Recht auf Leben gegen Selbstbestimmung der Frauen

Lebensschützer und ihre Gegner am Weltkindertag auf dem Alexanderplatz in Berlin

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Weltkindertag und Alexanderplatz - das allein schon ist ein Widerspruch, ist doch der Alexanderplatz in Berlin Mitte selbst eine Betonwüste ohnegleichen. Mit seinen staubigen Ewigbaustellen inmitten unwirtlicher Hochhausfronten ein Inbegriff kinderfeindlicher Urbanität. Nichtsdestotrotz – ausgerechnet hier trafen sich anlässlich des Weltkindertages am Samstag Abtreibungsgegner aus ganz Deutschland.

Mit einem Schweigemarsch, bei dem weiße Kreuze durch Berlin-Mitte getragen wurden, protestierten sie gegen Abtreibung. Der Marsch, der unter dem Motto 1000 Kreuze stand, sollte durch die Zahl 1000 auf die geschätzte Anzahl der alltäglich in Deutschland durchgeführten Abtreibungen hinweisen.

Gegen den Schweigemarsch der Lebensschützer demonstrierten Studentinnen, Pro-Familia-Mitarbeiterinnen und Feministinnen. Sie verlangten die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen (Smash 218), sprachen sich für die Selbstbestimmung der Frau aus und wandten sich gegen den christlichen Fundamentalismus.

Foto: Verena Mörath

Für die Lebensschützer beginnt Leben mit der Zeugung. Für Kathrin Müller vom Arbeitskreis Linker Feminismus ist Leben Definitionssache. „Zuerst ist nur ein Haufen Zellen da“, sagt sie. „Und wer den nicht will, lässt ihn wegmachen.“ „Abtreibung gehört zum Leben“, heißt es passend dazu auf Plakaten, die ihre Mitstreiterinnen in die Höhe halten.

Kathrin Müller kann nicht verstehen, warum ein ungeborenes Leben wichtiger sein soll als Menschen, die schon geboren sind? „Diese Lebensschützer demonstrieren nicht gegen Krieg und nicht gegen Kapitalismus“, kritisiert sie. „Das sind gar keine Lebensschützer. Seid fruchtbar und wehret Euch.“

„Ist Schwanzlutschen Mord?“, hat eine Gegendemonstrantin auf ihr T-Shirt geschrieben. Auf dem Gehsteig liegen Marmeladengläser gefüllt mit roten Stoff-Fetzen. „Mein abgetriebenes Kind“, steht darauf. Oder: „Wieviele Jesusse stecken in diesen Gläsern?“

Auch Gisela Notz, Bundesvorsitzende von Pro Familia, nimmt an der Gegendemonstration teil. Dass anlässlich des Lebensschützer-Aufmarsches hin und wieder Dynamik in die Debatte um das Abtreibungsrecht kommt, findet sie gut. „Smash 218“ – das macht deutlich, dass der Abtreibungsparagraph in seiner jetzigen Form von vielen Frauen als zu einschränkend empfunden wird“, sagt sie. „Und der christliche Fundamentalismus, der ist ohnehin frauenfeindlich.“

Wer das Recht auf Leben einklagt, wer darauf besteht, dass von der Zeugung an Leben da ist, der muss auch gegen die medizinische Indikation sein, gegen Fruchtwasseruntersuchungen und gegen die Selektion, die auf diese Weise während der Schwangerschaft stattfindet. So sehen es die Frauen vom AK Feminismus. Für sie ist ein Embryo kein Rechtssubjekt. Und ein Zellhaufen sollte auch kein Rechtssubjekt werden, solange nicht alle Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer, sagt Katharina Müller, die in Berlin Gender Studies studiert.

„Sie sind sicher auch froh, dass Sie leben, das sieht man Ihnen an.“

So schroff wie in diesem Jahr ging es bei den letzten Treffen von Lebensschützern und Abtreibungsgegnern nicht zu. Teilnehmer - hüben wie drüben - wundern sich über die geballte Polizeipräsenz. Gleich zu Anfang der Veranstaltung führt die Polizei zwei Gegendemonstrantinnen ab. „Nicht wir, sondern die da drüben gehören abgeführt mit ihren menschenverachtenden Parolen“, empört sich eine Feministin.

Die meisten Abtreibungsgegner, die sich hier auf dem Alexanderplatz tummeln, sind Männer. Von den anwesenden Frauen ist die Mehrzahl nicht mehr im gebärfähigen Alter. Diejenigen Frauen, um die es geht, diejenigen, die schwanger werden und abtreiben könnten, sind damit deutlich unterrepräsentiert. Eine von ihnen aber, eine 32jährige Mutter von fünf Kindern, erzählt von ihrem Glück, so viele Kinder zu haben.

