Paranoia, Folter und die Unmöglichkeit der Unschuld

Abstrakte Gefahren und verdächtiges Verhalten - seit 2001 kann alles und jedes gefährlich und verdächtig sein. Zusammen mit der Folterdebatte sowie Gefangenenlagern eine tödliche Mischung

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Es war einmal... So beginnen Märchen und fast erscheint die Zeit, in der weißes Pulver auf Parkplätzen einfach als Mehl angesehen wurden, wirklich wie eine Zeit aus dem Märchenbuch. In dieser Zeit wurde heutzutage verdächtiges Verhalten nicht als solches eingestuft, es lauerten nicht – und sei es nur in der Gedankenwelt – überall der Terrorismus, der Attentäter, der Tod. Fast kommt es einem nostalgisch vor, so wie die Geschichten des Opas von „früher“, wenn man sich erzählt, dass es eine Zeit gab, in der man tatsächlich einfach so sein Schminkzeug und sein Deo in den Koffer legte, ohne dass man sich um die Menge der Fläschchen bzw. des Inhaltes Gedanken machen mußte.

Es war eine Zeit, in der Leute, die im Sommer eine dicke Jacke trugen, als etwas spleenig angesehen wurden, aber nicht automatisch verdächtig waren. Als ein Turban exotisch war, jedoch nicht automatisch gefährlich. Und eine Zeit, in der man telefonierte oder mailte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sich diese Worte vielleicht, eventuell, möglicherweise in der Gedankenwelt eines anderen, der die Kommunikation abhört, anhören und zu welchen Folgen sie führen würden.

Paranoia als erste Bürgerpflicht

Im Artikel Paranoia als erste Bürgerpflicht vom August letzten Jahres habe ich schon erläutert, wie sich der Gedanke, dass alles als Werkzeug des Bösen dienen könnte, auf die Bevölkerung auswirkt. Dabei blieb jedoch eines außen vor: Paranoia funktioniert im Endeffekt (wie ich finde) nur in eine Richtung; denn was Paranoia und was Technikfolgenabschätzung oder präventive Terrorbekämpfung ist, wird ja von „Oben“ bestimmt.

Als Beispiel kann hier die momentane Debatte um die Kommunikation von Terroristen über Onlinespiele angesehen werden. Der Unterschied zwischen Paranoia und taktischer Überlegung ist hier fließend und wird letzten Endes auch durch den Beruf des Einzelnen bzw. durch einzelne Worte geklärt. Einfach ausgedrückt und um Stereotypen zu bemühen: Wenn der langhaarige Kiffer von nebenan meint, dass sich Terroristen über Onlinespiele austauschen, wird dies wahrscheinlich als Paranoia, ggf. ausgelöst durch den Drogenkonsum, angesehen werden. Ist der Herr ein offizieller Anzugträger mit Laptop und ein paar Reizworten auf den Lippen, so wird dies als taktische Überlegung, als zu beachtende Möglichkeit oder gar als Signal zum Einschreiten gesehen werden.

Steven Aftergood von der Federation of the American Scientists hat diesbezüglich angemerkt, dass es nicht nur darum geht, was möglich ist, sondern auch darum, was überhaupt sinnvoll wäre. Dabei erläuterte er aber auch das Problem, welches nicht nur die Geheimdienste haben: Ihre Aufgabe ist es, sich Szenarien zu überlegen und zu verhindern, dass diese eintreten. Was sich jetzt aber wie der Traumberuf eines jeden phantasiebegabten Menschen anhört, ist es, wenn er gewissenhaft (!) ausgeübt wird, nicht. Denn neben der reinen Phantasie gehören (Technik)folgenabschätzung, Verhältnismäßigkeitserwägungen, strategische Überlegungen und nicht zuletzt auch Bedenken hinsichtlich der Sinnhaftigkeit eines Szenarios zum Beruf.

