Kollaps, Brasilianisierung oder weltweite ökosoziale Marktwirtschaft

Interview mit dem Zukunftsforscher Franz-Josef Radermacher

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Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Franz Josef Radermacher ist Professor für Datenbanken und Künstliche Intelligenz an der Universität Ulm. Unter anderem beschäftigte er sich mit der Organisation, der Intelligenz und dem Bewusstsein von "Superorganismen" - Ameisenstaaten, Roboter, Firmen oder der Menschheit als System. Seit geraumer Zeit plädiert er auch für einen weltweiten Marshallplan.

Herr Professor Radermacher - Sie haben die möglichen Zukünfte der Welt zu Idealtypen zusammengefasst. Können Sie sie kurz schildern?

Professor Radermacher: Ich sehe als Zukunftsforscher drei wesentlich verschiedene Möglichkeiten beziehungsweise Szenarien für die Zukunft: Erstens einen Kollaps der Ökosysteme, zweitens eine „Brasilianisierung“ zu Lasten des Lebensstandards für den weit überwiegenden Teil der Menschen, auch in der reichen Welt, u. a. als Folge resultierender Kostenanpassungen an Ressourcenknappheit und von politisch geregelten Kontingentierungen bei wichtigen knappen Ressourcen, wenn alternative Entwicklungsphasen nicht rechtzeitig beschritten werden und drittens eine attraktive, mit Nachhaltigkeit kompatible balancierte Entwicklung, falls es gelingt, eine geeignete internationale Ordnung inklusive benötigter Querfinanzierungsmechanismen zu etablieren.

Sie bevorzugen das dritte Modell, die "Weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft" – welche Parameter müssten Ihrer Ansicht nach verändert werden, damit die Chancen auf die Verwirklichung dieses Modells steigen?

Professor Radermacher: Erforderlich sind zum einen Verträge zum konsequenten Schutz der Umwelt weltweit. Hier geht es ökonomisch um die Internalisierung externer Effekte, so dass Preise, z. B. im internationalen Transport, die „Wahrheit“ sagen. Ein derartiger Konsens unter den Saaten der Welt verlangt wahrscheinlich im Sinne eines Geben und Nehmen erhebliche Querfinanzierungsmaßnahmen der reichen Welt für die sich entwickelnden Länder. Dies betrifft u. a. die Sicherstellung einer vernünftigen Ausbildung für alle Menschen auf diesem Globus, so wie dies in der UN-Millenniumserklärung bis zum Jahr 2015 ohnehin gefordert wird.

Welche Rolle spielen Innovation und Technologie hinsichtlich der Verwirklichung des von Ihnen angestrebten Zukunftsmodells?

Professor Radermacher: Technische Innovationen großen Ausmaßes charakterisiert als Faktor 10 der Steigerung der Ökoeffizienz sind für die Erreichung einer vernünftigen Zukunft unbedingt erforderlich. Allerdings reichen technische Innovationen alleine nicht aus, wie schon in der Vergangenheit. Dies ist Folge des sog. Bumerangeffektes. Wegen Mengenausdehnung belasten wir die Umwelt immer mehr, obwohl die Technik immer umweltfreundlicher wird. Wir brauchen deshalb neben gigantischen technischen Innovationen ebensolche Innovationen im Bereich der internationalen Ordnungssysteme. Wir brauchen durchsehbare Mechanismen, um absolute Grenzen von Naturbelastungen durchsetzen zu können. Das Setzen von Grenzen ist heute fast noch wichtiger als die Umsetzung von Innovationen, die es erlauben, unter Beachtung dieser Grenzen dennoch die Gesamtwertschöpfung dauernd zu erhöhen.

