Universums auf zweidimensionale Weise abzubilden versuchen, mangelt es fürwahr nicht. Jetzt sollen neben oder über unserem 3D-Universum noch weitere Dimensionen existieren. Bild: NASA

Flachländer sind anders

Um sich das Unvorstellbare vorzustellen und einen Eindruck davon zu gewinnen, wie höhere Dimensionen und die reale Welt scheinbar koexistieren, rät Randall zum Studium der bereits 1884 veröffentlichten mathematischen Satire „Flatland: A Romance of Many Dimensions (dt. Titel „Flächenland“), die aus der Feder von Edwin A. Abbott (1838-1926) stammt und mit der der Autor die Hierarchie der Viktorianischen Gesellschaft aufs Korn nahm. In diesem inzwischen zum Klassiker der Physik avancierten Werk stellt Abbott eine fiktive Gesellschaft vor, deren Bewohner selbst die Gestalt einfacher geometrischer Formen haben und ihre flache Welt nur auf zweidimensionale Weise wahrnehmen können.

Eine eBook-Version von "Flatland" findet man hier

Als „Flachländer“ haben sie naturgemäß keinen Zugang zur dritten Dimension, von deren Existenz sie zudem nichts erahnen. Durchkreuzte etwa eine Kugel ihre Welt, sähen diese niemals die charakteristische Form besagter Figur. Was sie beobachteten, wäre ein Punkt, der sich zu einer Scheibe ausweiten und sich dann wieder verkleinern würde. „Da sie nur zwei Dimensionen erkennen“, so Randall, „könnten die Flachländer sich höchstens ausrechnen, dass das beobachtete Objekt einer Scheibe mit einer zusätzlichen Dimension entspricht.“

Prof. Dr. Lisa Randall (rechts) wurde 1998 als erste Frau auf den Lehrstuhl für theoretische Physik in Princeton berufen (links: Dr. Harald Zaun). Bild: Zaun

Keinen Zugang zu höheren Dimensionen

Randalls Prämisse zufolge befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie die Flachländer: Unser Leben vollzieht sich zwar in einem dreidimensionalen Raum, dennoch haben wir desgleichen keinen Zugang zu einer weiteren, höher stehenden Dimension. Aber selbst wenn uns die zusätzlichen Dimensionen bisher verborgen geblieben sind, schließt dies nicht aus, dass sie irgendwie und irgendwo existieren.

Diese noch unsichtbaren Dimensionen könnten flach und gerade sein, wie die, die wir kennen, oder auch gewellt wie Reflexionen in einem Spiegelkabinett. Sie könnten sehr klein sein, viel winziger noch als ein Atom, oder auch unbegrenzt groß und trotzdem schwer aufzuspüren sein.

Lisa Randall

Auf jeden Fall seien die Extradimensionen zu winzigen Schleifen aufgerollt. Um ein Bild davon zu gewinnen, wie diese aus unserem bescheidenen 3D-Blickwinkel strukturiert sind, stelle man sich am besten einen Strohhalm vor, so Randall. Aus der Ferne sähe man den Strohhalm als eindimensionale Linie, aus der Nähe jedoch als zweidimensionale Fläche, die einen Zylindermantel bildet. Bei noch näherer Betrachtung würde der Strohhalm dann seine wahre Natur offenbaren und sich als dreidimensionale kleine Röhre, deren Wand eine bestimmte Dicke aufweist, zu erkennen geben.

So nah die uns umgebenen oder alles durchdringenden höheren Dimensionen räumlich aber auch sein mögen – der Zugang zu ihnen bleibt uns wohl für immer verwehrt. Ebenso wenig können wir durch sie hindurch reisen, wobei sich Randall in diesem Punkt noch diplomatisch gibt. „Aber das bedeutet nicht, dass ich irgendwelche Kontakte zu Extradimensionen ablehnen würde.“

Die K. u. K.-Theoretiker

Der Gedanke, dass neben den uns vertrauten drei Dimensionen zumindest eine weitere existiert, tauchte erstmals vor 88 Jahren auf, als der ungewöhnlich begabte deutsche Physiker und Mathematiker Theodor Kaluza, der nebenher bemerkt 17 Sprachen beherrschte, im Jahr 1920 eine Extra-Raumdimension postulierte und der schwedische Physiker Oskar B. Klein (1894-1977) sechs Jahre später ein Modell vorstellte, dem zufolge wir deshalb keine zusätzlichen Dimensionen wahrnehmen können, weil diese in sich aufgerollt und daher viel zu winzig sind. Kaluzas Clou bestand darin, dass er den Einsteinschen vierdimensionalen Raum (drei Raum- und eine Zeitdimension) deshalb mit einer zusätzlichen räumlichen Dimension bereicherte, um die beiden unterschiedlichen Naturkräfte Gravitation und Elektromagnetismus einheitlich zu beschreiben. Doch da seine Zeitgenossen und Kollegen mit diesem progressiven Ansatz nur herzlich wenig anzufangen wussten, geriet die Theorie schnell wieder in Vergessenheit und ging für mehr als 50 Jahre im Strom der Zeit verloren. Zwar entfachte Mitte der siebziger Jahre eine erneute Diskussion über zusätzliche Dimensionen, richtig zu Anwendung kam das Kaluza-Klein-Modell allerdings erst Ende des 20. Jahrhunderts, als sich Raman Sundrum, damals Doktor an der Boston University und Lisa Randall der KK-Theorie annahmen und 1999 darüber publizierten.

