Das Plagiat, als eine schöne Kunst betrachtet

Poe, Pym und allerlei Kopisten

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Die Geschichte des Arthur Gordon Pym von Edgar Allan Poe ist ein Hauptwerk der amerikanischen Literatur. Poe hat allerdings knapp ein Drittel des Romantexts von anderen Autoren abgeschrieben. Warum hat er abgeschrieben und von wem? Ist es schlimm, dass er abgeschrieben hat? Hier sind die Antworten.

Zu Poes Zeiten war der amerikanische Literaturbetrieb für die Skrupellosigkeit vieler seiner Protagonisten berüchtigt. Poe bekam einen ersten Eindruck von der allgemeinen Korruption, als er am Wettbewerb einer Wochenzeitung aus Baltimore teilnahm. Ausgelobt waren zwei Geldpreise: Einer für die beste Kurzgeschichte, einer für das beste Gedicht. Poe machte bei beiden Wettbewerben mit, gewann 50 Dollar für den besten Prosatext – und prügelte sich anschließend mit dem Chefredakteur der Zeitung. Bis heute wird das oft als Beweis für seine Arroganz, seine Selbstüberschätzung und seine Unbeherrschtheit angeführt. Er sei, heißt es, darüber verärgert gewesen, nicht auch mit seinem Gedicht gewonnen zu haben und habe, statt dankbar zu sein, den armen Chefredakteur deshalb in einen Faustkampf verwickelt. Was dabei unerwähnt bleibt: Dieser Herr hatte, unter Pseudonym, mit einem substanzlosen Mehrzeiler seinen eigenen Gedichtwettbewerb gewonnen, und die Juroren hatten es gewusst. Als Poe den Chefredakteur zur Rede stellte, flogen die Fäuste.

Edgar Allan Poe

Im Jahr darauf, 1835, trat Poe in Richmond eine Stelle beim Southern Literary Messenger an, einer kulturellen Monatsschrift. Dort lernte er einen festen Bestandteil des amerikanischen Verlagswesens kennen, das puffing. Mit puffing ist der Austausch hochjubelnder Kritiken gemeint. Zeitschrift A oder Autor A lobte Zeitschrift B oder Autor B und wurde dafür bei nächster Gelegenheit wieder gelobt. Das System funktionierte so ähnlich wie das blurbing unserer Tage: ein bekannter Autor lässt sich mit einer kurzen Lobhudelei auf dem Schutzumschlag einer Neuerscheinung zitieren und darf im Gegenzug damit rechnen, vom gepriesenen Kollegen ebenfalls mit Lob bedacht zu werden, wenn der Umschlag für sein nächstes Buch gedruckt wird. Poe machte das puffing mit, weil sein Chef beim Messenger es so verlangte. Den Texten merkt man aber an, dass er versuchte, die lästige Pflicht zu erfüllen, ohne sich zu sehr zu kompromittieren. Gelegentlich flüchtet er sich in Ironie oder in die gewollte Übertreibung. Oder er puffte sich – unter Pseudonym – selber auf.

Die Magazine: Das Internet des 19. Jahrhunderts

Auch wenn sie nicht immer ganz ehrlich waren: Zeitschriften wie der Messenger waren enorm wichtig für die Entwicklung der amerikanischen Literatur. Es gab kein international gültiges Copyright. Amerikanische Verlage druckten die Romane von britischen Erfolgsautoren wie Charles Dickens nach, bezahlten kein Honorar und verdienten viel Geld damit, mit dem sie lieber den nächsten Raubdruck finanzierten, als es in heimische Talente zu investieren. Etablierte Romanciers wie James Fenimore Cooper (der Verfasser der Lederstrumpf-Romane) finanzierten die Herstellung ihrer Bücher selbst, bezahlten ihre Verleger für Produktion und Vertrieb und strichen am Ende den Gewinn ein. Wer sich eine solche Vorfinanzierung nicht leisten konnte, war auf die Magazine angewiesen. Davon gab es genug. Zwischen 1825 und 1850 vermehrte sich in den Vereinigten Staaten die Zahl der regelmäßig erscheinenden Zeitschriften um das 600-Fache. Die Gründe dafür reichten von der Einführung der dampfgetriebenen Druckerpresse (1827) und der Verbesserung des Bildungssystems über bessere und billigere Brillen bis zum Ausbau des Eisenbahnnetzes, wodurch zum einen der Vertrieb einfacher wurde und es zum anderen immer mehr Passagiere gab, die eine in jede Tasche passende Reiselektüre brauchten. Viele der neuen Periodika verschwanden genauso schnell wieder vom Markt, wie sie aufgetaucht waren, aber meistens wurden gleich ein paar andere gegründet. Die Zeitschriften bezahlten feste Preise und boten amerikanischen Autoren für kurze Texte aller Art (Geschichten, Essays, Gedichte, Fortsetzungsromane) eine Veröffentlichungsmöglichkeit, die sie innerhalb des herkömmlichen Verlagssystems nicht gehabt hätten. Sie sind durchaus mit dem Internet vergleichbar.

Auch Poe, der zeitlebens bettelarm war, verlegte sich auf das Schreiben von Kurzgeschichten, weil es dafür einen Markt gab und sofort ein Honorar. Die theoretischen Texte, in denen er darlegt, warum nur die kurze Form künstlerisch wertvoll sein kann, verfasste er, nachdem er mit seinem einzigen Roman Schiffbruch erlitten hatte. Man darf zumindest darüber spekulieren, ob er derselben Meinung gewesen wäre, wenn er es mit Pym zu Ansehen und Reichtum gebracht hätte, oder wenigstens zu einem halbwegs akzeptablen Einkommen. Denn Poe war auch nur ein Mensch.

Am liebsten hätte Poe seine gesammelten Geschichten als Buch veröffentlicht. Aber für eine solche Sammlung fand sich kein Verlag. Harper & Brothers waren allerdings an einem Roman von ihm interessiert. Das war eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gebrüder Harper betrieben eines der größten und erfolgreichsten Verlagshäuser der USA. Sie konnten es sich leisten, Rezensionsexemplare zu verschicken (damals keine Selbstverständlichkeit), und das garantierte schon deshalb Besprechungen, weil die Harpers dann auch in Zukunft Rezensionsexemplare schickten. Diese Bücher konnte man später verkaufen, wodurch viele Kritiker und Redakteure ihr Gehalt aufbesserten. Auch Poe machte das so. Seine Essays, in denen er so tut, als besitze er eine große Bibliothek, zeichnen ein geschöntes Bild von der Wirklichkeit. Er hatte ein kleines Hängeregal und nie so viele Bücher, dass sie darauf nicht Platz gefunden hätten.