Chemotherapie für Schwangere

Die Diagnose Krebs in der Schwangerschaft ist zwar selten, trifft aber immer mehr Frauen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein wesentlicher Grund ist das höhere Alter der werdenden Mütter. Bei der Geburt ihres ersten Kindes sind Frauen heute im Durchschnitt zwar nur wenige Jahre älter als es ihre Mütter und Großmütter waren. Insgesamt jedoch dehnt sich die Reproduktionsphase immer weiter nach hinten aus, so dass inzwischen die Mehrzahl der Kinder von Frauen über 30 geboren wird. Mit dem Alter jedoch steigt auch das Risiko, an Krebs zu erkranken. Folglich wird immer öfter auch bei Schwangeren Krebs diagnostiziert. Tendenz steigend.

Auch wenn es unwahrscheinlich klingt: Chemotherapie bei Schwangeren ist durchaus möglich – und nicht notwendigerweise schädlich für das Ungeborene. Das zumindest belegen Erfahrungen, die Ärzte weltweit gesammelt haben in den vergangenen Jahrzehnten. Einer der Vorreiter war der mexikanische Arzt Agustin Avilés, der 1973 erstmals eine schwangere Patientin mit akuter Leukämie betreute. Sie war die erste von insgesamt 84 Frauen, die Avilés in den nächsten drei Jahrzehnten mit Chemotherapie behandelte, 58 davon im ersten Schwangerschaftsdrittel, in jener kritischen Phase also, in der beim Fötus sämtliche Organe ausgebildet werden. Alle Kinder überlebten, nur 5,8 Prozent hatten Fehlbildungen, die wenigsten davon waren schwer (die Rate liegt damit im Rahmen des Üblichen). Auch die erste Patientin überlebte und gebar eine gesunde Tochter, die heute selbst sechs Kinder hat.

Früher wurden Frauen zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen

Andere Studien kommen auf eine Fehlbildungsrate von 14 bis 19 Prozent, wobei die Studien untereinander nur bedingt vergleichbar sind. Die Fallzahlen sind in der Regel gering, die Überwachung lückenhaft und die Parameter sehr unterschiedlich. Viele Medikamente kommen heute nicht mehr zum Einsatz, auch ist unklar, ob für die jeweilige Fehlbildung tatsächlich die Chemotherapie oder aber die ursprüngliche Krebserkrankung oder beides verantwortlich ist. Außerdem kann auch extremer Stress der Mutter zu schweren Missbildungen beim Kind führen. Avilés jedenfalls hat weitergeforscht und sieht nach der Analyse von über tausend Fallgeschichten keinen Grund dafür, im ersten Schwangerschaftsdrittel auf Chemotherapie zu verzichten.

Um 1940 galten Schwangere mit Brustkrebs als nicht behandelbar. In der Regel wurde ihnen nahe gelegt, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden. Sie mussten wählen zwischen sich und ihrem Baby. Eine norwegische Studie aus dem Jahr 2007 zeigt jedoch, dass die Überlebenschance von krebskranken Frauen unabhängig ist davon, ob sie schwanger sind oder nicht (verglichen wurde der Therapieerfolg von über 45.0000 Krebspatientinnen, die zwischen 1967 und 2004 behandelt wurden). Und zwei kleinere Studien legen den Schluss nahe, dass eine ausgetragene Schwangerschaft die Überlebenschancen erhöht.

Krebs in der Schwangerschaft ist bislang kein Forschungsschwerpunkt

Auf das höhere Alter der Mütter hat sich die Geburtsmedizin eingestellt. Denn je älter die Mutter, desto höher zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind eine Fehlbildung hat. Das weiß jede Mutter über 35, weil sie automatisch als Risikoschwangere gilt und deshalb vorsorglich zum Pränatalspezialisten überwiesen wird, damit dieser zum Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels die Nackentransparenz und andere Parameter des Ungeborenen erfasst. Darüber hinaus sind in Deutschland zahlreiche weitere Vorsorgeuntersuchungen verfügbar und üblich, um den Gesundheitszustand des ungeborenen Kindes in jeglicher Hinsicht zu erfassen.

Während die Pränataldiagnostik derzeit einen Aufschwung erlebt, ist Krebs in der Schwangerschaft bislang kein Forschungsschwerpunkt. Entsprechend ratlos sind viele Ärzte, die bei einer Schwangeren Krebs diagnostizieren. Wenn sie ihn überhaupt entdecken. Brustkrebs zum Beispiel wird bei Schwangeren zwei bis 15 Monate später entdeckt als bei Nichtschwangeren. Ein wesentlicher Grund sind schwangerschaftsbedingte Veränderungen der Brust.

Warum Brustkrebs bei Schwangeren oft erst spät entdeckt wird

Dass sie schwanger sind, ahnen viele Frauen erstmals, wenn ihre Brust auf einmal ungewohnt hart, prall und schmerzempfindlich ist. Noch bevor der Bauch an Umfang zunimmt, müssen sie einen neuen Büstenhalter mit größeren Körbchen kaufen. Obwohl das Baby erst Monate später zur Welt kommt, wird die weibliche Brust bereits im ersten Schwangerschaftsmonat auf die Milchproduktion umgestellt. Die Hormonschwemme, die mitunter für sensationelle Oberweiten sorgt, kann jedoch fatale Folgen haben: erkrankt die Frau ausgerechnet jetzt an Brustkrebs, wächst der Tumor rasant schnell. Gleichzeitig ist das mütterliche Immunsystem toleranter, sonst würde es den Fötus abstoßen, der ja eigentlich ein genetischer Fremdkörper ist – vergleichbar einem Transplantat.