Ausgehend von der Einsteinschen Relativitätstheorie, die besagt, dass Energie und Masse den Raum krümmen und die Zeit dehnen, fanden Sundrum und Randall heraus, dass die Raumzeit einer weiteren Dimension derart verbogen und verzerrt sein könnte, dass sie sogar bei unendlicher Größe unauffindbar wäre. Demnach existierte eine fünfte Dimension respektive eine vierte räumliche, die zwar infolge ihrer extremen Krümmung unsichtbar wäre, sich aber durch die Schwerkraft verraten würde.

Auf dem Weg in höhere Dimensionen? Originalnotizen von Raman Sundrum. Bild: Sundrum/Kavli Institute for Theoretical Physics

Tausendmal kleiner als ein Proton

Randall und Sundrum schreiben just dieser Kraft im 4D-Konzert der Dimensionen eine gesonderte Schlüsselrolle zu. Die Gravitation und nicht etwa die Partikel und Felder des Standardmodells der Teilchenphysik sind raumübergreifend. Die Schwerkraft ist die einzige Kraft, die die fünfte Dimension durchdringt und die sich durch diese bewegt. Aus diesem Grunde ist sie, wie Randall und Sundrum postulieren, in unserem Universum auch so schwach ausgeprägt, dagegen in einer Sektion des vierdimensionalen Raums (und fünfdimensionaler Raumzeit) sehr stark ausgebildet. Abseits unseres Kosmos käme der gravierende Einfluss der Gravitation vollends zum Tragen.

In Anlehnung an die Branenkosmologie spielen in Randalls Modell ebenfalls zwei so genannte Branen (abgeleitet von Membran) eine maßgebliche Rolle. Randall: „Branen sind niedrigdimensionale Inseln, die in einen höherdimensionalen Raum eingebettet sind“. Diesen übergeordneten Raum nennen die Physiker Bulk. In Randalls (und Sundrums) Universum existieren also zwei Branen mitsamt einer fünften Dimension, die irgendwie zwischen beiden eingekeilt ist. Auf einer dieser Branen befindet sich unser Universum; auf der anderen entfaltet sich eine Parallelwelt, in der nichts so sein muss, wie in der Unsrigen. Für beiden Branen gilt: Jegliche Materie und alle Kräfte mit Ausnahme der Gravitation können nicht in die jeweils andere Brane eindringen. Es sind zwei in sich völlig geschlossene und verschlossene Universen, die weder interagieren noch miteinander Energie austauschen. Was sich in der zweiten Brane, möglicherweise nur Bruchteile von Millimetern von uns entfernt, alles abspielt, bleibt für alle Zeiten nebulös.

Für mich ist diese Erklärung über die Eigenschaften der Schwerkraft Grund genug, die Möglichkeit weiterer Dimensionen ernsthaft in Betracht zu ziehen. In unserem Verständnis über die Elementarpartikel könnte eine zusätzliche Dimension Antworten liefern.

Lisa Randall

Hoffnungsträger LHC

So fantastisch dieser Ansatz auch anmutet – es besteht eine echte Chance, die Existenz zusätzlicher Dimensionen nachzuweisen. Mithilfe des Large Hadron Colliders (LHC), der in wenigen Tagen seine Arbeit am CERN bei Genf aufnimmt, könnte dieser Coup gelingen, könnten Wissenschaftler – wie Randall in ihrem Buch „Verborgene Universen“ schwärmt – endlich „in physikalische Regionen vordringen, die noch nie zuvor ein Mensch beobachtet hat“.

Bald nimmt das LHC ganz offiziell seine Arbeit auf. Bild: CERN

Und dabei könnten jene legendären Teilchen in unserer 3D-Welt in Erscheinung treten, die aus einer anderen Welt stammen und deren Masse gemäß „höherdimensionaler“ Modelle so hoch ist, dass die alte und junge Generation der Teilchenbeschleuniger sie bislang nicht aufzuspüren vermochte. Dafür war die erforderliche Energie dieser Anlagen bis dato schlichtweg zu gering. Das LHC hingegen könnte aufgrund seiner Leistungsfähigkeit und Sensibilität solcherlei dubiose Teilchen, die in der Fachwelt als Kaluza-Klein-Partikel Berühmtheit erlangt haben, nachweisen.

Als vierdimensionale Gebilde, die 1000-mal kleiner sind als ein Proton und ihren Ursprung in höheren Dimensionen haben, könnten die KK-Teilchen in dem LHC-Teilchenbeschleuniger in Gestalt extra schwerer Partikel auftauchen. Deren Anwesenheit würde auf verzerrte Extradimensionen hindeuten und zugleich die Schwäche der Schwerkraft erklären, die in unserem Universum vorherrscht. Alles scheint demnach nur noch eine Frage von Zeit und Geduld, bis wir Kaluza-Klein-Partikel zu Gesicht bekommen. Die Chancen hierfür stehen gut, vermutet Randall, die sich selbst von einer gewissen Ungeduld gleichwohl nicht ganz freisprechen kann:

Der Kosmos wird beginnen, seine Geheimnisse preiszugeben. Was mich betrifft: Ich kann es kaum erwarten.

Lisa Randall