Die Mönche der Wissenschaft

Neal Stephenson schreibt wieder Science Fiction

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der phantastischen Literatur gilt spätestens seit dem Herrn der Ringe, dass ein Buch gut ist, wenn es dick ist; dass zuviel des Guten einfach nicht schlecht sein kann; dass interessante Grundideen besser werden, wenn man sie in drei, vier, fünf oder gar sechs Bänden ausbreitet. Diese bizarre Form des Schwanzlängenvergleichs hat zu betrüblichen Selbstdemontagen geführt, wie bei Frank Herberts Dune- Saga, dem Hyperion-Zyklus von Dan Simmons und Otherland von Tad Williams. "Anathem" von Neal Stephenson macht knapp vor der 1000- Seiten-Grenze halt, die bei gebundenen Büchern meist Unlesbarkeit anzeigt (schon aus anatomischen Gründen). Wie schlimm ist es geworden?

Ich kann mich genau an den Moment erinnern, in dem ich mit Neal Stephenson die Geduld verlor. In Cryptonomicon, seinem ersten 900- Seiten-Wälzer, der mich von Seite zu Seite zunehmend ermüdet hatte, beschreibt er an irgendeiner Stelle den Abschuss einer Mörsergranate, und weil er so stolz auf die Mühe ist, die er sich beim Recherchieren gegeben hat, muss der Leser leiden, indem er über jedes einzelne Teil erfährt, aus dem diese Granate zusammengesetzt ist. Das wollte ich alles gar nicht wissen. Ich klappte das Buch zu. Wie hatte das geschehen können? "Snow Crash", "The Diamond Age" und selbst "Zodiac" - das waren doch alles gute Bücher gewesen. Neal Stephenson hatte sich als schlagfertiger und kenntnisreicher Plot-Master längst etabliert. Wie hatte er sich nur in einen so unerträglichen Klugscheißer verwandeln können? Klassischer Fall von Dickbuchkrankheit. Üble Auswirkung des Phantastik-Schwanzlängenvergleichs. "It’s all in the details", schien das neue Credo zu lauten, und es tat dem Mann und seiner Kunst nicht gut.

Dann kam der Barock-Zyklus,drei Bände, jeweils genauso dick wie Cryptonomicon, und ich zuckte nach der Lektüre der Umschlagtexte nur noch mit den Schultern: Das musste wohl eine Art literarisches Geduldsspiel für Leute sein, die sich an Pynchon nicht herantrauten. Irgendwas in der Art. Nun also Anathem, wieder fast 1000 Seiten stark, wieder ein Backstein, der nach Prätention und Langeweile roch. Und dann schlug ich das Buch auf. Und dann wurde ich überrascht. Um es einmal bündig zusammenzufassen: "Anathem" ist das, was Umberto Eco mit dem "Namen der Rose" gemacht hätte, wenn er ein Science Fiction-Autor wäre. Der Roman spielt auf einem fremden Planeten namens "Arbre" und beschreibt zunächst die seltsame Gesellschaftsordnung, die dort im Jahre 3689 lokaler Zeitrechnung herrscht. Nicht Mönche leben dort in Klöstern, sondern Wissenschaftler, die, in verschiedene Orden gegliedert, die Wissenschaft so rein wie möglich betreiben, unbeeindruckt von dem Treiben der Welt um die Klostermauern herum. Nicht, dass es bei den Wissenschaftsmönchen ("Avout" genannt) keine Konflikte gäbe. Die Orden unterscheiden sich nicht nur anhand ideologischer Standpunkte, sondern auch die Zeitachse spielt eine große Rolle: Die "Zehner" haben alle zehn Jahre einmal Kontakt mit der Außenwelt (im Verlauf eines sogenannten "Aperts"), die "Hunderter" alle hundert Jahre, die "Tausender" alle tausend.