Doch die anschwellenden Milchdrüsen erschweren den Tastbefund, auch bildgebende Verfahren wie etwa die Mammographie liefern während der Schwangerschaft nur unzuverlässige Bilder: sowohl Krebsgeschwüre als auch die reichlich vorhandenen Milchdrüsen erscheinen als weiße Flecken. Deshalb werden viele der bösartigen Geschwüre erst spät entdeckt. Entsprechend schlechter sind die Befunde: das Risiko, dass sich der Brustkrebs bereits im fortgeschrittenen Stadium befindet, ist bei Schwangeren zweieinhalb Mal so hoch wie bei Nichtschwangeren.

Besonders gefährdet sind Frauen in den ersten zwei Jahren nach der Schwangerschaft

Liegt die Diagnose vor, setzt ein Wettlauf mit der Zeit ein, denn bei vielen Krebsarten zählt jeder Tag. Je nach Schwere des Befalls muss bei schwangeren Brustkrebspatientinnen die Brust entfernt werden. Doch selbst wenn die Brust erhalten werden kann, gilt bei andauernder Chemotherapie ein striktes Stillverbot. Für manche Frauen ist die Behandlung mit Zytostatika auch erst der Anfang einer umfangreichen Krebstherapie. So sind zum Beispiel Strahlenbehandlungen erst nach der Entbindung üblich.

Selbst nach der Schwangerschaft ist die Gefahr nicht vorüber: Studien zeigen zwar, dass eine Schwangerschaft prinzipiell das Risiko minimiert, künftig an Brustkrebs zu erkranken. Allerdings gilt das nicht für die ersten zwei bis zehn Jahre nach der Geburt, denn in diesem Zeitraum ist das Risiko erhöht. Am stärksten gefährdet sind Frauen in den zwei Jahren nach der Schwangerschaft: bekommen sie zu diesem Zeitpunkt Brustkrebs, ist die Sterberate um das Doppelte erhöht.

Mediziner gehen von durchschnittlich einer Krebserkrankung pro 1000 Schwangerschaften aus. Die Erfassung ist schwierig, weil es weder bundesweit noch international ein Krebsregister gibt. Genauere Zahlen sind also erst für die Zukunft zu erwarten. In Deutschland sind es bei aktuell rund 700.000 Schwangerschaften pro Jahr also rund 700 Schwangere, die an Krebs erkranken. Zu den häufigsten Formen zählen Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs, das Hodgkin-Lymphom, Eierstockkrebs, schwarzer Hautkrebs, Darmkrebs und Leukämie.

Folsäure für alle

Zum Vergleich: bei durchschnittlich 1,5 von 1000 Schwangerschaften kommt es beim Kind zu einem Neuralrohrdefekt oder so genannten "offenen Rücken". Um das Risiko dieser oft tödlichen Fehlbildung beim Kind zu minimieren, wird allen Schwangeren sowie allen Frauen mit Kinderwunsch empfohlen, vor allem in den ersten Schwangerschaftswochen regelmäßig Folsäure einzunehmen. Tatsächlich schließt sich das Neuralrohr bereits in den ersten vier Schwangerschaftswochen, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die meisten Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind (zumal die ersten zwei Schwangerschaftswochen nur rein rechnerisch existieren: offiziell beginnt eine Schwangerschaft am ersten Tag der letzten Blutung, zu Eisprung und Empfängnis jedoch kommt es meist erst in der zweiten Schwangerschaftswoche). In den USA und in Kanada wird Mehl seit zehn Jahren mit Folsäure angereichert. Auch für Deutschland gibt es Überlegungen, Mehl standardmäßig mit Folsäure anzureichern, um alle Schwangeren zu erreichen. Verglichen damit laufen die Bemühungen, bei Schwangeren Krebs zu entdecken, gegen Null. Obwohl das Risiko mit 1:1000 ähnlich hoch ist.

Kompetenzzentren und neue Langzeitstudien

Ein entscheidender Schritt zur besseren Versorgung von Schwangeren, bei denen Krebs diagnostiziert wird, war die Gründung eines Kompetenzzentrums in Berlin Ende 2007. Das Deutsche Zentrum Neoplasie und Schwangerschaft (NUSS) ist in der geburtsmedizinischen Abteilung der Charité angesiedelt, arbeitet jedoch fachübergreifend. Die Mitarbeiter koordinieren die Therapie und überwachen Mutter und Kind während der Schwangerschaft, die Krebstherapie selbst jedoch erfolgt in den einzelnen Fachdisziplinen. Falls es akute Probleme gibt und etwa die Geburt vorzeitig eingeleitet werden muss, übernimmt die Geburtsmedizin. Auch nach der Entbindung wird der Kontakt zu den Müttern aufrecht erhalten. Seit das NUSS gegründet wurde, gab es zahlreiche Anfragen von Betroffenen, Angehörigen und Ärzten aus dem gesamten Bundesgebiet.

Insgesamt jedoch steht die Behandlung von krebskranken Schwangeren noch am Anfang. In den USA und Kanada sollen neue, groß angelegte Langzeitstudien Erkenntnisse darüber bringen, welche Auswirkungen Chemotherapie in der Schwangerschaft auf das Kind hat. Außerdem gibt es zaghafte Versuche, die Chemotherapie bei Schwangeren weiterzuentwickeln. An renommierten Krebskliniken wie dem Memorial Sloan-Kettering Cancer Center und dem Dana-Farber Cancer Institute zum Beispiel werden einige Schwangere nun ebenso wie nicht-schwangere Patientinnen im Abstand von zwei Wochen mit Zytostatika behandelt und nicht mehr nur alle drei Wochen. Schwangere Krebspatientinnen haben nämlich einen winzigen Vorteil: sie leiden nicht, wie sonst bei Chemotherapie üblich und befürchtet, unter schwerer Übelkeit.