Entweder die Verschlüsselung ist zu gut oder wir sind es

Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen Paranoia bzw. einem sich zu oft drehenden Denken an dem Beispiel des Spuckbeutels im Flugzeug. Jener Spuckbeutel, mit den Buchstaben B O B versehen und auf der Toilette liegengelassen, führte (nicht zuletzt, da es vorher Bombendrohungen gegeben hatte) dazu, dass der Pilot wendete und auf Grund der Vermutung, B O B stünde für „Bomb on Board“ (Bombe an Bord) schnellstmöglich den Flug abbrach. Was für einige durchaus ein akzeptables Verhalten war, warf aber eine Frage auf, die bei den Kommentaren zum Artikel letztendlich bei der Diskussion eher unterging:

Welcher Entführer schleppt ne Bombe an Bord und ist dann zu faul „Bomb on Board" auszuschreiben, sondern verlässt sich auf die (IMHO überdrehte) Fantasie der Flugbegleiter?

Denn wenn Terror tatsächlich dazu dient, Angst und Schrecken zu verbreiten, gäbe es letzten Endes zwei Möglichkeiten:

  1. Entweder man will die Bombe sowieso zünden, warum sollte man dann auf sie (in welcher Form auch immer) hinweisen?
  2. Oder man will sie nicht zünden, sondern lediglich die Angst vor dieser Möglichkeit nutzen; dann wäre es aber sinnvoller, eine Aufschrift zu nutzen, die auf jeden Fall zur Umkehr der Maschine führen würde. (hier z.B. Bombe an Bord)

Natürlich könnten die Buchstaben B O B eine verschlüsselte Nachricht für einen Helfershelfer sein, aber – und hier sind wir bei der Paranoia angelangt – im Prinzip könnte jede Tüte, jedes Blättchen Toilettenpapier, jeder Wassertropfen an der Wand oder auf dem Boden, jeder Blutstropfen oder gar ein liegen gelassener Lippenstift ein Zeichen sein. Angesichts der permanenten Terrorgefahr dürfte dann als Konsequenz kein Flugzeug mehr überhaupt starten.

Während all dies noch bei einigen ein Lächeln hervorruft, so wird es dann schließlich (lebens)gefährlich, wenn man diese Form der „Überlegung“/Paranoia mit der Folterdebatte in Deutschland, der Erlaubnis zum Foltern in den USA sowie der Tatsache, dass es Lager gibt, in denen Menschen langfristig ohne Anklage, ohne Verteidigung und ohne Beachtung der Menschenrechte gefangen gehalten werden, verbindet. Bedenkt man nämlich, dass Folter letzten Endes nur die erwünschten Ergebnisse bringen kann (zynisch betrachtet: sind sie zu stark, sind wir zu schwach), so gäbe es bei demjenigen, der den Spuckbeutel hinterließ, bei dem Pärchen, das auf dem Parkplatz weiße Pfeile anbrachte usw. nur zwei Möglichkeiten:

  1. entweder sie brechen unter der Folter zusammen und bekennen sich schuldig
  2. oder sie sind zu stark, so dass die Methoden der „Verhöre“ intensiviert werden müssen

Denn wie sollte jemand seine Unschuld beweisen können? Das ist auch das Wesen der paranoiden Überlegungen und der Folterdebatte: Es gibt keine Unschuld, man muss nur lang genug nach der Schuld fischen, um sie zu fangen. Notfalls erfindet der Delinquent sie, um einfach seinem Martyrium ein Ende zu machen. Die Angst vor einem solchen Vorfall, der einen selbst betrifft, ist (betrachtet man sich die Nachrichten der letzten Jahre) nicht unbegründet. Und sie führt dazu, dass die von „Oben“ vorgegebene Paranoia sich weiterentwickelt – denn alles, was man einst noch unbefangen getan hat, könnte heutzutage schon zu Problemen führen. Auch wenn man das selbst gar nicht weiß. Zwar kann man sich von der Angst vor dem Terror durch die Sprengstoffattentäter usw. freimachen; die Angst vor dem allgegenwärtigen Staat sowie seinen Institutionen, der das Maß längst verloren hat, aber bleibt. In der Außenwirkung hat die Strafverfolgung fast schon das Image der „Fingermen“ aus „V für Vendetta“ erreicht – was dies für einen Staat bedeutet, möge jeder selbst beurteilen.