Eine etwa 60jährige schwarz gekleidete Frau zupft mich am Ärmel: „Sie sind sicher auch froh, dass Sie leben, das sieht man Ihnen an.“ - Ich bin perplex. Arglos gestehe ich ihr, dass es sich bei mir im Moment vor lauter Sorgen anders verhält. Dass ich erstaunlich wohlwollend über den Tod nachdenke. Der letzte Umzug mit zwei Kindern in den teuren Teil von Berlin steckt mir noch in den Knochen. Ich gestehe, dass ich mich in letzter Zeit schon ein ums andere Mal bei dem Gedanken ertappt habe, dass der Tod doch eigentlich gar nicht so schlimm sein kann, weil man sich, wenn man tot ist, endlich ausruhen kann und keinen Makler mehr zahlen muss.

„Aber Sie konnten sich nur entscheiden, hierher zu kommen, weil Ihre Eltern sich eines Tages für Sie entschieden haben“, beharrt die Frau unverdrossen. Gegen diese Funi-Logik lässt sich natürlich nicht viel einwenden. Aber hilft sie weiter?

Jetzt ergreift die Liedermacherin Claudia Wellbrock das Mikro. “Gedenken an mein Kind” heißt ihr Song. „Ich habe abgetrieben und weiß, Abtreibung macht die Frau krank“, erklärt sie, bevor sie zu singen anfängt. Eine etwa 55jährige Frau in einem braunen, fellgefütterten bodenlangen Wildledermantel beginnt hin und her zu schwanken - wie ein Baum im Wind. An ihrem Ellenbogen baumelt ein Stoffbeutel von Natur-Gut. Neben ihr steht ein Mann im grünen Parka. Seine Hände hält er wie ein Bettler, die Handflächen nach oben. „Irdener“ steht auf der weißen Armbinde, die er sich übergestülpt hat. „Irdener?“, frage ich. Er ist in Trance und kann mich nicht aufklären darüber, was das ist. Ein kleines Mädchen mit Trisomie 21 thront in ihrem roten Wintermäntelchen auf den Schultern ihres Vaters und freut sich an der Musik.

Das Lebensrecht beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, sagt Claudia Kaminski. Ich frage eine Lebensschützerin neben mir, was ihrer Meinung nach bei einer Vergewaltigung getan werden soll. Muss die Frau das Kind austragen? „Ja, auch dann geht es um das Kind“, antwortet die Frau. „Jedes Kind ist ein Gottesgeschenk. Gott hat es auf den Weg gebracht, es muss leben.“ Auf der Bühne beklagt sich Claudia Kaminski, dass denen, die abtreiben, das Unrechtsbewusstsein abhanden gekommen sei.

Foto: Verena Mörath

Ein Herr Kälberer soll aus der Perspektive eines Mannes sprechen. „Wer nimmt eine schwangere Frau bei sich auf?“, fragt er. Ich wundere mich: Schon kleinen Kindern wird eingeschärft, nicht mit Fremden mitzugehen. Warum sollen Schwangere so etwas tun. Warum sollen Schwangere automatisch obdachlos sein? „Wer geht mal ins Fußballstadion und redet mit den Männern, um die es hier geht?“, fragt Herr Kälberer weiter. Auch das verstehe ich nicht. Was will Herr Kälberer den Männern in der Südkurve sagen? Etwa: „Steht hier nicht rum, nehmt Schwangere auf?“ Mit gefällt das nicht, das Kidnapping von Schwangeren. Und noch weniger gefällt mir die Geste, die Schwangeren Gnade entgegenbringen will, statt ihnen Rechte zuzubilligen.

Nun kommt Herr Kälberer auf Männer zu sprechen, die Minderjährige schwängern. Offenbar ist er – oder ist es nur sein rhetorisches Ich? – als Lehrer tätig. „Wie tragen Lehrer dazu bei, dass junge Mädchen, die nach dem Wochenende schwanger sind, ihre Kinder auch zur Welt bringen wollen?“, fragt er. Auch hier verschließt sich mir seine Logik. Wäre es nicht besser, der Lehrer würde mit dafür Sorge tragen, dass es gar nicht zu solchem Montagsfrust kommt?

Aus einem weißen Bulli werden weiße Kreuze ausgeladen. Auf geht’s zum 1000-Kreuze-Marsch. Jetzt, wo alle ein oder zwei Kreuze in ihren Händen halten, sieht die Veranstaltung richtig voluminös aus. Vielleicht sind es sogar 1000, denke ich. Einer der umstehenden Polizisten geht von 400 Teilnehmern aus.