Diese verschiedenen Grade der Abgeschiedenheit von der Außenwelt erzeugen unterschiedliche Formen des Bewusstseins, ja sogar unterschiedliche Sprachen, denn während die Zehner naturgemäß am meisten Einflüsse von außen aufnehmen, haben die Hunderter nur noch einen vagen Zugriff auf zeitgenössische Geschichte und die Tausender scheinen ganz in ihre eigene Geschichte und ihre Traditionen eingekapselt zu sein. Zusammengehalten wird das Ganze von einem zentralen Ethos des wissenschaftlichen Diskurses, der für alle Orden und für alle Apertrhythmen verbindlich ist, außerdem durch die Angst vor den in langen Rhythmen wiederkehrenden Vernichtungsfeldzügen gegen die Wissenschaft (den sogenannten "sacks") und von quasireligiösen Ritualen, die sich um den Erhalt und die Pflege der gigantischen Uhren gruppieren, die jeweils das Zentrum des betreffenden Klosters darstellen.

Wer so ein Setup jetzt für ein Oktoberfest der Klugscheißerei hält, der hat nicht ganz unrecht. Die Entwicklung einer ganzen Welt, inlusive ihrer Gesellschaft, ihrer Geschichte, und, in Maßen, ihrer Sprachen - das ist schon immer gepflegter Nerdismus gewesen. Auf die Art, in der es Stephenson es betreibt, ist es Nerdismus hoch Lichtgeschwindigkeit. Aber, wie Anathem mit Nachdruck beweist: Er kann es eben auch. Die Liste der Tricks, mit denen er seine Welt plausibel und für die Phantasie des Lesers bewohnbar macht, ist ellenlang und würde den Rahmen dieses Artikels sprengen; Stephenson erweist sich in "Anathem" als Erzählernerd von hohen Graden.

Der Witz an der Sache ist, dass sein Nerdismus hier vollkommen am Platz ist: Wenn sich Stephensons Wissenschaftsmönche im wissenschaftlichen Disput gegenseitig Argumentationsfehler nachzuweisen versuchen, wenn die internen Regulationsmechanismen der Klöster dargestellt werden, wenn während des Aperts die Interaktion mit der Außenwelt tragikomische Züge gewinnt, dann erlebt man hier eine Detailtreue in Aktion, die glücklicherweise von dem Overkill früherer Jahre Abstand genommen hat und auf den Zweck der Verdeutlichung konzentriert bleibt.

Noch viel schöner ist, wie Stephenson leise und langsam Spannung in die Welt der Abgeschiedenen einsickern lässt. Denn es begibt sich, dass die Harmonie gestört wird. Es sei hier nicht verraten, welcher Einfluss dazu führt, aber die weltliche Autorität (die "Panjandrums"), die durchaus existiert, bekommt es mit der Angst. Sie will das zunächst geheimhalten, was ihr angesichts des kriminalistischen Spürsinns einer Gruppe von Nachwuchs-Avout um den Neunzehnjährigen Erasmas nicht gelingt, und als die Quelle der Beunruhigung unter anderem durch die Nachforschungen dieser Gruppe offenkundig gemacht wird, rufen die Panjandrums Erasmas, seine Freunde und andere Avout, auch aus anderen Klöstern, in ihren direkten Dienst.

Neal Stephenson

Was die Länge des Romans angeht, kann man durchaus argumentieren, dass dieses leise, langsame und verwickelte Vorgehen eben nur über die Langstrecke möglich ist, und es verdient Beachtung, wie Stephenson den Spannungsbogen über die Langstrecke hält. Eine Exposition, die 300 Seiten verbraucht und trotzdem so viel Spaß macht, dass man von ihr gar nicht in die "eigentliche" Geschichte hinausgeschickt werden will - das muss man erstmal schaffen. So kann man sagen, dass Stephenson viele Stilmerkmale, die mich seit Cryptonomicon so genervt haben, in "Anathem" zu seinem Vorteil eingesetzt hat. Ob dieses Gelingen darauf beruht, dass er sich von Barockthemen wegbewegt und der klassischen SF wieder genähert hat, oder auf einer mit dem Alter zunehmenden Weisheit als Erzähler, oder auf einer anderen Entwicklung, das will ich hier gar nicht entscheiden. Wie ein Blogger neulich gesagt hat, wirkt Stephenson immer noch wie ein Mann, der es aus der zaristischen Verbannung ins 21. Jahrhundert geschafft hat.

Sollten die Nachwehen der Verbannung dafür verantwortlich sein, dass weiterhin Bücher wie "Anathem" entstehen, können sie ruhig noch eine Weile anhalten.