Das nachträgliche Feigenblatt

Ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes sieht die Offenlegung der Kontenbewegungen bei ALGII-Empfängern als zulässige und notwendige Mitwirkung des Arbeitslosen an. Die Einschränkungen wirken zunächst beruhigend, sind jedoch nur ein Placebo

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Zu den Mitwirkungspflichten eines ALGII-Empfängers gehört es, dass er seine Bedürftigkeit nachweist. Dies geschieht im Allgemeinen nicht nur durch eine Aussage, sondern durch Offenlegung der Konten und Kontenbewegungen. Schon in dieser Praxis sehen Kritiker eine Umkehr der „Unschuldsvermutung“ (die natürlich nur im Strafrecht gilt, aber hier als Begriff verwendet wird, um die Situation zu verdeutlichen). Dem Anspruchsberechtigten, so die Kritik, wird quasi unterstellt, dass seine Aussage, er sei bedürftig, nicht der Wirklichkeit entspricht, weshalb er sie durch Nachweise belegen muss. Befürworter der Praxis sehen darin, ähnlich wie beim Kinder- oder Wohngeld, eine gängige Praxis der Darlegung der Anspruchsvoraussetzungen.

Doch die Konten(bewegungs)offenlegung ist nicht nur beim Erstantrag vorzunehmen; auch bei den Folgeanträgen verlangen die Behörden die Kontoauszüge des Zeitraumes zwischen der letzten und der neuen Antragsstellung. Dies, so die Behörden, sei notwendig, um zu prüfen, ob regelmäßige Geldeingänge eintreffen oder aber Missbrauch betrieben wird. Die regelmäßigen Geldeingänge betreffen hier nicht nur etwaige Nebeneinkünfte, sondern auch in bestimmten Abständen wiederkehrende Schenkungen/Darlehen z. B. durch Verwandte. Übersteigen diese einen gewissen Betrag, werden sie auf die Sozialleistungen angerechnet. Dies ist insbesondere deshalb von Interesse, weil hier zwischen einmaligen und regelmäßigen Schenkungen rechtlich unterschieden wird, was bei verspätet bearbeiteten Anträgen durchaus zu Problemen führen kann.

Drei Monate Bearbeitungszeit – und die Folgen

Beträgt beispielsweise die Bearbeitungszeit drei Monate und erhält der ALGII-Empfänger, der während dieser Zeit mittellos ist, Unterstützung durch Verwandte, so wird diese Unterstützung auf die ALGII-Leistung angerechnet. Dies geschieht unabhängig davon, wie die familiären Verhältnisse sind oder in welcher Situation sich der Verwandte befindet. Einfach ausgedrückt: Unterstützt die Oma ihren Enkel, damit dieser nicht auf der Strasse landet, bis sein ALGII eintrifft, so führt dies unter Umständen dazu, dass für diese Zeit der Unterstützung kein ALGII nachträglich gezahlt wird. Bei Verwandten wird im Allgemeinen von Schenkungen, nicht von Darlehen, ausgegangen. Es obliegt hier erneut dem Antragsteller, ggf. Nachweise dafür zu erbringen, dass es sich um ein Darlehen handelt – was erneut zu einer Verlängerung der Bearbeitungszeit führt.

Interessant dabei ist wiederum, dass keinerlei Zahlungseingänge in der Zeit ohne ALGII zu einer Vermutung der Schwarzarbeit führen. Da es unmöglich erscheint, dass jemand in der Bearbeitungszeit ohne Geld auskommt, wird hier dann angenommen, dass regelmäßige Einkünfte bestehen, die nirgends protokolliert werden. Dies gilt auch dann, wenn derjenige beispielsweise mit seinem letzten Geld schon einen Mietvorschuss bezahlt, den Kühlschrank vollgeräumt usw. hat. Erneut liegt dann hier die Beweislast bei ihm – er muss darlegen, dass er nicht schwarz arbeitet, was letztendlich wieder nur durch eine Aussage machbar ist, die auch am Anfang möglich sein könnte.