"Der Mensch ist ein Gottesgeschenk"

„Ich bin nichts. Ich kann nichts. Gebt mir eine Religion“, rufen die Störer. „My belly belongs to me.“ Halina Kowalska ist mit einigen anderen von der polnischen Johannes-Gemeinde in Kreuzberg nach Mitte aufgebrochen, um das weiße Kreuz zu tragen. „Weg mit dem Kapitalismus, weg mit dem Patriarchat“, ruft eine Gegendemonstrantin und pustet Luftblasen aus Schaum auf die Lebensschützer. „Diese Leute da“, sagt Halina Kowalska, und zeigt auf die Störer, „sind doch selbst die größten Kapitalisten. Die da betrachten sogar Kinder als Eigentum.“

„Gott sei dank ist es in Polen anders“, erklärt die 58-Jährige, die seit langem in Berlin lebt. „Ich kenne dort Frauen, die sagen, dass sie abgetrieben hätten, wenn der Priester damals nicht so laut geschrieen hätte gegen Abtreibung. Heute wissen diese Frauen, dass der Priester Recht hatte. Denn heute haben sie Kinder, die nach ihnen schauen im Alter.“

Frau Kowalska selbst hat keine Kinder. „Der Mensch ist ein Gottesgeschenk“, erklärt sie. „Kein Gottesgeschenk für Sie?“, frage ich. „Der Mensch hat einen freien Willen“, erklärt sie, „sonst könnte man ihn nicht verurteilen vor dem jüngsten Gericht.“ Dass sie selbst keine Kinder hat, hängt für sie mit diesem freien Willen zusammen. Sie hatte die Wahl: Hätte sie früher mehr gebetet, hätte sie heute vielleicht Kinder. Abgetrieben hat sie nie.

Zwei 15jährige Mädchen aus der Mennoniten-Brüdergemeinde in Bielefeld Heepen-Oldentrup sind mit rund 50 Personen schon um sieben Uhr morgens aufgebrochen, um rechtzeitig da zu sein in Berlin. Die beiden sind strikt gegen Sex vor der Ehe. Wenn man Sex hat, sollte man schon wissen, was man tut, sagt die eine. Die andere sieht es genau so und schaut schüchtern zu Boden.

Irene Bolm aus Magdeburg trägt sogar zwei Kreuze. „Für meinen Sohn mit“, erzählt die 53-Jährige. Irene Bolm hat ihren Sohn adoptiert. Seine Mutter hätte ihn fast abgetrieben. Frau Bolm hat sich schon in DDR-Zeiten aufgeregt über die Selbstverständlichkeit, mit der abgetrieben wurde. „Alle wollen immer über die gesellschaftliche Bedingungen reden, wenn es um Kinder geht“, kritisiert sie. „Aber die Bedingungen kann man ändern, ein totes Kind dagegen bleibt tot.“ Irene Bolm ist das vierte Mal dabei. Früher war der Protest zwar zahlenmäßig nicht so ausgeprägt, aber heftiger, meint sie. Da flogen sogar Eier und manche wurden mit Farbe bekleckst.

Foto: Verena Mörath

Eine Künstlerin steht auf ihrem Fahrrad am Rand kann sich gar nicht beruhigen über die Symbolik: „Es sieht aus wie ein Kreuzzug, wie im Krieg, wie die mit den weißen Kreuzen an den Ruinen vom Palastes der Republik vorbeiziehen“.

Schwarz und schweigend die Masse der Lebensschützer. Bunt und laut die nunmehr vereinzelten Gegendemonstranten. „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“, rufen sie. Oder: „Wir sind hier, um für die Rechte der Schwangeren zu demonstrieren.“ Kurz vor der Hedwigkathedrale unter den Linden, dem Ziel der Lebensschützer, kommt es noch einmal zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Bunt angezogene Menschen werden nicht in die Kirche gelassen.

„Frauen, die abtreiben wollen, treiben ab. Wer Abtreibungen verbietet, trägt dazu bei, dass mehr Abtreibungen illegal, unter unsicheren Bedingungen durchgeführt werden“, ruft eine der Gegendemonstrantinnen in die Menge. „Frauen haben das Recht selbst zu bestimmen, ob sie abtreiben wollen oder nicht“, schallt es an anderer Stelle von den Kirchenstufen herunter. Diese beiden Frauen dürfen nicht in die Kirche. Dafür rufen sie noch einmal: „Mutterkult und Niedriglohn, brauchen wir nicht, haben wir schon.“

In der St. Hedwigs-Kathedrale tagt nun der ökumenische Gottesdienst, geleitet von Dompropst Stefan Dybowski und Pastor Peter Strauch. Kardinal Georg Sterinsky, von den Lebensschützern vage erwartet, ist doch nicht gekommen.