Die bisherigen weltweit tätigen Institutionen – etwa die WTO – regulierten ja bisher in eine ganz andere Richtung (zum Beispiel im Patentwesen). Was – wie Kritiker anmerkten – möglicherweise auch mit der mangelnden Transparenz und der personellen Zusammensetzung dieser Institutionen zu tun hat. Die Entwicklung geht – wenn man sich beispielsweise die Verhandlungen zum ACTA-Abkommen ansieht – eher in Richtung noch weniger Transparenz. Wer sollte denn hier Änderungen erzwingen können – und wie?

Professor Radermacher: Im letzten müssen starke Nationalstaaten, ganz besonders die Europäische Union, im Verbund mit anderen Staaten diese Änderungen herbeiführen. Sie können dies am ehesten dann leisten, wenn die internatonal tätigen Unternehmen und Akteure der Weltzivilgesellschaft in eine ähnliche Richtung argumentieren. Glücklicherweise gibt es eine Dynamik in diese Richtung. Diese gilt es zu fördern.

Verhindern kulturelle Bindungen nicht eine weltweit angelegte demokratische Entscheidungsfindung? Zumindest liegt solch ein Schluss doch nahe, wenn man diverse afrikanische Staaten und ihre mit dem Lineal gezogenen Kolonialgrenzen betrachtet, bei denen die Wahloptionen weniger verschiedene Politikmodelle als ethnisch strukturierte Zuteilungserwartungen sind?

Professor Radermacher: Die gemachten Beobachtungen sind richtig. Zu beachten ist allerdings, dass es die ehemaligen Kolonialmächte waren, die die Grenzen so gezogen haben, oft wohl mit der Absicht, interne Schwierigkeiten zu erzeugen, nach dem Motto „Teile und herrsche“. Dort, wo es große Rohstoffvorkommen auszubeuten gibt, etwa im Nahen Osten, ist dieses Muster offensichtlich. Und bis heute liegen die größten Widerstände gegen jede Art weltdemokratischer Lösung, z. B. in den Bereichen Klimaschutz und intellektuelle Eigentumsrechte, bei den stärksten Nationen. Sie reden zwar viel über Demokratisierung, meinen damit aber auch die innerstaatliche Situation. Die wesentlichen Regelungsbereiche auf diesem Globus sind heute aber zwischenstaatlich. Und dort möchte man keine Demokratie, hier möchte der reiche Teil der Welt mit 20 Prozent der Weltbevölkerung nach wie vor gerne alleine die Regeln festlegen, und zwar immer zum eigenen Vorteil. Viele der weltweiten Probleme, gerade auch Konfliktfelder im interkulturellen Bereich, haben hier ihre Wurzeln, nicht in der ethnischen Binnenstruktur schwacher Länder, die früher einmal Kolonien waren.

Sie waren beziehungsweise sind in Beratungsgremien von Landesregierung und Bundesregierung tätig – gab es da irgendwelche sichtbaren Ergebnisse? Oder hatten Sie eher den Eindruck, dass man hier nur Ideen kanalisiert und versickern lässt?

Professor Radermacher: Es gab und gibt Ergebnisse, etwa in der Nachhaltigkeitsstrategie des Landes Baden-Württemberg oder in der Positionierung der Bundesregierung zu Themen wie Klimagerechtigkeit und Weiterentwicklung der WTO. Von besonderer Bedeutung sind auch die Unterstützungsbeschlüsse vieler deutscher, österreichischer und norditalienischer Landes- bzw. Provinzregierungen zum Thema. Letztlich bleiben die objektiven Probleme der Global Governance, etwa im Bereich Klima, Weltfinanzsysteme und Steuerparadiese. Dort gibt es sehr diffuse Interessenunterschiede und mächtige Akteure im Hintergrund. Nicht zuletzt die Politik der USA im letzten Jahrzehnt stellt eine besonders gravierende Hürde für international vernünftige Verhältnisse dar. Kurzfristige Erfolge sind hier nicht zu erwarten. Hier gilt mehr noch als sonst das Wort von Max Weber „Politik ist das langsame Bohren harter Bretter“.