Um die Absurdität noch einmal zu verdeutlichen: Gibt er anfangs an, dass er jede Einnahme usw. melden wird, so wird dennoch auf Grund der Sachlage, dass er noch nicht auf der Strasse lebt und in der Suppenküche isst, angenommen, dass er hier seiner Pflicht nicht nachkommt, Einnahmen zu melden. Die bloße Tatsache, dass er also trotz einer langen Bearbeitungszeit noch nicht obdachlos ist und hungert, reicht hier, um einen Missbrauchsverdacht zu basteln.

Bei den Schenkungen gibt es zudem das Problem, dass ein gewisser Geldbetrag monatlich als legitim gilt und nicht angerechnet werden muss. Wird aber dieser Geldbetrag nicht in kleineren Raten, sondern als einmalige Zahlung geleistet, dann wird er doch angerechnet. Einfach gesagt: Zahlt Oma jeden Monat 50 Euro, ist es kein Problem; zahlt sie einmalig im Jahr 600 Euro, wird dies angerechnet.

Schauen wir mal, was wir schwärzen

Auch die Schwärzung von „intimen Daten“ gestaltet sich schwierig. Einige Arbeitsagenturen sagen mehr oder minder unverblümt, dass man sich nun einmal bei der Antragsstellung „nackt machen“ bzw. „die Hosen runterlassen“ muss. Geschwärzte Kontoauszüge werden somit nicht angenommen, die Antragsstellung verzögert sich bzw. beginnt gar nicht erst. Auch entsprechende Urteile und/oder Hinweise durch Datenschutzbeauftragte sind hier nicht hilfreich – die ArGen stellen sich hier auf den simplen Standpunkt: Wer sich querstellt, bekommt nichts.

Durch das BGH-Grundsatzurteil (Aktenzeichen: Bundessozialgericht B 14 AS 45/07 R) wird diese Praxis weitgehend legitimiert. Allerdings, so das Urteil, müssen die Agenturen darauf hinweisen, dass bestimmte Ausgaben, die auf Partei- oder Gewerkschaftszugehörigkeit oder auch Weltanschauungen hinweisen, geschwärzt werden können.

Was im ersten Augenblick wie eine Art Unterhosenanbehaltetoleranz für den nackten ALGII-Empfänger erscheint, wird bei näherer Betrachtung zu einem erst nachträglich überreichten Feigenblatt. Die Logik hinter der Vorlage der Kontoauszüge liegt ja darin, dass man davon ausgeht, dass keine Anspruchsberechtigung vorliegt (sonst würde man ja der Aussage des Antragstellers Glauben schenken). Die Ausgaben müssen u. a. deshalb nachgewiesen werden, da jemand z. B. als „Powerseller“ bei Ebay ungemeldete Einkünfte haben könnte, welche durch die Zahlung der Gebühren an Ebay dann aufgedeckt werden könnten.

Der Antragsteller, so die Vermutung, steht schon von Anfang an im Verdacht der Mittelerschleichung. Warum sollte das Amt dann also der Aussage, dass die geschwärzte Ausgabe keine Ebaygebühr ist, Glauben schenken und nun davon ausgehen, dass es sich um legitime Schwärzungen handelt? Da der BGH offen gelassen hat, wie die Schwärzung von Buchungstexten, deren Inhalt sehr intim sei, (z. B. "politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit oder Sexualleben") vorgenommen werden soll, handeln die Behörden wie folgt: Erst vorlegen, dann schwärzen. Die intimen Daten werden also dem Sachbearbeiter vorgelegt, der dann entscheidet, ob sie intim genug sind, um sie schwärzen zu dürfen. Wie der BGH dieses nachträglich gnädigerweise überreichte Feigenblatt für die ALGII-Antragsteller mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Einklang bringen will, ist derzeit ebenso offen wie die Frage, wie Schwarzarbeit durch Vorlage von Kontoauszügen dargelegt werden soll.

Das Bundesverfassungsgericht entschied nämlich (Az.: 1 BvR 569/05), dass es bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit bei Sozialleistungen nur auf das hier und jetzt ankomme - und die Verhältnisse in der Vergangenheit dafür unrelevant sind.